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V

Mittlerweile waren sie an der Hofpforte angelangt, durch die sie unbemerkt hineinzuschlüpfen gedachten. Aber hier erwartete sie Jürka, der berichtete, daß der Alte sehr zornig sei und sie zu sich bescheiden lasse.

»Laß uns durch«, bat Tigapuu. »Melde ihm nicht, daß wir gekommen sind.«

»Nein, das geht nicht, der Alte ist schrecklich böse«, versetzte Jürka sachlich.

»Ich bezahle dir zwei Bier«, versprach Tigapuu.

»Geht nicht«, antwortete Jürka.

»Ein Viertelchen Schnaps«, rief Tigapuu mit heiserer Stimme.

»Nichts zu machen«, versetzte Jürka: »Wären Sie allein oder mit irgendeinem anderen, dann ginge es allenfalls; aber dieser Neue fällt sicher herein und reißt uns beide dann auch mit, was helfen da Bier und Schnaps.«

»Laß doch mit dir reden«, bettelte Tigapuu.

»Nein, es geht nicht«, wiederholte Jürka.

»Dann geh zum Teufel!« rief Tigapuu erbittert. »Ich fürchte weder dich noch deinen Alten. Aber warte nur, das wird dir nicht geschenkt, daß du den Freund so in der Patsche läßt.«

»Was für ein Freund bin ich Ihnen«, sagte Jürka.

»Dämelack!« rief Tigapuu. »Nicht du bist mein Freund, sondern ich habe mich bis heute für deinen Freund gehalten. Bis heute, sage ich. Und du stößt deinen Freund ins Unglück!«

»Wieso stoße ich Sie! Sie gehen ohne Erlaubnis aus und dann heißt es, ich stoße Sie!«

»Natürlich stößt du mich«, widersprach Tigapuu. »Was kostet es dich denn einfach zu sagen: sie sind nicht gekommen, ich habe nichts gesehen, und wir klettern hübsch nach Sibirien hinauf und kommen erst zum Abendbrot herunter. Und wenn der Alte fragen sollte: wir haben geschlafen. Oder noch besser: ich habe ihm oben eine lateinische Stunde gegeben, oben in Sibirien stört uns niemand.«

»Solch eine Flunkerei würde nicht einmal ich glauben, viel weniger noch der Alte. Der glaubt ja nicht einmal die Wahrheit, geschweige denn eine Lüge. Besser ist es, du nimmst deine Strafpredigt mit Würde hin.«

»Das tue ich auch!« sagte Tigapuu mit Nachdruck. »Aber du sollst mir noch daran denken!« fügte er drohend hinzu.

Und so blieb den beiden denn nichts weiter übrig, als sich zum Direktor zu begeben, der sie unten im großen Zimmer erwartete. Im dunklen Korridor flüsterte Tigapuu Indrek zu:

»Das fürchtete ich schon – er hat sich die Sache nicht notiert und daher alles vergessen. Aber dieser Jürka ist ein Verräter! Ein Spion!«

Als Indrek und Tigapuu das große Zimmer betraten, kam der Direktor gerade zur anderen Tür herein, im Begriff, irgendwohin zu eilen. Als er die beiden erblickte, hob er die Hand an die Stirn, als wollte er sich auf irgend etwas besinnen, und sagte: »Warten Sie, warten Sie!« Dann aber trat er auf Indrek zu und fragte:

»Wo waren Sie?«

»Wir waren gegangen, Bücher kaufen«, antwortete Tigapuu hinter Indreks Rücken.

»Herr Tigapuu, ich frage nicht Sie, sondern diesen Langen hier«, sagte der Direktor, seinen Zorn beherrschend. Daß es hier etwas zu beherrschen gab, das merkte Tigapuu sofort daran, daß der Direktor ihn mit Herr titulierte. Das geschah nur in höchstem, verbissenem Zorne.

»Also, antworten Sie mir: wo waren Sie?« wandte sich der Direktor aufs neue an Indrek.

»Wir waren gegangen, Bücher kaufen, Herr Direktor«, antwortete Indrek.

»Wo sind die Bücher, die Sie gekauft haben?« fuhr der Direktor in seinem Verhör fort.

»Sie waren im Geschäft nicht vorrätig«, mischte sich Tigapuu wiederum ins Gespräch.

»Herr Tigapuu!« schrie der Direktor plötzlich mit nicht mehr menschlicher Stimme. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich mit Ihnen nicht zu reden wünsche, sondern mit diesem hier.«

»Aber ich wünsche mit Ihnen zu sprechen«, versetzte Tigapuu unverfroren.

»Warten Sie nur. Sie kommen auch noch an die Reihe«, sagte der Direktor drohend. »Mit Ihnen werde ich eine ganz andere Sprache sprechen als mit dem hier.« Und dann setzte er das Verhör mit Indrek fort, der die ihm von Tigapuu eingeschärften Aussagen machte, bis der Direktor plötzlich vor Tigapuu hintrat und diesen anschrie, während er ihn mit seinen über die Brille gerichteten Blicken zu verschlingen schien:

»Schinder! Auch den hast du mir glücklich gelehrt zu lügen!«

Seine Hand hob sich mechanisch und näherte sich Tigapuus Ohr, aber dieser stieß sie frech beiseite und sagte gleichsam tief verletzt:

»Herr Maurus, ich bin kein kleiner Junge mehr, dem Sie in die Perücke fahren können. Bin ich schuldig, so verhören Sie und bestrafen Sie mich, wie es sich gebührt.«

»Wie es sich gebührt!« schrie der Direktor und begann im Zimmer in die Runde zu rennen, während die Schlafrockschöße hinter ihm herflatterten. »Ich muß schon lange von Hause fortgehen, aber ich kann nicht fort, denn dieser Mensch da verdirbt mir meine Jungen, lehrt sie ohne Erlaubnis ausgehen.«

»Herr Maurus, ich wollte Sie um Erlaubnis fragen, aber Sie waren ja nicht zu Hause«, sagte Tigapuu nun.

»Herr Ollino, Herr Ollino!« rief der Direktor, an der Tür ins Nebenzimmer halt machend. »Bin ich heute zu Hause gewesen? Ist Herr Maurus jemals abwesend?«

»Sie waren heute die ganze Zeit über zu Hause«, hörte man Herrn Ollino aus dem anderen Zimmer hinter der Tür antworten.

»Hören Sie nun: Herr Maurus war die ganze Zeit über zu Hause. Herr Maurus ist stets zu Hause. Er ist hier im Hause der Stellvertreter Gottes. Und wenn Gott der Herr selbst ausgeht, so vertritt ihn der Heiland, und Herrn Maurus vertritt Herr Ollino, denn das ist sein Heiland. Hören Sie? So daß Herr Maurus also stets zu Hause ist. Und wenn Herr Ollino nicht da ist, dann sind Herr Koovi oder Herr Timusk da. Und schließlich ist Herr Kopfschneider hier unten, ihn kann man fragen. Denn wenn weder der liebe Gott da ist, noch sein Sohn, noch die Jungfrau Maria, dann ist doch immer irgendein Heiliger da, an den man sich halten kann. So ist das in Herrn Maurus' Hause.«

»Ich werde doch nicht irgendeinen Kopfschneider um Erlaubnis bitten«, sagte Tigapuu verächtlich.

»Man muß sogar diesen großen Tisch da um Erlaubnis fragen, diese Stühle, diesen Schrank, ja sogar Goethe und Schiller da auf dem Schrank, meinetwegen sogar diesen ausgestopften Schwan, der da unter der Decke hängt, wenn Herr Maurus es befiehlt. Alle müssen gefragt werden, wenn sie Stellvertreter Gottes sind. Die alten, klugen Ägypter befragten Stiere und Käfer, warum sollte unser Tigapuu dann nicht Goethe und Schiller fragen können? Und Sie, warum sind Sie nicht gekommen fragen?« wandte der Direktor sich plötzlich an Indrek.

»Tigapuu sagte, daß er für uns beide gefragt hätte«, erwiderte Indrek.

»Dieser unverschämte Mensch verdirbt mir meine ganze Schule!« schrie der Direktor, aufs neue in Wut geratend. »Wie wagen Sie Hund es, ohne Erlaubnis auszugehen und noch diesen hier mitzunehmen? Warum kamen Sie nicht fragen?«

»Herr Maurus, ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß Sie gerade schliefen, als wir gingen«, versetzte Tigapuu ruhig.

»Haben Sie gehört, haben Sie gehört!« schrie der Direktor, indem er seinen Rundlauf im Zimmer wieder aufnahm. »Erst war ich nicht zu Hause und nun soll ich sogar geschlafen haben. Ich werde verrückt, oder dieser Mensch ist verrückt! Sagen Sie doch bitte, wenn Sie noch bei vollem Verstande sind, wer von uns beiden verrückt ist, ich oder dieser da!?« rief der Direktor, vor Indrek haltmachend und ihn über die Brille scharf anblickend. »Sprechen Sie ganz offen, Sie haben noch einen klaren Bauernverstand.«

Aber bevor Indrek noch eine Antwort finden konnte, sagte Tigapuu ernst, beinahe tadelnd:

»Herr Maurus, lohnt es sich wegen solch einer Lappalie überhaupt, sich zu streiten.«

Wie von der Tarantel gestochen nahm der Direktor seinen Rundlauf wieder auf, indem er schrie:

»Haben Sie gehört? Eine Lappalie! Die Menschen verlieren den Verstand, aber für ihn ist es immer noch eine Lappalie! Nein, nein, er ist verrückt geworden, nicht ich! Unser Tigapuu ist verrückt geworden. Eben war er noch bei klarem Verstande, aber nun ist er verrückt geworden. Total verrückt. Wodurch ist er draußen verrückt geworden? Wissen Sie das?« fragte der Direktor Indrek, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Sie können das natürlich nicht wissen, denn auf dem Lande werden die Menschen nicht verrückt, nur in der Stadt! Einige wenige Jahre in der Stadt genügen, um einen Menschen verrückt zu machen.«

»Herr Maurus«, fiel Tigapuu dem Direktor ins Wort, »machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber meinen Freund und Kameraden lassen Sie in Frieden, denn ich bin verantwortlich für ihn. Ich habe um Erlaubnis gefragt, ich trage auch die Verantwortung.«

Diese Worte wirkten auf den Direktor wie der Stich einer glühenden Nadel. Er hüpfte geradezu auf seinen alten Beinen, hüpfte und schrie, ohne anfänglich überhaupt richtige Worte zu finden. Erst als er wieder im Zimmer herumzurennen begann, kam es aus seinem Munde:

»Herr Ollino, Herr Ollino! Haben Sie gehört? Er trägt die Verantwortung! Er hat um Erlaubnis gefragt! Herr Ollino, kommen Sie doch bitte mal heraus und überzeugen Sie sich, unser lieber Tigapuu ist verrückt geworden. Er trägt die Verantwortung! Er will aus meinem Hause ein Irrenhaus machen, er verantwortet!«

Des Direktors Stimme schwoll beständig an, und um zu verhindern, daß sie bis auf die Straße hinausdringe, begann er selbst die Fensterläden zu schließen. Aber als er mit dieser Tätigkeit gerade bis ans Ende des anderen Zimmers gekommen war, trat Tigapuu herzu und öffnete hinter dem Rücken des Direktors nicht nur den soeben erst geschlossenen Laden, sondern sogar auch noch das Fenster.

»Wer hat das hier geöffnet?« schrie der Direktor mit rasender Miene, als er, sich umwendend, das geöffnete Fenster erblickte.

»Ich, Herr Maurus«, versetzte Tigapuu ruhig. »Ich wollte etwas frische Luft schöpfen.«

Diese Antwort ließ den Direktor einfach erstarren, als sollte er tatsächlich hier auf der Stelle den Verstand verlieren. Das fürchtete vermutlich auch Ollino, dessen weißer Kopf mit den leblosen, bleichen Augen sich nun zur Türe hereinschob. Nach kurzem Zögern trat er auf Tigapuu zu und gab ihm ein Zeichen, daß er verschwinden solle. Als dieser sich widersetzen wollte, sagte er in befehlendem Tone auf russisch: »Hinaus!« Das ließ Tigapuu sich nicht zweimal sagen. Dann wandte sich Ollino dem Direktor zu und sagte völlig gleichgültig:

»Herr Maurus, könnte ich mit Ihnen ein paar Worte unter vier Augen sprechen?«

Mit diesen Worten faßte er den Direktor unter den Arm und zog ihn mit sich in sein Zimmer. Indrek schien völlig vergessen zu sein. Nur hinter dem Vorhang und aus den anderen Zimmern tauchten neugierige Augen und Münder auf, die alles wissen wollten. Indrek ging der Kopf in die Runde, aber um ihn her lachte man bloß:

»Tigapuu wird Sie schon nicht sitzenlassen, er wird Sie schon heraushauen.«

Aber Indrek konnte absolut nicht begreifen, woraus Tigapuu ihn heraushauen sollte. Als er sich hierüber noch den Kopf zerbrach, öffnete Ollino die Türe und rief: »Paas!« Indrek ging. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, überkam ihn plötzlich eine merkwürdige Ruhe. Als der Direktor, der am Tisch Platz genommen hatte, Indrek erblickte, machte er eine Bewegung, als wolle er sich erheben oder etwas sagen, aber Ollino legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Herr Maurus, Sie gestatten.« Und sich zu Indrek wendend, begann er ihm einige Fragen vorzulegen. Als dieser anfangs mit den Antworten zögerte, sagte er: »Sprechen Sie besser die Wahrheit, denn mit Lügen kommen Sie nicht weit. Und überdies, welchen Sinn hätte es, zu lügen, es handelt sich ja doch um eine ganz unwichtige Angelegenheit.«

Das hatte auch Indrek die ganze Zeit über gedacht und empfunden, und darum berichtete er alles haarklein, wie es gewesen.

Dieser Bericht schien das Vertrauen des Direktors zu gewinnen, dessen Züge immer freundlicher wurden, ja sich zu einem Lächeln verzogen, während er zu Ollino bemerkte:

»Ein richtiges Kind Gottes, in dem kein Falsch ist.«

Zu Indrek sagte er:

»Rufen Sie Tigapuu.« Aber als Indrek sich zum Gehen wandte, fügte er hinzu:

»Oder lassen Sie besser Kopfschneider gehen.«

Tigapuu erschien alsbald mit sehr wichtiger, sachlicher Miene und sagte, bevor noch jemand den Mund hatte öffnen können:

»Herr Direktor, ich bitte Sie, sich kurz zu fassen, denn ich habe keine Zeit: muß in der Klasse nach dem Rechten sehen. Lible und einige andere stören die anderen beim Lernen.«

»Was!« rief der Direktor. »Lible und einige andere stören! Wer sind diese anderen? Ihre Namen?«

»Sollten wir nicht erst die alte Angelegenheit erledigen?« fragte Herr Ollino ruhig. Diese Ruhe wirkte auch auf den Direktor, der nun sagte:

»Nun ja, Paas hat alles hübsch erzählt. Schon gut! Ihr seid ehrliche Menschen, ehrlicher Eltern Kinder. Aber seinen Schweinebraten mit Sauerkraut sollte doch jeder lieber für sich selbst zahlen ...«

»Herr Maurus, das machen wir Kameraden untereinander aus«, sagte Tigapuu. »Ich zahlte auf der Fähre, er im Speisehause, so waren wir quitt.«

»So waren Sie quitt«, widerholte Ollino ironisch lächelnd.

»Also jeder zahlt immer am besten für sich«, bemerkte der Direktor ermattet. »Aber vor allem fragen, immer fragen. Wenn Herr Maurus nicht da ist, dann Herrn Ollino oder Koovi. Und nun gehen Sie«, setzte er mit einer müden Handbewegung hinzu.

Dieser Schluß beeindruckte Indrek mehr als die ganze Geschichte. Alles, was vorgefallen war, kam ihm ganz unwahrscheinlich vor, wie ein Spuk oder böser Traum.

»Unsinn«, sagte Tigapuu. »Du kennst unseren Alten noch nicht. Man muß ihm immer irgendeinen Knüppel zwischen die Beine schmeißen, dann kommt er überhaupt nicht zur Sache. Und wenn er schließlich so weit kommt, dann ist er schon ermüdet und überdrüssig und schlägt mit der Hand danach. Aber das vom Schweinefleisch und dem Sauerkraut hättest du auch ruhig ungesagt lassen können. Daß der Alte es erfahren hat, ist ja total gleichgültig, aber Ollino, der ist eklig. Sahst du, wie er grinste. Aber schließlich, hol's der Fuchs! Die Hauptsache ist, daß ich recht behalten habe, als ich dir sagte: Bangemachen gilt nicht! Ich lasse meine Freunde und Kameraden schon nicht hereinfallen. Aber nun wollen wir etwas nach oben, nach Sibirien gehen, ich will dir was zeigen. Hier kann man ja kein vernünftiges Wort reden. So komm doch schon, wir bleiben nicht lange.«

Nur widerstrebend folgte Indrek. Oben führte Tigapuu ihn an ein Bett, auf dem sie beide Platz nahmen, und drückte ihm etwas Weiches in die Hände.

»Fühl doch mal, kannst du erraten, was das ist?« fragte er. »Weich, nicht? Und dieses hier, versuch mal, wie Seide. Und wie schwer. Weich und schwer. Ein drei Pfund werden es schon sein. Reine, gerupfte Federn, einfach Daunen, Geschenk meines reichen Onkels. Wenigstens zwei Rubel wert. Und die Decke anderthalb, billiger kriegt man sie auch beim Trödeljuden nicht. Wenn du die verkaufen wolltest, würde dir sogar jeder Tatar dreieinhalb zahlen. Drei ganz bestimmt. Aber ich denk nicht daran, es zu verkaufen, und auch ins Pfandhaus tragen mag ich die Sachen nicht, denn was würde der Onkel dazu sagen, wenn er es erfährt. Aber einem Freunde würde ich sie gerne in Verwahrung geben, dir zum Beispiel. Um so mehr, als du die Dinger gut wirst brauchen können, denn eins mußt du wissen, hier in Sibirien ist es im Winter manchmal höllisch kalt, der Wind faucht durch alle Fugen, und des Morgens sind die Betten oft bereift. Da hilft nichts, als ein warmes Kissen auf die Füße. Da siehst du, daß ich an dich gedacht habe. Und weißt du, was ich für die ganze Geschichte will? Nun rat einmal. Nein, das errätst du nicht. Zwei Rubel, zwei lumpige Rubel! Verstehst du, Mensch? Und das für Sachen, die mindestens ihre guten fünf Rubel wert sind. Aber wenn du mein Freund sein willst, wie ich der deine, dann kratz anderthalb heraus und die Sachen gehören dir. Das heißt, richtig verkaufen will ich sie gar nicht, vielmehr nur sie sozusagen versetzen. Von Verkauf kann gar keine Rede sein, spätestens in einer Woche hast du dein Geld zurück, in Silber oder in Papier, wie du willst, mit oder ohne Zinsen. Ganz wie du wünschst. Du bekommst dein Geld, und ich meine Sachen. Nun, was meinst du zu anderthalb?«

»Soviel habe ich ja gar nicht«, sagte Indrek.

»Flunkre doch nicht«, versetzte Tigapuu. »Unter Kameraden soll man nicht flunkern. Es sei denn, daß wir aneinandergeraten, dann natürlich. Du bekommst ja dein Geld zurück, und ich meine Sachen. Also – eins fünfundzwanzig! Was meinst du?«

»Aber ich brauch das Geld doch für andere Dinge«, versuchte Indrek sich zu widersetzen.

»Du kriegst dein Geld ja nach ein paar Tagen zurück, dann kannst du damit machen, was du willst. Ich kann ja doch nicht ewig ohne Decke und Kissen schlafen, das mußt du doch selbst einsehen. Außerdem habe ich ja auch noch für Stunden Geld zu bekommen. Und was wäre das überhaupt für eine Freundschaft, wenn immer nur ich dir helfen soll und du nie mir. Wahre Freundschaft ist immer gegenseitig, das ist wenigstens meine Ansicht von der Sache. Aber hol's der Teufel: gib einen Rubel her, und die Sache ist abgemacht!«

Wenn Indrek immer noch zögerte, seinen Beutel hervorzuholen, so lag das vor allem auch daran, daß er Tigapuu nicht zeigen wollte, wieviel Geld er in Wirklichkeit besaß. So öffnete er denn vorher mit einiger Anstrengung den Beutel schon in der Tasche und zog den größeren Teil des Geldes hervor, um ihn beiseitezuschieben, so daß nur ein Silberrubel und etwas Kupfer im Beutel zurückblieben.

Als er sah, wie wenig Geld im Beutel war, sagte Tigapuu vorwurfsvoll:

»Wie konntest du mit so wenig Geld von Hause wegfahren? Oder hast du einen Teil woanders verstaut? Laß es nur um Gottes willen nicht in der Kiste, da verschwindet es sofort.«

»Ich habe weder in die Kiste noch sonstwohin etwas zu verstauen«, sagte Indrek.

»Nun, dann hat wohl der Alte dich blank poliert«, meinte Tigapuu, »denn mit leeren Taschen kommt man doch nicht in die Stadt. Wieviel hast du dem Alten gegeben? Wieviel hat er dir abgeknöpft?«

»Fünfzig«, versetzte Indrek.

»Fünfzig!« rief Tigapuu. »Du bist wohl nicht ganz richtig im Kopfe. Dem Alten gleich fünfzig! Das ist einfach eine Schweinerei! Ein Freund will einen Rubel von dir und du machst Schwierigkeiten, und dem Alten wirfst du auf einmal fünfzig in den Rachen. Dreißig wären übergenug gewesen. Ich schäme mich einfach, solch einem Menschen meine Freundschaft zu schenken, der nur ein paar elende Kopeken in der Tasche hat. Nun sag doch bitte selbst: was fange ich mit diesem einen Rubel an? Wo kann ich mich mit dem zeigen? Pfui Teufel!« Und Tigapuu spuckte von ganzem Herzen aus. »Wem kann ich sagen, daß ich nur einen elenden Rubel in der Tasche habe? Weiß Gott, wenn du nicht mein Freund wärst, ich könnte dich für diese Schweinerei gehörig verwalken.«

Mit diesen Worten erhob er sich vom Bett und tappte sich zur Luke. Den Rubel hatte er schon in der Tasche.

»Hier kann man sich im Dunkeln noch den Hals brechen«, fluchte er im Gehen. »Und wofür? Für einen elenden Rubel. Einfach gemein, eine solche Schweinerei!«

Tigapuus Schritte verhallten auf der Treppe. Indrek saß nach wie vor auf der Bettkante, Kissen und Decke auf den Knien. Am liebsten hätte er sie Tigapuu durch die Luke nachgeschleudert. Mag der Kerl den Rubel fressen, dachte er ingrimmig, denn plötzlich war es ihm klargeworden, daß er seinen Rubel nie mehr wiedersehen würde. Er saß noch in Gedanken da, als er Tigapuu von unten rufen hörte:

»Komm schnell, Herr Maurus ruft dich! Aber brich dir nur nicht im Dunkeln den Hals. Sonst bin wieder ich schuld.«

Als Indrek glücklich unten war, flüsterte Tigapuu ihm ermahnend zu:

»Sei nun einmal ein Mann, Mensch. Der Alte will sich mit uns versöhnen. Darum spiel den Gekränkten, verstehst du, dann kriegen wir mehr.«

Der Direktor empfing sie mit freundlichem Lächeln. Als er Tigapuus gekränkte Miene bemerkte, sagte er gewissermaßen entschuldigend:

»Nichts für ungut. Jungens. Ich meine es ja nicht böse, aber ich habe doch das Recht zu fragen, wo Sie gewesen sind. Tigapuu, was meinen Sie, habe ich das Recht?«

»Na ja, natürlich«, meinte Tigapuu widerwillig. »Aber ich muß doch auch mein Recht haben, wie soll ich denn sonst mit den Jungen fertig werden, wie sollen sie mich fürchten, wenn ich gar kein Recht habe?«

»Ja, natürlich müssen Sie auch Recht haben«, erklärte der Direktor sich entgegenkommend einverstanden. »Sie müssen als mein Stellvertreter Recht und Ansehen genießen. Subordination, Disziplin, das ist die Hauptsache. Und daraufhin wollen wir uns nun versöhnen.«

Der Direktor hatte schon längere Zeit in der Tasche mit Silbergeld geklimpert. Nun zog er die Hand aus der Tasche und sagte:

»Hier sind für jeden von Ihnen dreißig Kopeken. Gehen Sie in den Nüchternheitsverein, Tigapuu weiß Bescheid, essen Sie dort ein paar Buttersemmeln und trinken Sie Tee. Zum Abendessen können Sie fortbleiben, wenn Sie wollen. Das Geld gebe ich Ihnen, Paas; Sie sind gewissermaßen länger. Sie zahlen dann. Teilen Sie sich hübsch anständig und ehrlich, immer ehrlich. Wir sind arm, ein armes Volk, darum müssen wir ehrlich sein. Ehrlichkeit und Recht sind der Schild des Armen. Und nun geht, und Sie, Tigapuu, haben Sie acht auf ihren Freund. Kommen Sie aber bald zurück. Bleiben Sie nicht zu lange fort. Und nicht Billard spielen oder noch woanders hingehen, denn junge Menschen streben immer anderswohin, streben überallhin. Sie, Paas, ermahnen Sie Ihren Freund, wenn er noch woanders hingehen will. So, und nun gehen Sie.«

Als die Jungen sich schon zum Gehen wandten, zog der Direktor nochmals eine Handvoll klingender Silberlinge aus der Tasche, suchte zwei Zwanziger heraus und schob sie Tigapuu in die Hand.

»Damit beide was haben«, sagte er mit schlauem Lächeln. »Sonst wird der andere am Ende noch gar zu stolz auf seine Länge. Ein Rubel ist genug für zwei lange Kerle.«

Die Jungen polterten die Treppe hinab, während der Direktor ihnen von oben an der Tür nachblickte, die Hände in den Taschen, die Schlafrockschöße breit auseinanderklaffend.

»Hol's der Teufel!« fluchte Tigapuu auf russisch, als er mit Indrek das große Zimmer unten passierte, wo eine Schar Jungen um den langen Tisch versammelt war.

»Was ist los?« wurde von mehreren Seiten neugierig gefragt.

»Geht euch nichts an«, lautete Tigapuus Antwort. »Der Alte ist verrückt!« Und Indrek flüsterte er zu: »Schnell den Mantel angezogen und zur Hofpforte hinaus!«

Kaum waren sie auf der Straße, als Tigapuu sagte:

»Hast du gemerkt, worauf der Alte es abgesehen hat? Er will uns auseinanderbringen. Uns! Er sah vorhin, wie ich für dich eintrat, und das genügt ihm. Und wie schlau er das eingefädelt hat! Gibt dir das Geld, weil du länger bist! Verstehst du – länger! Richtiger wäre es doch wohl gewesen, mir das Geld zu geben, denn ich bin doch gewissermaßen auch Lehrer und versteh mit Geld in der Stadt umzugehen. Du hörtest doch, was er sagte. Weißt du, was für einen Possen ich ihm gerne gespielt hätte? Ich wollte ihm einfach sagen: Schönen Dank, Herr Maurus, aber heute kann ich leider nicht ausgehen, ich fühle mich nicht ganz wohl. Und weißt du, warum ich das nicht getan habe? Nur deinetwegen. Denn erstens hättest du mit dem Gelde nichts anzufangen gewußt, und zweitens hätte er dir das Geld wieder abgenommen. Das ist mehr als sicher. Und so dachte ich mir denn: meinetwegen, dem Alten werde ich es schon ein andermal heimzahlen, aber jetzt will ich den Freund nicht im Stich lassen. Mag er wenigstens seinen Spatz haben, wenn ich auch dabei leer ausgehe.«

»Aber wir machen doch halbpart selbstverständlich«, sagte Indrek.

»Das natürlich«, sagte Tigapuu. »Aber sag doch selbst, ist das recht, wenn wir halbpart machen? Glaubst du wirklich, daß der Alte das so gemeint hat? Ich kann das nicht glauben. Er sagte das bloß so, um uns auseinanderzubringen. Das wäre ja noch schöner, wenn Lehrer und Schüler gleichviel bekommen sollten! Oder hat unsereins weniger Mühe und Plage mit den Jungen als die Lehrer? Und zahlt der Alte uns auch nur einen Kopeken Gehalt? Der Lehrer muß doch selbstverständlich mehr bekommen als der Schüler. Nicht wahr?«

»Ja, natürlich, du hast recht«, erklärte sich Indrek einverstanden.

»Das wäre ja auch noch toller, wenn ich nicht recht hätte«, sagte Tigapuu mit einer gewissen Erbitterung. »Die ganze Welt ist doch noch nicht verrückt geworden, daß Schüler und Lehrer über einen Kamm geschoren werden sollten. Aber andererseits bin ich ja auch kein ganz richtiger Lehrer, und darum sollst du ja auch nicht leer ausgehen. Durchaus nicht. Ja, selbst wenn der Alte das so gemeint haben sollte, würde ich dir doch immer etwas abgeben. Was meinst du nun, wieviel wirst du mir geben?«

»Ich denke dreißig ...« begann Indrek.

»Wie denn plötzlich dreißig?!« unterbrach ihn Tigapuu ungeduldig. »Das wäre doch die Hälfte. Wozu habe ich dir denn die ganze Zeit klarzumachen versucht, daß zwischen Lehrer und Schüler doch ein Unterschied gemacht werden muß.«

»Aber du bekamst ja vom Alten selbst vierzig, und wenn du von mir noch dreißig erhältst, so hast du im Ganzen siebzig, und ich nur dreißig«, erklärte Indrek.

»Herr des Himmels!« rief Tigapuu erstaunt. »Mensch, bei dir piept es wohl. Das wäre doch des Teufels, wenn die Lehrer anfangen würden, ihr Gehalt mit den Schülern zu teilen. In Frage kommt doch nur eine Teilung der Summe, die du hast. Wenn der Alte gewünscht hätte, daß wir alles teilen, wozu hätte er dann die vierzig mir gegeben? Wozu? Und überdies sagte er mir doch mit deutlichen Worten, du hast es ja selbst gehört: da, das ist für dich. Aber als er dir das Geld gab, was sagte er da? Besinn dich genau, ganz genau! Er sagte: Teilt das hübsch. Aber hat er mir auch von Teilen gesprochen? Brauchte er dieses Wort? Natürlich nicht, das weißt du ebensogut wie ich. Und nun sag doch bitte selbst: ist das etwa hübsch geteilt, wenn du dem Lehrer ebensoviel gibst, wie du für dich behältst? Dreißig für jeden. Das wäre halbieren, nicht teilen. Und der Alte sprach doch von Teilen, nicht von Halbieren. Sag doch selbst, wovon sprach der Alte, von Teilen oder von Halbieren?«

»Von Teilen«, versetzte Indrek.

»Siehst du«, rief Tigapuu triumphierend. »Aber warum willst du dann halbieren, wenn der Alte mit klaren Worten von Teilen sprach. Sag mir lieber ganz offen: wieviel wirst du mir geben, damit ich weiß, woran ich bin«, sagte Tigapuu, indem er Indrek in den Treppenraum eines großen Steinhauses führte. »Bevor wir eintreten, muß diese Sache geklärt sein. Sieh mal, was für ein großes, elegantes Haus, was für eine schöne Treppe mit breitem Geländer. Und du handelst hier immer noch um ein paar elende Kopeken. Hier diese Treppe müssen wir hinauf und oben dann die Tür links, nicht rechts, behalt das. Aber mach nun schnell, sonst kommt noch jemand und sieht uns hier stehen und denkt weiß Gott was. In der Stadt schickt es sich nicht, so in den Treppenhäusern herumzustehen. Wenn du auch nur noch eine Spur von Gerechtigkeitssinn hast, so gibst du mir zwei Drittel und behältst selbst ein volles Drittel. Ich bin doch immerhin mehr oder weniger Städter, und wo der vom Land mit einigen Zehnern auskommen kann, da braucht der Städter einige Rubel, so daß du eigentlich viel mehr bekommst als ich. Was bedeuten einem Städter die vierzig Kopeken, die du mir geben willst? So gut wie nichts. Aber da ich dein Freund bin, will ich dir von meinem Anteil noch fünf Kopeken schenken, so daß ich also nur fünfunddreißig für mich behalte.«

Um Tigapuus Redeschwall nur endlich ein Ende zu machen, zog Indrek den Beutel hervor, um ihm fünfunddreißig abzugeben. Wie sich aber leider erwies, hatte er nur drei Zwanziger.

»Siehst du, sogar das Geld ist dafür, daß ich zwei Drittel bekomme«, sagte Tigapuu. »Aber keine Angst: ein Mann ein Wort! Fünf Kopeken erhältst du später zurück.«

Als Tigapuu seine vierzig Kopeken erhalten hatte, sagte er belehrend zu Indrek:

»Geh nun hier die Treppe hübsch hinauf und dann durch die Türe links dreist hinein. Das tut nichts, daß die Treppe so elegant ist und die Tür so breit, geh nur ruhig hinein. Und halt: du hast also zwanzig. Eine Buttersemmel kostet drei, macht also beinahe sieben Semmeln. Tee mußt du natürlich auch nehmen, ohne Tee geht es nicht. Und behalt nur eins: rühr dich nicht vom Fleck, bevor ich wieder da bin, denn zusammen sind wir hergekommen, zusammen gehen wir auch wieder fort. So ist es Brauch unter Freunden. Sonst denkt der Alte sich wieder weiß Gott was. Also wart auf mich. Lies inzwischen Zeitungen oder sieh zu, wie die Leute Billard spielen. Und nun hinein!«

Tigapuu begleitete Indrek in die Gaststube, als käme ihm das für alle Fälle sicherer vor, suchte ihm dort einen Platz aus und bestellte ihm ein Glas Tee und drei Buttersemmeln. Dann sagte er:

»Schön warm, nicht? Und sieh mal, wie schön hell! Was fehlt einem, wenn man hier sitzt und sich den Spaß ansieht. Später kannst du noch einen Tee nehmen und eine Semmel, und dann bist du auch voll zum Platzen. Mitnehmen kann ich dich nicht. Du hast ja kein Geld. Mit zwanzig Kopeken ist da nichts anzufangen, wo ich hingehe. Nur rühr dich nicht vom Fleck, bevor ich da bin.«

Und dann ging er.


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