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X

Aber nicht dieser Krämer allein debattierte und fragte. Das taten alle, jeder in seiner Art. Selbst die Bücher, die Indrek tage- und wochenlang las, disputierten und fragten, kamen dabei aber endlich stets auf das eine hinaus, daß alles, was bestehe, verschwinden und einer neuen Ordnung Platz machen müsse, weil es überholt und veraltet sei. Die Zeitungen enthielten eigentlich kaum andere Nachrichten als Berichte über Meetings, Streiks, Überfälle und Gewaltakte, Ermordungen von Polizisten und Gendarmen oder sonst irgendwelche gegen die bestehende Ordnung gerichtete Ausschreitungen und Übergriffe. Das zerfraß allgemach die Seelenruhe, störte das innere Gleichgewicht. Niemand wollte eigentlich mehr irgend etwas Vernünftiges tun oder unternehmen, alles war erregt, irgendwie im Aufbruch begriffen, auf dem Sprunge. Am liebsten schlenderte man müßig umher, stand an den Straßenecken herum und lauschte den Gesprächen kleiner, sich immer wieder bildender Menschengruppen, betrachtete sich die durch die Straßen ziehenden Reiterpatrouillen, deren Hufgeklapper von den niedrigen Häusern der engen Gassen widerhallte.

Selbst die Natur schien gleichsam ihr Gleichgewicht verloren zu haben. Erst vor wenigen Tagen hatten die Blätter über eine zweite Erdbeerblüte berichtet, als eines Morgens frischer Schnee gefallen war, weiß und leicht wie Daunen, die alles bedecken, Straßen und Gärten, das vergilbte Laub, Dächer, Schornsteine und Zäune, überrascht, ja ein wenig erregt, wirft man sich in den Mantel und eilt hinaus, um inmitten dieses blendenden Wunders umherzuspazieren, seinen herben frischen Hauch zu spüren, aber noch bevor du zu einem richtigen Genuß dieser Herrlichkeit gekommen bist, ist die weiße Pracht zu grauem Schmutz zerronnen, und nur irgendwo am nordwärts gewandten Hange eines Daches erblickst du einen kümmerlichen Rest der Schönheit, die dich hinausgelockt, und die Traufen stimmen ihr melancholisches Herbstlied an.

Betritt man die Redaktion des »Volksfreund« – und das tun in diesen aufregenden Zeiten viele –, so kann man dort stets dieselbe Phrase hören: »Na ja, man wird nun sehen, was der nächste Tag bringt, was die Residenzblätter melden werden, aber die Sache geht vorwärts, das ist klar.« Und dabei rascheln die Redakteure mit ihren letzten Residenzblättern, lesen, schreiben und fluchen: »Da hat man es nun! Eine gute Sache, ein guter Gedanke, aber niederschreiben darf man ihn nicht, wegen der Zensur. Es wäre nutzlose Papierverschwendung, Raub am Vermögen des Besitzers.«

»Was heißt das – Raub am Vermögen des Besitzers?« fragte Josua, der Redakteur mit den gelben Locken, der von Tag zu Tag immer mehr nach links abgleitet. »Wenn alle ihre Ansprüche geltend machen, warum sollten wir dann wohl zurückstehen? Mit der allgemeinen Kommune muß es ja doch sowieso enden.«

»Nein, Brüderchen«, versetzt der am anderen Ende des Tisches sitzende Kollege Sillamäe, ein eifriger Verteidiger des Privateigentums, »da freust du dich zu früh. Erst kommt die bürgerliche Revolution, die die persönliche Freiheit bringt, und dann erst steuern wir auf die Kommune los.«

»Du meinst also, daß alles so gehen wird wie in Frankreich?« fragte Josua.

»Alles wird gehen, wie es immer und überall gegangen ist«, versetzte Sillamäe mit dem Brustton der Überzeugung, denn er hielt sich für historisch sehr fein gebildet. »Die historischen Gesetze sind immer die gleichen.«

»Aber bester Mensch«, rief Josua eifrig, »die Gesetze werden ja doch Tag für Tag übertreten. Dir selbst ist doch erst kürzlich durchs offene Fenster ein Rock nahezu direkt vom Leibe gestohlen worden.«

»Aber das ist doch eine ganz andere Sache, denn ich war damals doch sozusagen in Feststimmung, und das Fenster stand ja offen«, erwiderte Sillamäe.

»Und du meinst, daß ein ganzes Volk, sagen wir zehn, fünfzig, ja meinetwegen hundert Millionen nicht in Feststimmung geraten könnten? Du vergißt die Massenpsychologie.«

»Und du meinst, daß deine fünfzig oder hundert oder tausend Millionen den anderen fünfzigtausend oder Billionen ins Fenster steigen könnten, wenn sie in Feststimmung ihr Schläfchen halten?« fragte Sillamäe.

»Warum nicht?« versetzte Josua ungerührt. »Eine Million schläft im Festrausch, und die andere klettert im Festrausch durchs offene Fenster und begründet den Sozialismus oder Kommunismus.«

»Dann schon lieber gleich den Anarchismus«, meinte Sillamäe.

»Warum denn gleich den Anarchismus?« fragte Josua beleidigt.

»Aber das ist doch Anarchismus, wenn Milliarden anderen Milliarden ins Fenster kriechen und ihre Hosen stehlen, so daß etwa ein Redaktionsglied des ›Volksfreund‹ barbeinig in der Redaktion auftreten muß.«

»Hierzu wäre folgendes zu bemerken, mein Bester«, versetzte Josua. »Erstens hat die eine Milliarde der anderen schon längst nicht nur die Hosen geraubt, sondern auch die Stiefel und den Rock und besitzt infolgedessen nunmehr mehrere Hosen, mehrere Paar Stiefel und Röcke. Und zweitens bitte ich nicht persönlich zu werden, denn ich habe noch niemandes Hosen oder Rock gestohlen.«

»Ich auch nicht«, versetzte Sillamäe, »aber warum willst du mir dann deine Millionen auf den Hals hetzen?«

»Das will ich doch gar nicht«, beteuerte Josua.

»Wieso willst du das nicht?« fragte Sillamäe gereizt. »Wenn deine zehn und tausend Millionen erst anfangen alles aufzuteilen, wie du das so schön darlegst, glaubst du, daß sie uns dann verschonen werden? Glaubst du wirklich, daß, wenn bis heute die oberen Zehntausend die Güter der Welt ungerecht verteilt haben, sich, sagen wir, jeder zehn Paar Hosen und Röcke angeeignet haben, so daß die anderen deswegen sozusagen ohne Hosen in Hemdsärmeln herumlaufen müssen, glaubst du denn wirklich in deinem tiefsten Herzen, daß deine zehn und hundert Millionen eine gerechtere Verteilung vornehmen werden?«

»Ja, das glaube ich«, versetzte Josua. »Ich glaube, daß das Volk als solches die Gerechtigkeit liebt, auf dem Rechte besteht und ...«

»Dann hast du auch keine blasse Ahnung von Geschichte«, rief Sillamäe erregt aufspringend. »Hör nun zu, was ich dir sagen werde: Das Volk als solches hat nie die Gerechtigkeit geliebt, überhaupt nie gewußt, was Recht ist, es sucht immer nur den volleren Trog, die bessere Weide, wie das Vieh, und den einzelnen hat es immer gezwackt und vergewaltigt.«

»Und tut recht daran«, erwiderte Josua gleichmütig, »denn wichtig ist nicht der einzelne, sondern die Masse.«

»Was für ein Wundertier ist denn diese berühmte Masse, daß sie dieses Recht haben sollte?!« schrie Sillamäe in höchster Erregung. »Ein neuer Gott, was? Und warum sollte denn der einzelne nicht gelten? Wo er doch auch zur Masse gehört. Sagen wir, wir sind zehn. Schön. Nehmen wir von diesen zehn neun, so ist das also die Masse, und der zehnte ist der einzelne. Aber nehmen wir nun auf der einen Seite acht und auf der andern zwei. Sind diese zwei nun auch wieder einzelne, die die acht nach Belieben zwacken können? Oder sechs zu vier? He?«

»Aber selbstverständlich«, versetzte Josua ohne zu zaudern.

»Aber dann dürfen also sechzig Millionen vierzig Millionen zu Brei zerquetschen, und du nennst das Gerechtigkeitsliebe, Rechtsbewußtsein. Was sind dann schließlich deine Gerechtigkeit, dein Recht? Was? frage ich.«

»Das ist eben Naturgesetz, wie es von jeher auf der Welt geherrscht hat, schon bei den Sauriern«, versetzte Josua.

»Aha!« rief Sillamäe triumphierend. »Also immerhin ein Gesetz. Das gibst du wenigstens zu.«

»Aber gewiß, Brüderchen, ein Gesetz schon, aber ein solches eben, auf Grund dessen ein Hundertmillionenvolk früher oder später das historische Gesetz übertritt, indem es etwa aus der Sklaverei direkt in die Kommune hinüberhüpft«, erklärte Josua.

»Oder aus der Monarchie direkt in die Anarchie, wenn es nach dir ginge«, versetzte Sillamäe giftig, und dann begann die ganze Debatte mit einer kleinen Variante wieder von vorne und konnte sich endlos hinziehen, ohne daß die Parteien sich allzuviel an Logik, Recht und Gerechtigkeit gekehrt hätten.

»Ihr mögt ja beide recht haben, aber meint ihr nicht, daß auch ich ein wenig recht habe, wenn ich euch nun bitte, ein wenig Ruhe zu geben, damit man doch auch arbeiten kann«, mischte sich schließlich ein dritter Kollege ins Gespräch.

Und ein vierter rief aus dem Nebenzimmer durch die offene Tür:

»Dazu hast du nicht das geringste Recht, mein Lieber, denn du bist ein einzelner, und sie sind eine Masse. Sie halten zusammen.«

»Aber wir beide halten ja gerade gar nicht zusammen«, rief Sillamäe.

»Aber was zankt ihr euch denn so einmütig?« kam es aus dem Nebenzimmer. »Natürlich haltet ihr zusammen. Ihr wollt beide eure hundert Millionen oder Milliarden beglücken und kommt nur nicht zum Schluß, wie das am besten zu machen ist. Eins steht aber fest: wenn es ans Aufteilen geht, dann werden wir mit Kuru ohne Anteil bleiben, denn wir hätten keine Zeit, uns zu beteiligen, wir arbeiten, während ihr ...«

»Sie hätten ja wohl auch keine Zeit, sie würden disputieren«, meinte Kuru gelassen. Damit waren alle einverstanden, und so konnte man in der Tagesordnung fortfahren, mit den Blättern rascheln, schreiben und auf die Zensur schimpfen, die nichts durchläßt.

Aber Wiljasoo, der mittlerweile auch in der Redaktion erschienen war, um sich nach den neuesten Nachrichten zu erkundigen, wußte zu berichten, daß es ihm gelungen sei, wieder einmal ein Buch durch die Zensur zu schmuggeln; sogar Paas' »Eichhörnchen« sei nicht beanstandet worden, nachdem er den Schluß ein wenig abgeändert hätte, indem er das Eichhörnchen, das munter seinen buschigen Schwanz schüttelt, mit einem jungen koketten Mädchen verglichen habe. Das hätte genügt, indem es den Zensor davon überzeugte, daß die ganze Skizze eine durchaus harmlose Tendenz habe. Keine Spur von Unterwühlung der Grundlagen des Staates, wo doch nur die Rede von einem jungen koketten Mädchen sei. Das war die Überzeugung des Zensors, und so war Wiljasoos Prophezeiung in Erfüllung gegangen, daß die jungen Mädchen Indreks »Eichhörnchen« retten würden.

Als Indrek die Redaktion verließ, schloß Wiljasoo sich ihm an. Auch er war der Meinung, daß die Kommune die idealste Gemeinschaftsform darstelle, nur nicht für ihn als Verleger. Er konnte nicht glauben, daß sich Leute finden sollten, die seine Bücher unter sich würden aufteilen wollen. Mit dem Lesen sei es wie mit dem Besuch der Badestube: freiwillig tue der Mensch das nicht, dazu müsse er gezwungen werden. Und wozu überhaupt noch Bücher schreiben, verlegen und lesen, wenn in der Welt ohnehin eine ideale Gemeinschaftsordnung herrsche? Das Buch sei ein Übel, das ein Gut anstrebe, aber wer würde sich noch mit dem Übel befassen wollen, wenn das Gut errungen sei!

Obgleich Indrek an diesem Vormittage so viele große Ideen und Gedanken hatte herunterschlucken müssen, empfand er nun doch heftigen Hunger, und er mußte besonders lebhaft an die delikaten sauren Gurken denken, welche die Hundemammi einem zum Mittag zu ihren Koteletten oder Schweinebraten vorsetzte. Und so konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seine Schritte nach dem Speisehause zu lenken, besonders wo ihm noch die Freudenbotschaft, daß sein »Eichhörnchen« nun doch endlich das Licht der Welt erblicken würde, in den Ohren klang.

Das Mittagessen war gerade in vollem Gange, als er das Speisehaus betrat, dessen beide Zimmer nahezu voll besetzt waren. Der Hund war von dem vielen Umherspazieren völlig erschöpft und atemlos und stand breitbeinig inmitten des ersten Zimmers da, die rote Zunge hing weit aus dem keuchenden Maule. Sogar die Wirtin hatte Schweißtropfen auf der Stirn. Als sie Indrek erblickte, bat sie ihn in ein drittes kleines Zimmer, das nur im Notfalle benutzt wurde oder wenn man sich vom übrigen Publikum absondern wollte.

»Laß sie auch zuweilen ein wenig rennen«, sagte die Wirtin, als sie Indrek das Essen brachte, und damit meinte sie ihre Töchter. Und mit diesen Worten nahm sie neben Indrek Platz, angeblich um ein wenig zu verschnaufen, in Wirklichkeit aber aus einem ganz anderen Grunde, denn alsbald fragte sie Indrek, ob er nicht vielleicht den alten Herrn Bystryi getroffen habe, und fuhr, als sie eine verneinende Antwort erhalten hatte, fort:

»Ja, können Sie sich vorstellen, hier ist er auch nicht gewesen. Nicht mit dem Fuß mehr. Können Sie das begreifen, ein alter Mann schmeißt einfach den Löffel samt der Suppe auf den Tisch, verschwindet und kommt nicht mehr wieder. Ich habe darüber immer wieder nachdenken müssen, und dann ist mir etwas eingefallen: Er sprach ja immer davon, daß er mir Furcht einjagen wolle. Na, und nun versucht er das wohl. Er hat nämlich einen sehr schwachen Magen, und nun verdirbt er sich den wahrscheinlich durch schlechtes Essen. Er weiß natürlich, wie gut ich seinen Magen kenne und wie sehr er mir am Herzen liegt. Und nun verdirbt er ihn sich, mir zum Tort. Verstehen Sie? Verdirbt sich seinen eigenen Magen einem andern Menschen zum Tort. Denn Sie mögen es mir nun glauben oder nicht, aber ich liebe seinen Magen viel mehr als ihn selbst. Da liegt der Hase im Pfeffer. Sagen Sie, raten Sie mir doch, was ich tun soll, denn denken Sie doch, auch das Lesen der Todesanzeigen hilft nicht mehr, gar nichts hilft mehr, er läßt auch nicht einmal mehr seine Nase hier blicken.«

»Vielleicht könnten Sie ihm das Mittagessen nach Hause schicken«, schlug Indrek vor. »Vielleicht sogar es selbst ihm bringen.«

»Meinen Sie, daß das helfen wird?« fragte die Wirtin zweifelnd. »Ob er dann wohl glauben wird, daß sein Magen mir wirklich am Herzen liegt?«

»Vielleicht doch«, meinte Indrek.

»Ja, Gott gebe es!« seufzte die Wirtin.


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