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XXXIII

Nach dem Betragen der Reisenden zu urteilen, mußte die Stimmung auf dem Lande inzwischen einen schroffen Umschwung erfahren haben. Auch dieses Mal war der Waggon überfüllt, ebenso wie damals, als Indrek das letztemal die Bahn benutzt hatte, aber nun herrschte eine stille, gedrückte Stimmung. Offensichtlich mißtraute jedermann seinem Nachbar, so daß er kaum wagte, in seiner Gegenwart zu hüsteln, geschweige denn zu reden. Und wenn sich auch hier und da jemand fand, der sich über die aufregenden Ereignisse der letzten Zeit ausließ, so geschah das unter allen Umständen in einem Tone und Sinne, der diejenigen scharf verurteilte, die dem Volke dieses ganze Unglück eingebrockt hatten.

»Na ja, was fehlt denen, die aufs Land herauskamen, um zu brandschatzen und zu plündern«, meinte ein alter Mann, »haben sie Haus oder Land? Heute sind sie hier, morgen da, geh und fang sie. Aber wo sollen wir hin? Wo laß ich meine Frau und Kinder, was wird aus meinem Hof, meinem Vieh?«

Und es fand sich keiner, der für diejenigen auch nur mit einem Wort eine Lanze gebrochen hätte, für die sich noch vor wenigen Tagen so mancher mit voller Überzeugung eingesetzt hätte.

Von der Bahnstation, auf welcher er den Zug verließ, wurde Indrek einige Werst weit von einem alten Ehepaare auf seinem Schlitten mitgenommen, auf dessen Rand er sich zusammenkauerte. Plötzlich tauchte vor ihnen ein Feuerschein auf, der sich schnell ausbreitete. Der Alte hielt sein Pferd zurück, um abzuwarten, sich ein wenig umzusehen und zu ratschlagen. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte einen anderen Weg eingeschlagen, doch wäre das ein gar zu großer Umweg gewesen. Nein, die beiden Alten beschlossen endlich, drauflos weiter zu fahren, denn möge auch an ihrem Wege geschehen, was da wolle, sie gehe das doch nichts an, denn sie wären ja doch niemandem zu nahe getreten. Aber Indrek hielt es doch für geraten, zurückzubleiben, und er erklärte, er würde umkehren. In Wirklichkeit bog er aber sehr bald vom Wege ab und watete durch den noch nicht allzu tiefen Schnee, indem er sich wie ein argwöhnischer Wolf immer wieder nach dem Feuer umblickte und bestrebt war, es in einem möglichst weiten Bogen zu umgehen, um dann ungeschoren den Weg wieder zu erreichen. Als er so durch den Schnee stapfte, tauchte vor seinem inneren Auge plötzlich die Erinnerung an eine ähnliche Situation auf. Damals, hinter der Stadt, im Wäldchen, an dessen Saum eine alte Kiefer wuchs, deren untersten Ast er, den Leib herabbaumelnd, mit beiden Händen gefaßt hielt. Und später war er dann ebenso wie jetzt querfeldein gegangen, den Blick auf den Feuerschein der Stadt gerichtet. Und dann wollte ihm plötzlich scheinen, als sei er unzählige Male in seinem Leben so im Dunkeln dahingewandert, irgendeinen fernen Feuerschein beobachtend, nur habe er alle anderen Male vergessen bis auf diese beiden. Als sei genau genommen sein ganzes Leben nichts anderes gewesen als solch ein Wandern durch die Dunkelheit, vor den Augen ein trügerischer oder unheimlicher Schein, um den sich winzige schwarze Gestalten bewegen.

Die Dorfhunde bellten, als witterten sie den hungrigen Isegrim. Aber über die verschneiten Triften wanderte doch bloß der Wargamäe-Indrek, in der Tasche irgendwelche schmerzstillenden Pulver, die er seiner kranken Mutter bringen wollte. Und er verfluchte Schnee und Kälte, die es ihm erschwerten, unbeobachtet vorwärtszukommen und nahenden Gefahren auszuweichen: Schlitten rasselten nicht wie Wagen, und auch das Klappern von Hufen war auf den verschneiten Wegen nur auf eine geringe Entfernung zu hören. Und schlug man sich vom Wege in die Büsche, so hinterließ man überall verräterische Spuren, und selbst in tiefer Nacht war eine dunkle Gestalt gegen den hellen Schnee schon auf eine bedeutende Entfernung zu unterscheiden. Ja, solch eine Not bereiteten Kälte und Schnee, die Gott doch gesandt hatte, damit die Menschen für ihr Vieh von den Mooren und Sümpfen hinter den Flüssen her Heu holen und sich für das ganze Jahr mit Holz und Reisig versorgen, zur Mühle und zur Kirche fahren könnten, auf den Jahrmarkt und in den Krug, ja sogar zur Stadt, um die Herrschaften mit Eiern, Butter und Fleisch zu versorgen. Ja, auch zur Stadt müssen sie, denn Gott sorgt auch für die Herrschaften, daß es ihnen an nichts fehlen möge.

An einem abgelegenen Waldsaume und einem an diesem entlang laufenden Moorgraben angelangt, wollte es Indrek scheinen, als habe Gott mit Schnee und Kälte doch auch für ihn gesorgt, denn hier war es nun bedeutend leichter vorwärtszukommen als bei Tauwetter, namentlich auch weil man seinen Weg viel deutlicher vor sich sah. Wenn nur die Spuren, die veräterischen Spuren nicht gewesen wären! Die können dich noch nach Tagen verraten. Indrek mußte an die Geschichte eines alten Jägers denken, der ihm mal versichert hatte, der Fuchs sei so schlau, daß er seine Spuren mit seinem buschigen Schweif zu verwischen pflege. Ob das stimmte oder nicht, das war Indrek unbekannt, aber eins wußte er, nämlich, daß, wenn er, Indrek, einen Schweif hätte, er sicherlich so schlau wäre, ihn dazu zu benutzen, um seine Spuren zu verwischen. Aber leider besaß er keinen solchen Schweif, und dem Fuchs wiederum fehlte vielleicht doch der hierfür erforderliche Verstand, so daß also beide ihre Spuren auf dem Schnee hinterlassen mußten, während sie durch den Wald oder längs einem Graben über das offene Moor spazierten. Unglücklicher Mensch, unglückliches Tier!

Und doch kam Indrek glücklich nach Wargamäe, überdies noch in einem Augenblick, in dem ihn niemand mehr erwartet hatte, weil alle annahmen, daß es ihm ebenso ergangen sei wie heutzutage so vielen: nämlich, daß man ihn verhaftet habe. So war die Überraschung denn groß, als Indrek eintrat. Aber auch seiner wartete eine traurige Überraschung: den Vater und Ants hatte das Militär schon gestern abend abgeführt, wohin, wußte niemand, ebensowenig wie etwas darüber bekannt war, ob und wann sie zurückkehren würden, obgleich sowohl der Vater als auch Ants fest davon überzeugt gewesen waren, daß sie unter allen Umständen schon bald wieder frei sein würden. Von den beiden Offizieren hätte der eine auch Estnisch verstanden, und der habe auch nach Indrek gefragt, denn es war ihm bekannt gewesen, daß dieser kürzlich in Wargamäe gewesen wäre und noch eben hier weilen solle. Man hatte seine Auslieferung verlangt, mit der Drohung, widrigenfalls den Hof anzustecken. Nicht einmal die eidliche Versicherung des Vaters, daß Indrek zwar zu Hause gewesen, dann aber wieder zur Stadt gefahren sei, um der Mutter Arznei zu bringen, und daß er bis heute nicht von dort zurückgekehrt sei, habe etwas fruchten wollen. Das Wohnhaus und alle Nebengebäude und die nächste Umgebung seien bis in die entlegensten Ecken und Winkel durchsucht worden. Und dazwischen habe der Offizier Andres immer wieder angedonnert, er solle Indrek im guten herausgeben, sonst sei ihm eine Kugel sicher, und sein Haus würde in Asche gelegt werden.

»Ich habe mein ganzes Leben für Wahrheit und Recht gekämpft, wie sollte ich denn da auf meine alten Tage noch anfangen den Herren etwas vorzulügen«, sagte Andres. »Wo nichts ist, da hat auch der Tod nichts zu holen.«

»Wenn der Tod nicht erhält, was ihm zukommt, dann nimmt er, was er kriegt«, habe der Offizier hierauf in gebrochenem Estnisch erwidert.

»Selbstverständlich, wenn es so Gottes Wille ist«, habe Andres geantwortet.

Schließlich habe man dann aber doch von weiterem Suchen abgesehen, aber außer dem Vater und Ants sämtliche Briefe und Papiere, auf denen auch nur das geringste gekritzelt gewesen sei, darunter auch Indreks Briefe an den Vater, an Ants und Liine mit sich genommen. Desgleichen auch alle Bücher und Broschüren. Die Soldaten hätten in ihrem Eifer sogar Die Harfe Zions, Aus dem Hause des Fürsten David, Die Welt und was in ihr vorgeht, sowie auch das Buch ohne Anfang und Ende, ein Lehrbuch der deutschen Sprache, den Vollständigen Traumdeuter, ja sogar die Bibel und noch einiges andere in Säcke gestopft. Nur dank Andres' Vorstellungen sei ein Teil dieser Bücher dann wieder zurückgegeben worden, aber Die Harfe Zions und das Buch ohne Anfang und Ende habe man schließlich doch mitgenommen, weil das erstere einen roten und das letztere überhaupt keinen Einband gehabt hätte und dazu noch weder einen Anfang noch ein Ende, ja nicht mal einen Titel. Und was sei das für ein Buch, dem alle diese Attribute fehlten? Und so wanderte denn dieser sensationelle Roman, der so lang war, daß sein Anfang in Vergessenheit geriet, bevor man am Ende anlangte, zusammen mit der revolutionären Literatur in den Sack, in diesem auf den Schlitten und auf dem Schlitten aufs Gut.

Indrek konnte nicht allzulange ungestört mit den Schwestern plaudern, denn das Stöhnen der Mutter nebenan gab ihm keine Ruhe. Und vor allem wollte er wissen, ob die mitgebrachte Arznei imstande sein würde, die Schmerzen der Mutter zu lindern. Darum ging er nun zur Mutter hinein. Als Liine diese fragte, ob sie wisse, wer vor ihr stehe, erwiderte die Mutter, ohne die Augen zu öffnen oder den Kopf zu wenden, als sähe sie durch die Lider:

»Indrek.«

»Wie erkennst du mich denn, ohne mich anzublicken?« fragte Indrek.

»Ich erkenne dich«, erwiderte die Mutter leise und fügte nach einer Weile hinzu: »mit der Seite.«

Diese Antwort ließ Indrek schaudern.

»Sie phantasiert«, flüsterte Liine Indrek leise zu, aber die Mutter sagte sofort völlig klar:

»Ich phantasiere nicht.«

Jetzt war an Liine die Reihe zu erschrecken, daß die Mutter plötzlich so gut hören konnte. Sie hätte dem Bruder sagen mögen, daß die Mutter wahrscheinlich im Sterben liege, aber sie wagte es nicht, denn die Mutter hätte auch das hören können. So standen sie schweigend da, bis Indrek sagte:

»Mutter, ich habe dir nun die Arznei gebracht, willst du sie nehmen?«

»Gib her«, sagte die Mutter kurz.

Indrek gab ihr versuchsweise ein Pulver. Das ließ die Kranke für einige Stunden still daliegen, als schliefe sie friedlich, aber dann begann das Stöhnen aufs neue, anfangs wie ein dumpfes Ächzen aus tiefem Schlafe, dann allgemach wieder wie zuvor.

Als Indrek das erstemal daheim gewesen war, hatte es ihm geschienen, als sei der körperliche Zustand der Mutter derartig jammervoll, daß er jammervoller überhaupt nicht mehr gedacht werden könne. Aber nun mußte er zu seinem Erstaunen feststellen, daß er sich geirrt hatte. Damals hatte es geschienen, daß von der Mutter nichts mehr übrig war als Haut und Knochen, nun schienen überhaupt nur noch die Knochen übrig, so daß man sich nur wundern konnte, wie diese überhaupt noch zusammenhingen. Der Kopf insbesondere glich vollkommen einem Totenschädel.

Und doch wühlten in diesem Skelett die fürchterlichsten Schmerzen, das war auf den ersten Blick zu erkennen. So gab denn Indrek der Kranken alle paar Stunden ein neues Pulver und setzte das den ganzen Tag über fort, so daß das Stöhnen der Mutter nahezu völlig verstummte.

Der Abend brach herein, der Weihnachtsabend, aber niemand kam das so recht zum Bewußtsein. Heute hätten eigentlich Würste gemacht werden sollen und Weißbrot, aber nichts Ähnliches geschah. Niemand hatte für irgend etwas Interesse, bevor nicht bekannt wäre, was aus dem Vater und Ants geworden. Nur für das Allernotwendigste wurde gesorgt: für das gewöhnliche Alltagsessen für die Menschen, und Futter und Trank für das Vieh. Nicht einmal Stroh wurde ins Zimmer geholt, an die warme Wand, obgleich Kadri und Saß, namentlich der letztere, nicht recht begriffen, was das Stroh mit dem Vater und Ants zu tun hätte. Würste und Weißbrot, ja, das war eine andere Sache, denn die müssen zubereitet werden, aber das Stroh, das war doch fertig, das brauchte man doch nur hereinzuholen. Und als Liine und Tiiu darauf doch nicht eingehen wollten, setzten die beiden Jüngsten ihren Angriff zugunsten des Weihnachtsabends von einer anderen Seite an.

»Sollen denn die Tiere auch kein Brot bekommen?« fragte Saß. »Die wissen doch gar nicht, daß der Vater und Ants nicht zu Hause sind.«

»Glaubst du, die alte Stute wüßte das nicht?« fragte Tiiu.

»Nun ja, aber die Kühe und Schafe?« fragte Kadri. »Die wissen es doch bestimmt nicht, und warum sollten sie dann leer ausgehen? Wenn auch kein Stroh hereingeholt wird, dann wollen wir doch wenigstens den Kühen und Schafen ihr Teil bringen, damit die doch wenigstens merken, daß es Weihnachtsabend ist.«

Und Kadri und Saß bohrten so lange, bis sich auch Indrek zu ihnen schlug, und Liine und Tiiu nun nichts mehr übrigblieb, als sich der Majorität zu fügen. Aber sie erklärten sogleich, daß, wenn man schon den Kühen und Schafen Brot bringen wolle, damit auch sie an der Geburt des Heilandes in Betlehem ihre Freude hätten, man die Pferde auch nicht vergessen dürfe.

So bekamen denn die Pferde, Kühe und Schafe ihren richtigen Weihnachtsabend, nur die Schweine gingen leer aus, als stünden sie auf der gleichen Stufe mit den Menschen. Und auf dem Wargamäe-Vorderhofe konnte sich niemand einer so tollen Sache erinnern, daß das Vieh seine Weihnachtsfreude hatte, während die Menschen um den Tisch saßen und von ganz weltlichen Dingen redeten, als wären sie die einzigen Heiden hier unter diesem Dache.

Aber damals verwunderte sich niemand darüber, denn die Welt war böse geworden, und die Herzen der Menschen suchten nicht den Weg der Seligkeit. Sogar Indrek, der in der alten guten Zeit am Weihnachtsabend mit gellenden Glocken zur Kirche gefahren war, um sich dort an der Höhe der Christtanne und der Menge der Lichte zu erfreuen, gingen sehr irdische Gedanken durch den Kopf: ob er nämlich zur Nacht daheim bleiben oder lieber in eine entfernte Scheune ins Heu kriechen solle, wo niemand ihn suchen würde?

Im übrigen wurden keine Vorsichtsmaßnahmen außer acht gelassen, schon gleich am Morgen hatte Liine sich in diesem Sinne geäußert: Indrek solle den ganzen Tag über sich draußen nicht zeigen, und niemand solle über seine Heimkehr auch nur ein Wort fallen lassen, sei es, wem gegenüber es sei. Man sollte so tun, als wäre er überhaupt nicht da. Nur um dem Vieh seine Weihnachtsfreude zu bereiten, verließ er mit den Geschwistern die Stube, denn von seiten der Tiere war kein Verrat zu befürchten.

»Sie werden niemand darüber etwas ausplaudern, daß du hier bist, sie sind gut«, meinte Liine, den Kopf des Widders streichelnd, der zu einem kräftigen Stoß ausholen zu wollen schien, als er bemerkte, daß das Brot alle war.

»Ja, die Tiere sind gut«, pflichtete Indrek der Schwester bei, während seine Gedanken ganz wo anders weilten. Er dachte darüber nach, was wohl werden sollte, wenn der Vater und Ants weder heute noch morgen, noch auch übermorgen – wenn sie überhaupt nicht mehr zurückkehren sollten? Was würden die Schwestern allein hier beginnen? Er, Indrek, könnte sich ja aufmachen, den Vater und Bruder zu suchen, aber er ist der festen Überzeugung, daß er ihnen nicht helfen könne, nur sich selbst in die Höhle des Löwen begeben würde. Das Opfer an sich schreckt ihn nicht, wohl aber das nutzlose Opfer. Er ahnt plötzlich dunkel, daß sein Leben weniger Wert habe als das Leben des Vaters und des Bruders. Als ob die Welt diese beiden mehr nötig habe als ihn. Braucht ihn überhaupt jemand? Ist er nicht wie ein Tropfen am Eimerrand, der jeden Augenblick herabfallen kann, ohne daß jemand das auch nur richtig wahrnehmen würde? Die des Todes harrende Mutter erhofft vielleicht etwas von ihm, ohne sich recht darüber klar zu sein, was eigentlich. Und auch für die hat er weiter nichts, als nur noch einige wenige Pulver, die von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde zusammenschmelzen. Und wenn sie mal alle sind, was dann? Wird er sich in die Stadt begeben, um neue zu holen? Wie lange wird ihm das glücken? Muß er nicht in die Falle gehen wie schon so viele vor ihm?

Erst am Abend des zweiten Feiertages, als es schon völlig dunkel geworden war, kam der Vater. Er kam mit Pferd und Schlitten so leise in den Hof, daß niemand es bemerkte. Man hörte plötzlich jemanden die Pforte zum Vorraum der Rauchstube öffnen, und alles lief hinaus, nachsehen, wer da gekommen sei, bis auf Indrek, der in der Stube blieb. Aber bald kamen alle wieder zurück, denn der Vater hatte sie der Kälte wegen fortgejagt und angeordnet, daß nur Liine und Indrek ihm behilflich sein sollten. Die Kinder blickten sich verständnislos an, wozu der Vater doch wohl Indreks und Liines Hilfe brauchte. Und plötzlich sagte Kadri:

»Warum ist Ants nicht da?«

Und nun fiel es plötzlich allen auf: wo war Ants? Aber Ants lag, so lang wie er war, auf dem Schlitten unter der Decke. Das war noch dieselbe Decke, mit der Andres und Mari einst vor langer Zeit am zweiten Weihnachtsfeiertage zusammen zur Kirche gefahren waren, als Juß sie am Wege unter den Fichten hervor belauerte und ihnen dann, mitten auf dem Wege stehend, nachblickte, bis das hohe Krummholz über dem Kopf des Pferdes und die bunte Decke im Walde verschwunden waren. Nun lag Juß schon lange unter dem Rasen, Mari stand am Rande des Grabes, und die Decke hatte schon so manches Loch, aber Ants' steife Glieder bedeckte sie noch ganz hübsch, wenn auch zur Kirchfahrt nun eine neue Decke benutzt wurde, deren bunte Farben aber gegen die der alten nicht aufkamen, so daß alle Kinder auf Wargamäe sich immer wieder darüber verwundern müssen, wie hübsche Decken man doch in alter Zeit zu weben verstand, und warum man wohl heute solche nicht mehr herstelle.

»Ermordet«, murmelte Indrek, als er im zitternden Schein der Laterne den regungslosen Körper unter der Decke daliegen sah.

»Ermordet«, wiederholte der Vater zähneknirschend, wie Indrek ihn noch nie gehört hatte. Des Vaters Zorn und Verzweiflung schienen so groß, daß für Trauer in seinem Herzen auch nicht der geringste Raum mehr geblieben war. Diese Stimmung des Vaters schien sich auch den Kindern mitzuteilen, die ebenfalls um den Bruder nicht eigentlich Trauer zu empfinden schienen, sondern etwas, was sie nicht recht mit Namen zu nennen gewußt hätten.


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