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II

Die ersten Tage in der neuen Wohnung empfand Indrek eine sonderbare innere Leere und Unruhe, die er auf den Mißerfolg beim Examen und auf sonst noch mancherlei zurückführte. »Ach, ich bin ein Esel gewesen, ein großer Esel«, wiederholte er immer wieder für sich, wenn er an die letzten Ereignisse zurückdachte. Daß alles so hatte kommen können! ... Aber ihre Stimme klang so wunderbar, und ihre Tränen waren so rührend. Und anfangs war es ja auch nur Teilnahme und Mitleid, so glaubte er wenigstens. Aber dann kam das, was noch eben ein wenig rätselhaft war: der Rausch, die brennende Leidenschaft, die alles in einem neuen Licht erscheinen ließ, bis er entdeckte, daß er nur einer von den vielen sei, und dazu noch der einzige Dumme. Noch jetzt schämt er sich vor sich selber, wenn er bloß daran denkt.

Sollte es denn nicht möglich sein, alle Kräfte auf das eine Ziel zu richten, ohne nach links oder rechts zu blicken. Bis heute hatte er das nicht vermocht, schon bei Maurus nicht. Ja, wenn das alles dort nicht gewesen wäre, dann wäre manches vielleicht nicht geschehen. Aber der brennende Schmerz jener Tage fuhr fort, an seinem Mark zu zehren, sich irgendeinen Ausweg suchend, und sei es im sinnlosen Taumel der Lust. Und so sinkt der Mensch aus unsterblichen Höhen in die Menge der Sterblichen hinab.

Indrek empfand sich nun als weit sterblicher wie damals, als er Maurus verließ, denn es schien ihm, daß er nun den anderen weit ähnlicher sei, weit näher als damals. Und darum machte er sich daran, seine Schulkameraden aufzusuchen, die vor ihm das Institut des Herrn Maurus verlassen hatten, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Der erste, den er traf, entschuldigte sich mit Zeitmangel, denn tagsüber sei er im Geschäft tätig, abends aber gebe es Frauendienst.

»Ganz ernstlich, verstehst du, unter Brüdern gesagt«, erklärte er. »Der Alte hat eine einzige Tochter, die alles erbt, Haus und Geschäft. Aber da gibt es nun ewige Mißverständnisse und Reibereien. Alles streikt, durchweg alles. Man verlangt Kürzung des Arbeitstages, höflichere Behandlung, Lohnerhöhung und all den Krempel, so daß wir manchmal mit dem Alten ganz allein im Geschäft sind. Denn wer soll denn sonst arbeiten, wenn alles davonrennt; das kann das Geschäft nicht tragen, das muß doch jeder vernünftige Mensch einsehen.«

»Natürlich«, versetzte Indrek bestätigend, denn er begriff selbstverständlich, daß es sich anders nicht gut machen ließe, wenn eine einzige Tochter da sei und alles streike.

»Aber Wiidik, der hat oft viel Zeit«, sagte der Freund tröstend, »du kennst doch die Apotheke, wo er angestellt ist?«

Indrek kannte sie. Wiidik hatte tatsächlich gelegentlich viel Zeit, aber schon beim zweiten Zusammentreffen gab es ein kleines Mißverständnis, so daß dieses Zusammentreffen auch das letzte wurde. Sie waren nämlich gegen Abend in den Anlagen spazierengegangen, wo Wiidik sich ohne viel Federlesens auf einer Bank neben zwei Damen niederließ, mit denen er ungeniert ein Gespräch anknüpfte. Daß sie ihm keine Antwort gaben, brachte ihn keineswegs aus der Fassung, es genügte ihm schon, daß sie sitzenblieben. Um die Mücken zu vertreiben, begann Wiidik zu rauchen und blies den Damen den Rauch ins Gesicht, so daß sie zu husten begannen. Als Gegenmittel bot er ihnen dann Schokolade an, die auch nach längerem Schmollen angenommen wurde. So machte sich die Bekanntschaft ganz ungezwungen, und man begab sich in vollster Eintracht zu vieren in ein Café, wo Indrek zahlen mußte, da Wiidik sich als »vollkommen abgebrannt« erwies, wie er dem Freund ins Ohr tuschelte. Aber diese Erfahrung wirkte derartig auf Indrek, daß er sowohl seine alte als auch seine neue Bekanntschaft unverzüglich im Stiche ließ.

Als er dann einsam heimwärtspilgerte, mußte er sich sagen, daß er wieder mal dumm gewesen sei. Dumm, dumm, dumm, dumm sang ihm der Takt seiner auf den Steinfliesen des Bürgersteigs in der nächtlichen Stille der verlassenen Gassen von den dunklen Häusern widerhallenden Schritte. Indrek gefiel dieser klingende Takt so gut, daß er nicht direkt heimging, sondern noch lange ziellos durch die öden Gassen irrte, als habe er überhaupt kein richtiges Heim. Und dann stand er plötzlich an der Straßenkreuzung, wo die Kinder vor einigen Tagen in der Kotlache herumgeplanscht hatten, als die erste Fabriksirene ihre Stimme erhob. Und er machte auch heute an dieser Stelle halt, ebenso wie damals, als er ein wenig vom Glück und der Freude der spielenden Kinder auch für sich erhaschen wollte.

Als er dort so stand, kam plötzlich jemand über den Platz auf ihn zu, als wolle er feststellen, wer denn da eigentlich in tiefer Nacht so einsam dastünde. Indrek achtete nicht weiter auf den Mann, war vielmehr gänzlich in die Betrachtung des Platzes versunken, den dicker, weicher Staub bedeckte, der im Vergleich mit den dunklen Häusern und dem nächtlichen Himmel in der matten Dämmerung der Nacht nahezu weiß erschien. Aber dann trafen sein Ohr die Worte: »Sie, du, Paas«, und Indrek erblickte neben sich einen kurzen, mageren Mann, dessen Gesicht eine tief herabgezogene, weiche Mütze beschattete. »Kennst du mich denn nicht mehr?« hörte er den Fremden fragen.

Ach ja, nun erkannte er ihn. Beim Küster waren sie zusammen gewesen, hatten zusammen Russisch gebüffelt, der Otstavel Kustas war es, dieser unentwegte Spaßvogel. Er sei nun Schreiber im Polizeibezirk, beim Pristaw Russischer Polizeioffizier.; sein Gehalt sei zwar nicht groß, aber mit allen Nebeneinnahmen ginge es immerhin an, er könne nicht klagen, ja, es ließe sich sogar ganz gut leben, man könne sich gelegentlich dies und das erlauben. Freilich gegenwärtig sei seine Lage ein wenig schwierig, wo es überall so unruhig, und die Polizei allen ein Dorn im Auge sei. Als ob die sich selbst geschaffen habe! Ihr Alter, das heißt der Pristaw, sage immer – natürlich nur im Vertrauen –, möge es nun ein König oder ein Kaiser sein, ein Präsident oder ein Kommunist, die Geschäfte blieben bestehen, die Hausbesitzer desgleichen, und ebenso auch die Vergnügungsstätten, Schnaps und Bier, das heißt die Polizei wird immer ihr Brot finden. Und ohne Polizei, na, das würde unser Alter gerne mal sehen, wie es ohne Polizei zugehen würde. Denn die Polizei sei die Grundlage des Staates, und sie sei auch gleicherweise die Grundlage der Gesellschaft, und ohne diese gehe es doch nun mal nicht, das müßte doch auch der verbissenste Verschwörer einsehen. Gendarmen und Spitzel – ja, das sei natürlich eine andere Sache. Das heißt, bei Licht besehen, seien auch diese ... denn ohne Gendarmen gäbe es keine Spitzel, ohne Spitzel keine Polizei und ohne Polizei keinen Staat. Klar? Nicht? Das müsse man sich hinter die Ohren schreiben, denn hier seien sie doch nicht mehr beim Küster in der Lehre.

»Sollten wir sonntags nicht mal zusammen ausgehen?« fragte Otstavel plötzlich unvermittelt.

»Wohin?« fragte Indrek mißtrauisch.

»Nun, in den Wald vielleicht. Sonntag ist da eine große Versammlung. Man könnte sich das ansehen. Da gibt's sicherlich Spaß. Und zu fürchten ist da nichts. Mich kennt niemand. Die Kosaken kommen da nicht hin, mögen die guten Leute reden und schreien soviel sie wollen. Und es wäre doch sehr interessant. Komm, gehen wir. Ein Rad hast du nicht? Nun, dann komme ich auch zu Fuß. Einverstanden?«

Indrek war einverstanden. Aber Sonntagmorgen, als seine Wirtin ihm den Kaffee brachte, fragte sie Indrek:

»Wollen Sie heute auch vor die Stadt hinaus ins Grüne?«

»Ja, ich hatte wohl daran gedacht«, versetzte Indrek.

»Aber gehen Sie nicht in den Wald, da ist heute eines von diesen revolutionären Meetings. Mein Alter macht die immer mit. Ich habe ihn wohl gewarnt, er mit seiner verkrüppelten Hand möge das bleiben lassen, möge sich einfach irgendwo im Grünen ausstrecken, ruhen und am Abend hübsch heimkommen, aber nein, immer strebt er dahin, wo Polizei ist und Kosaken, als gäbe es ohne die überhaupt kein Leben.«

Indrek schwieg, aber im stillen dachte er: »Nein, ich muß unbedingt mal hin, sehen, was denn da eigentlich los ist.« Und so zogen sie denn beide, er und Otstavel ab. Aber er hätte auch allein den Weg gefunden, denn kaum waren sie vor die Stadt hinausgelangt, als auch von überall her Menschen auftauchten, die in einer bestimmten Richtung dahinstrebten, einzeln, zu zweien und in größeren Gruppen. Alle eilten einem bestimmten Ziele zu, als rufe sie eine geheime Losung.

Die Heuarbeit war gerade im Gange, überall längs den Wegen auf den Wiesen dufteten die in Sonne und Wind sachte knisternden Schwaden des sterbenden Grases, aber niemand achtete darauf, niemand machte auch nur für einen Augenblick halt, als hätten alle plötzlich Gesicht und Geruch verloren.

»Sieh mal, wie alles in einer Richtung dahinzieht«, sagte Otstavel auf die eilig ihres Weges ziehenden Leute deutend. »Wenn die Polizei versuchen wollte, sie im Walde zusammenzutreiben, um keinen Preis würde ihr das gelingen, aber nun strömt alles zusammen – Männer und Frauen, Burschen und Mädel. Dort, die Alte in dem gestreiften Rock eilt, als ginge es zu einer Betversammlung. Das ist der neue Glaube, sagt mein Alter; wenn man erst die Polizei abschaffen würde, dann würde Glück und Frieden auf der Erde einkehren. Aber was ist denn genau genommen die Polizei?« fuhr Otstavel fort zu philosophieren. »Eine Uniform, weiter nichts. Also, Uniform herunter und die Sache ist in Ordnung. Nicht wahr? Das ist eben so einfach wie aus einem Hengst einen Wallach zu machen, aus einem Stier einen Ochsen, einfacher noch, denn eine Uniform kann man wieder anziehen, meinetwegen eine neue, und die Polizei ist wieder da, aber aus dem Wallach kann nie mehr ein Hengst werden; der Ochse ist ein ewiger Stand. Also die Uniform ist die Hauptsache. Weißt du, was unser Alter mal sagte, natürlich berauschten Muts? Er sagte, wenn er Kaiser wäre, etwa Nikolai selbst, so würde er die revolutionären Führer zu sich berufen und ihnen sagen, sie könnten sich rote Fahnen besorgen und meinetwegen feuerrote Uniformen, wie Henker, nur auf die Revolution gegen ihn müßten sie verzichten. Und er sei überzeugt, daß mit den roten Uniformen die ganze Revolution für lange Zeit im ganzen Staate unterdrückt sein würde, denn der Mensch tue überhaupt nichts anderes, als von Zeit zu Zeit die Fahne und die Uniform zu wechseln. Lasse man das ruhig geschehen, so könne man ihn ohne Schwierigkeiten zu einem Widderhorn zusammendrehen. So meint unser Alter.«


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