Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil


I

Über den schmucklosen Holzhäusern der Vorstadt lastete ein grauer warmer Julimorgen. In der Nacht hatte es geregnet, und nun schien das windstille Wetter sich gleichsam zu bedenken, ob es die Schleusen der Wolken aufs neue öffnen oder der Sonne freie Bahn geben solle. Dann und wann fuhr um eine Ecke ein schwüler Luftzug, um sich dann aber sogleich wieder zu legen, von den feuchten Dünsten der Vorstadt gleichsam erstickt. Höher oben aber mußte wohl ein stärkerer Wind ziehen, denn die Rauchsäulen der Fabrikschornsteine schoben sich gleich den gierig greifenden Händen eines Ungeheuers oder drohend entrollten schwarzen Fahnen über die dunstige Stadt, die sie mit all ihren Freuden und Sorgen verschlingen zu wollen schienen.

In einer schmutzigen Pfütze an der Kreuzung zweier ungepflasterter Straßen spielten barfüßige Kinder, bis zur halben Wade im Wasser planschend und so fröhlich kreischend und schwatzend, als sei ihr ganzes Glück in diesem Straßenkot beschlossen. Indrek mußte unwillkürlich haltmachen, um doch ein wenig an dem Glück und Jubel der Kinderschar teilzuhaben. Aber kaum hatte er seinen Schritt gehemmt, als eine Fabriksirene ihre Stimme erhob – heulend, gleichsam klagend.

»Hört ihr!« rief ein sieben bis achtjähriger Schlingel aus der spielenden Kinderschar wichtig und großsprecherisch. »Das ist der ›Dwigatel‹. Der Vater sagte gestern abend, heute würden sie dort den Dampf ablassen. Unbedingt! Und nun heult er. Gleich werden die anderen auch anfangen, die werden schon nicht nachstehen.«

»Natürlich, die werden auch gleich anfangen«, bestätigten die übrigen Knaben im Chor, während die Mädchen vor Vergnügen in die Hände klatschten, als verkünde die heulende Fabriksirene einen großen Feiertag.

Indrek setzte seinen Weg fort. Hier und da standen Leute, lauschend und um sich blickend, als suchten sie jemanden, mit dem sie ein paar Worte wechseln könnten, oder als fürchteten sie irgend etwas. Aber als sich der ersten Sirene bald eine zweite anschloß, wie die Kinder dieses sachverständig vorausgesagt, dieser zweiten eine dritte, vierte und noch weitere, da begannen die Leute, namentlich Frauen, in immer größerer Anzahl aus den Hofpforten auf die Straße zu strömen, als wäre das Sirenengeheul hier bester zu hören oder außer dem Geheul auch noch etwas zu sehen. Aber in den öden Straßen konnte niemand etwas anderes erblicken als bloß seinen Nachbar, der lauschte und gaffte, gleich ihm selbst, oder einen Krämer, der vor seinem Laden stehend nach Käufern ausschaute.

An einer Hofpforte machte Indrek halt. An dem verblichenen rissigen Pfosten hing ein Zettel: »Eine anständige Manns- oder Weibsperson kann billig ein hübsches Zimmer haben.« Indrek mußte diese Worte mehrere Male lesen, bevor er ihren Sinn erfaßte, denn seine Aufmerksamkeit wurde durch das Gespräch zweier Frauen abgelenkt, die ihre Köpfe aus den Fenstern des zweiten Stockes reckten.

»Gott weiß, was daraus noch werden soll, es wird wieder mal gestreikt, sie lassen den Dampf ab«, sagte die jüngere.

»Unglück bedeutet das, Not und Sorge, was denn sonst«, meinte die ältere. »Wenn nicht gearbeitet wird, wer wird dann Lohn zahlen?«

Indrek trat in die Pforte, denn das ausgebotene Zimmer befand sich im Hofhause. An der Wohnungstüre erblickte er einen plump gemalten Stiefel. Ein Schuster also, der vom Morgen bis zum Abend klopft und hämmert. Aber einerlei, Indrek pochte dessenungeachtet an die Türe. Es öffnete ein hochgewachsener, vierschrötiger Mann mit ein wenig lockigen, hellblonden Haaren, etwa fünfunddreißig, vierzig Jahre alt. An ihm war sonst nichts besonders Auffälliges, als daß er für einen Schuster irgendwie zu groß erschien, und seine Augen im Verhältnis zum mächtigen Leibe und großen Kopfe zu klein, zu tief unter den Brauen versteckt, von wo sie hell, gleichsam wässerig hervorblitzten, als drohten sie von Tränen überflutet zu werden, die von den Lidern durch unaufhörliches schelmisch-schlaues Zwinkern in ihre Schranken verwiesen wurden. Diese Augen wollten Indrek nicht gefallen. Aber als nun eine Frau erschien, um das Zimmer zu zeigen, mit auffallend klaren, reinen Zügen, als gehöre sie überhaupt gar nicht in dieses Haus, im Wesen freundlich und gesprächig, so daß Indrek alsbald erfuhr, zur Familie gehöre auch noch ein schulpflichtiges Töchterchen, das gegenwärtig bei Verwandten auf dem Lande weile, da vergaß er die Augen des Mannes und beschloß innerlich, hier Fuß zu fassen. Denn es wollte ihm scheinen, als müsse die Tochter unbedingt nach der Mutter geraten sein, ebenso blaue Augen und braune Haare wie diese haben und ebenso freundlich und gesprächig sein; und ihre Zähne würden gesund sein, gesund und weiß, wenn sie lachte.

»Sehen Sie«, erklärte die Frau, »hinter diesem Schrank ist eine Tür, die auf den Korridor führt, so daß Sie gar nicht nötig hätten, unser Zimmer zu passieren. Wenn Sie wünschen, heben wir den Schrank vor die Verbindungstüre, so daß Sie dann ein Zimmer mit gesondertem Eingang ganz für sich hätten und gehen und kommen könnten, wie es Ihnen beliebt. Und besuchen mag Sie, wer da will, seien es nun Manns- oder Frauensleute.«

»Ich habe hier gar keine Bekannten, ein paar Schulkameraden ausgenommen«, bemerkte Indrek.

»Nun, in der Jugend schließt man schnell Bekanntschaften«, versetzte die Frau. »Und das brauchen Sie nicht zu fürchten, daß wir Sie irgendwie genieren werden. Mein Mann, der hämmert ja manchmal ein wenig, aber viel ist das schließlich nicht, denn er ist ja gar kein richtiger Schuster. Er arbeitete früher in der Fabrik, aber im Januar, während des Streiks, haben die Bösewichte ihm die Hand verkrüppelt, so daß sie nun weder Hammer noch Beil mehr führen kann. Gut noch, daß es die Linke war, so kann er doch immer noch was leisten und hier und da mal einige Rubel verdienen, was würden wir sonst anfangen. Und von mir und meiner Arbeit ist überhaupt nichts zu hören, allenfalls mal das Schnurren der Maschine. Aber wenn wir den Schrank fest vor die Tür rücken und die Tür verschließen, dann wird auch davon nichts zu hören sein. Und wenn Sie wünschen, dann könnte man auch von der anderen Seite einen Schrank vor die Türe stellen, und im übrigen ist die Wand aus Balken. Kristi hat zuweilen Besuch von Schulkameradinnen, aber das sind nette, stille Mädchen, die allenfalls mal zusammen etwas lachen.«

»Also die Tochter heißt Kristi«, dachte Indrek.

»Darf man fragen, wo Sie angestellt sind?«

»Nirgends«, versetzte Indrek.

Nun schienen der Frau Zweifel aufzusteigen, ob es sich empfehle, das Zimmer einem Menschen zu vermieten, der weder eine Anstellung noch einen Verdienst hätte. Sie setzte daher ihr Verhör fort, indem sie fragte:

»Dann suchen Sie wohl eine Stelle?«

»Nein«, versetzte Indrek wortkarg, denn das fortgesetzte Heulen der Fabriksirenen wirkte auf ihn irgendwie niederdrückend.

»Dann müssen Sie wohl reich sein?« meinte die Frau.

»Keineswegs«, lächelte Indrek, die Frau anblickend. Und nun begann auch diese herzlich zu lachen, indem sie sagte:

»Natürlich nicht, denn was sollte wohl ein Reicher hier in unserer elenden Vorstadt suchen, für ihn gäbe es wohl bessere Wohnungen.«

Aber dann zog plötzlich ein Schatten über ihr Gesicht, und einen Schritt näher an Indrek herantretend, fragte sie geheimnisvoll:

»Sie sind doch hoffentlich nicht irgend solch ein Agitator, der die Leute zum Streik aufputscht und sich vor den Behörden verborgen hält?«

»Auch das nicht«, versetzte Indrek, nach wie vor lächelnd, indem er die Frau fortgesetzt offen anblickte.

»Na ja, natürlich nicht«, meinte die Frau gleichsam erleichtert. »Und überdies – wenn Sie so einer wären, dann würden Sie es mir natürlich nicht auf die Nase binden. Aber ich bitte Sie inständig: wenn Sie am Ende doch mit Streik und Aufruhr was zu tun haben, mieten Sie dann nicht bei uns. Ich gerate mit meinem Mann dieser Dinge wegen schon ohnehin genügend scharf aneinander. Der hat nun seinen Streiklohn, mögen nun doch auch die anderen drankommen. Jedesmal wenn die Fabriksirenen zu heulen beginnen, schmerzt mir direkt das Herz, denn damals, als er mit seiner verletzten Hand heimkam, heulten sie ebenso.«

»Auch mir gellt dieses Heulen in die Ohren«, bemerkte Indrek.

»Dann sind Sie freilich kein Agitator«, meinte die Frau erfreut, »die kennen keine schönere Musik. Aber Herrgott noch mal, was sind Sie denn eigentlich? Eine Stelle haben Sie nicht, eine Einnahme auch nicht, reich sind Sie nicht und auch kein Agitator, eine Stelle suchen Sie nicht, wovon leben Sie denn eigentlich?«

»Ich lebe wie ein Vogel auf dem Aste«, scherzte Indrek wehmütig lächelnd und fügte dann ernst hinzu: »Aber wenn ich bei Ihnen miete, dann zahle ich pünktlich, da können Sie ruhig sein.«

»Dann werden Sie also von Verwandten unterstützt«, vermutete die Frau, gleichsam zu sich selbst redend.

»Nein, das nicht«, sagte Indrek.

»Aber wo bekommen Sie denn das Geld her, wenn Sie nichts verdienen und auch nicht reich sind? Ach so, nun verstehe ich!« rief die Frau plötzlich, indem sie Indrek mit mißtrauischem Blick von Kopf bis zu Fuß maß. »Soso, nun ja, natürlich. Aber da dürfte unser Zimmer für Sie nicht das Rechte sein. Da sehen Sie sich Wohl lieber woanders um.«

Nun war an Indrek die Reihe, neugierig zu werden, und er fragte:

»Was denken Sie denn nun eigentlich von mir?«

»Nun, das ist doch sehr einfach.«

»Und zwar?«

»Das darf man doch nicht sagen.«

»Sie dürfen schon, sprechen Sie nur.«

»Ein Geheimpolizist«, flüsterte die Frau, dicht an Indrek herantretend.

»Ein Spitzel?« fragte Indrek dagegen.

Die Frau nickte bestätigend. Indrek brach in ein herzliches Gelächter aus.

»Sehe ich danach aus?« fragte er belustigt.

»Die gibt es von allen Sorten«, versetzte die Frau. »Mein Mann sagt immer, trau du heute keinem Menschen, jeder kann ein Spitzel sein.«

»Mag ich nun was nur immer sein, aber ein Spitzel bin ich sicherlich nicht«, versetzte Indrek ernst. »Mit der Gendarmerie und der Polizei habe ich nie etwas zu tun gehabt.«

»Aber was sind Sie denn eigentlich, wenn wir nun doch schon mal davon reden?« setzte die Frau ihr von der Neugier diktiertes peinliches Verhör unbeirrt fort.

»Das ist schwer zu sagen«, meinte Indrek. »Kurz gesagt: ich lerne und lehre andere – gebe Stunden.«

»Und was lernen Sie, wenn man fragen darf?«

»Ich will das Eintrittsexamen in die Universität machen«, erklärte Indrek und hätte beinahe hinzugefügt, daß er mit diesem Examen schon zweimal sein Glück versucht habe, dabei indessen durchgefallen sei, einmal im Russischen, das andere Mal in der Mathematik. Aber zum Glück ließ er das ungesagt, denn als die Frau das Wort Universität hörte, rief sie erregt:

»Dann sind Sie also doch ein Agitator. Mein Mann sagt immer, ein Student ist nichts anderes als ein Agitator, der zum Streik aufstachelt.«

»Aber ich bin ja noch gar nicht Student, will es bloß erst werden, und überdies noch Korpsstudent, und die sind keine Verschwörer, die singen bloß«, erklärte Indrek scherzend.

»Sie trinken doch nicht gar?« fragte die Frau plötzlich vorwurfsvoll.

»Bisher wohl nicht«, lachte Indrek.

»Nun ja, natürlich, so daß Sie also ein ganz anständiger junger Mensch sind. Solch einen suchen wir gerade, denn wir haben doch ein Schulkind im Hause. Wenn Sie lernen und andere lehren, dann haben Sie ja auch gar keine Zeit, sich mit Mädchen herumzutreiben«, meinte die Frau beruhigt.

»Da seien Sie ganz unbesorgt, dafür habe ich tatsächlich gar keine Zeit«, sagte Indrek, die Frau offen anblickend. Und dieser Blick schien vertrauenerweckend, denn über die Züge der Frau huschte ein glückliches Lächeln, als habe sie nun endlich den richtigen Mieter gefunden, wie sie ihn schon lange gesucht. Und so einigte man sich denn ohne weitere Schwierigkeiten, und Indrek ging, um am Nachmittage endgültig in sein neues Zimmer überzusiedeln.


 << zurück weiter >>