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VIII

Man hatte allgemein die Empfindung, als würde das Leben von Tag zu Tag immer interessanter und spannender. Alles schien mit Ungeduld darauf zu warten, was der nächste Tag bringen würde. Sogar die alten Leute, die unter der Last ihrer Jahre zusammengesunken waren und vom Leben schon lange nichts weiter erwarteten als den Tod – das einzige, was das Leben ihnen noch schuldig war –, selbst sie begannen gemeinsam mit der Jugend zu warten und schoben des Abends die Brillen auf die Nase, um mit eigenen Augen in der Zeitung zu lesen, was der nächste Tag bringen würde. Es verschlug nichts, daß alles ja wußte und immer wieder versicherte: »Die Zeitungen flunkern, sie können gar nicht anders wegen der Zensur«, trotz alledem griff alles begierig nach den frischen Blättern, um doch wenigstens den Versuch zu machen, die Wahrheit zwischen den Zeilen herauszulesen. Man war eben der Ansicht, die Presse wisse nichts Lieberes, als dem Publikum die lautere Wahrheit zu verkündigen, nur die Regierung, ja, die allein stehe dem entgegen. Wenn die nur damit einverstanden sein wollte, dann würde alle Welt bald im Besitz der Wahrheit sein und damit ein neues Zeitalter, ein neues Leben seinen Anfang nehmen.

Und so hielt man es denn andrerseits auch für selbstverständlich, daß jede Erklärung oder Behauptung der Regierung in ihr Gegenteil umzudeuten sei, und umgekehrt jedes Dementi der Regierung die dementierte Tatsache nur bestätige. Glauben konnte man der Regierung nur, wenn sie eine Niederlage zugab, denn das wollte man nur zu gerne glauben oder wenn sie bekanntgab, daß einer ihrer Handlanger, vom Großfürsten bis zum kleinen Polizeibeamten, von den Revolutionären ermordet worden sei – von einer Bombe zerrissen oder aus einem Revolver niedergeschossen. Ja, das glaubte man, ohne daß es jemand in den Sinn zu kommen schien, daß man es hier mit einem Menschenleben, mit Blutvergießen zu tun habe.

Für dieses alles ging Indrek hier in seiner abgelegenen Vorstadtwohnung das Verständnis auf, denn das hing hier sozusagen in der Luft, blitzte in jedem Blick, tönte aus jedem Wort. Erst jetzt erfaßte er die Worte Otstavels, die Polizei sei das verworfenste Gesindel auf Gottes Erdboden. Nicht die Polizei als solche eigentlich, sondern die Regierung, mit welcher das Volk aber nur durch ihren Handlanger, die Polizei, in direkte Berührung kam, gegen die sich darum der ganze im Grunde gegen die Regierung gerichtete Haß der Volksmassen wandte. Indrek konnte nichts dafür, daß sich in ihm eine gewisse Sympathie und Teilnahme für die Polizei regen wollte, als handle es sich hier um einen frommen Dulder, der berufen sei, fremde Sünden zu büßen. Und eben wohl auch aus diesem Grunde suchte er nach längerer Zeit wieder mal seinen alten Schulkameraden im Polizeibüro auf, denn seine Privatwohnung war ihm unbekannt.

»Bist du sehr reich?« fragte Otstavel im ersten geeigneten Augenblick, als niemand auf sie achtete.

»Nein«, versetzte Indrek mißtrauisch.

»Nun, dann habe ich also richtig gehandelt.«

»Was heißt das? Ich verstehe dich nicht«, verwunderte sich Indrek.

»Das läßt sich denken«, lachte Otstavel. »Also, die Gemeindeverwaltung ersuchte uns kürzlich, von dir die Gemeindesteuer einzufordern, und da habe ich ihnen denn geantwortet, dein Wohnort sei hierorts unbekannt, und es bestehe daher keine Möglichkeit, die Steuer beizutreiben.«

»Aber du kennst meinen Wohnort doch«, sagte Indrek.

»Als dein Schulkamerad – natürlich, aber als Beamter –, das ist eine ganz andere Sache.«

»Aber ich bin doch auch bei der Polizei gemeldet«, fuhr Indrek beharrlich fort.

»Nicht in unserem Bezirk, bitte sehr«, versetzte Otstavel lachend und fuhr dann fort: »Und wenn auch in unserem Bezirk, so ist doch irgendein Mißverständnis immer denkbar. Nicht wahr? Jeder kann sich irren, warum denn nicht auch die Polizei?«

»Aber dort in der Gemeinde können sie die Sache doch nicht so auf sich beruhen lassen«, meinte Indrek.

»Dazu sind sie ja da«, meinte Otstavel. »Wie ich höre, ist der Alte da eben allein, laß ihn sich doch auch mal ein wenig anstrengen. Mich hat er seinerzeit genügend geschunden – ich war ja damals dein Nachfolger bei ihm – und nun gebe ich ihm eben Arbeit, damit er doch merkt, was für ein Kerl ich bin, ich, der Otstavel.« Und er lachte behaglich im Bewußtsein seiner Machtbefugnisse.

»Aber zahlen werde ich doch immer müssen«, sagte Indrek.

»So? Also du möchtest gerne zahlen? Schön! Wir werden das Geld empfangen und es an die Gemeinde weiterleiten nebst einer Erklärung, im Briefe Nummer so und so, von diesem und diesem Datum, sei ein Mißverständnis unterlaufen, indem der Indrek Paas dort und dort seinen Wohnsitz habe und nunmehr seine Steuer entrichtet hätte«, erklärte Otstavel.

»Aber augenblicklich habe ich kein Geld«, sagte Indrek.

»Nun siehst du, da habe ich doch recht gehabt«, lachte Otstavel gutmütig, »wenn das nächste Schreiben kommt, dann können wir ja weiter sehen, was wir machen. Und bis dahin hat der Schreiber dort zu tun, und du gewinnst Zeit, Geld zu sparen.«

Ach ja, Otstavel hatte natürlich recht, und doch wollte sein Vorgehen Indrek ganz und gar nicht gefallen, so daß er machte, daß er fortkam, als sei er nur gekommen, um möglichst schnell wieder zu gehen.

Aber als er dann wieder auf der Straße stand, verspürte er plötzlich Hunger, als sei seine Mittagsstunde herangekommen. Doch eine solche Stunde gab es für ihn eigentlich gar nicht, denn eine regelrechte Mittagsmahlzeit aß er eigentlich nur höchst selten. Hatte er sich doch dem Dienste an der Öffentlichkeit und der Gemeinschaft ergeben, und das untergrub seine wirtschaftliche Position völlig. Er las Bücher, aber damit verdiente er nicht einen Groschen. Er besuchte Versammlungen, aber auch dafür erhielt er keine Vergütung, mochte es sich nun um öffentliche oder geheime Versammlungen handeln. Im Gegenteil – hier hieß es so manches Mal sogar noch zuzahlen, wenn mal ein Eintrittsgeld vorgesehen war oder irgendeine Sammlung veranstaltet wurde. Auch seine Hoffnung, seine Beziehungen zur Redaktion des »Volksfreund« wirtschaftlich nutzbringend zu gestalten, erfüllte sich nicht, denn er konnte die große Kunst, in seinen Beiträgen die Hauptsache zwischen die Zeilen zu verlegen, so daß der Leser dort etwas finden kann, was der Zensor vergeblich gesucht hat, auf keine Weise lernen. Vielmehr erging es ihm mit seinen Aufsätzen immer so, daß entweder schon der Zensor an ihnen etwas auszusetzen hatte und ihm das Beste mit dem Rotstift herausstrich, oder wenn dem Zensor nichts Besonderes an ihnen auffiel, es auch den Lesern des Blattes ebenso erging. So war denn die Redaktion der Ansicht, daß diese Artikel höchstens gratis in Frage kämen, als Lückenbüßer sozusagen, um einem jungen Manne, der berühmt werden möchte, entgegenzukommen.

Im Speisehaus wurde Indrek von der Wirtin wie ein alter Bekannter empfangen, denn sie liebte es, sich mit ihm über Herrn Bystryi zu unterhalten. Sie versicherte stets, Indrek habe Herrn Bystryis Sympathie, denn dieser bringe das Gespräch immer wieder auf ihn. Und wie er das Gespräch mit der Wirtin auf Indrek brachte, so brachte sie mit diesem das Gespräch auf Herrn Bystryi. Sie erzählte, was für ein Mann er sei, was für Speisen er bevorzuge und wie lange er hier schon speise.

»Und können Sie das verstehen«, verwunderte sich die Wirtin, »ein Mensch kommt jahrelang regelmäßig, und dann verschwindet er plötzlich, läßt sich heute nicht blicken, morgen nicht und auch nicht übermorgen, so daß man schon anfängt, in der Zeitung nach seiner Todesanzeige zu suchen. Das sind wohl diese unruhigen Zeiten, die die Menschen so verrückt machen.«

Die Wirtin ging ab und zu, aber wenn sie einen ruhigen Augenblick fand, kam sie immer wieder zu Indrek zurück, um ihr Gespräch fortzusetzen. Ihr Mops trabte getreulich hinter ihr her, aber wenn sich Zeit fand, dann legte er sich unter dem Tisch nieder und drückte seine schnaufende Schnauze auf Indreks Fuß. Das sei ein großer Freundschaftsbeweis, meinte die Wirtin.

»Einfach komisch, man könnte geradezu abergläubisch werden«, setzte die Wirtin ihr Gespräch, über das ganze runde Gesicht lächelnd, mit jugendlich blitzenden Augen fort, »sobald ich anfange, in der Zeitung nach der Todesanzeige zu suchen, erscheint er sogleich, als habe ihn jemand zur Tür hereingeschoben. Sonderbar, nicht? wenn man einen Menschen mit einer Todesanzeige an den Mittagstisch locken kann.«

Und um Indrek zu beweisen, welch einen Einfluß diese Lektüre auf Herrn Bystryi habe, begann die Wirtin alsbald wieder die Todesanzeigen zu studieren.

»Sie werden schon sehen, gleich ist er da«, versicherte sie, ihre Lektüre sorgfältig fortsetzend. Das konnte so fünfzehn, zwanzig Minuten gewährt haben, als der Hund plötzlich seine Schnauze von Indreks Fuß erhob und lauschte, um dann mit seiner heiseren Stimme freudig aufzubellen und nach der Tür zu watscheln, als beeile er sich, einen alten Bekannten zu begrüßen.

»Er kommt!« rief die Wirtin triumphierend, »der Hund weiß Bescheid, der bellt nicht ohne Grund.«

Aber nachdem der Hund eine Weile an der Tür gestanden hatte, kehrte er leise winselnd zu seiner Herrin zurück.

»Er ist vorübergegangen«, erklärte die Wirtin. »In letzter Zeit treibt er es häufig so: kommt, macht an der Tür halt, überlegt ein wenig und geht dann weiter. So auch heute. Einmal fragte ich ihn, was das zu bedeuten habe, worauf er erwiderte: ich mache bloß die Probe, ob ich vorübergehen kann, wenn ich will; ob ich wollen kann, wenn ich wollen will; ob ich frei bin, darum. Der Mensch muß immer wieder die Probe darauf machen, ob er frei ist.«

Die Wirtin redete noch, als der Hund aufs neue anschlug und eilig abermals an die Tür trippelte, die sich im selben Moment öffnete, um Herrn Bystryi einzulassen – knickebeinig, vornübergebeugt, die langen Arme am Körper herabhängend, den großen Kopf mit den blitzend bebrillten Augen unter dem dunklen Hute tief gesenkt, die Lippen inmitten des grauen Bartes gleichsam jugendfrisch gerötet.

»Wiederum sind Sie vorhin vorübergegangen«, lachte die Wirtin anstatt der Begrüßung Herrn Bystryi entgegen und erhob sich, um ihm sein Mittagsbrot zu holen. Er schien ihre Worte überhaupt nicht gehört zu haben, nahm seine Brille ab, putzte sie, trat dann an Indrek heran, reichte ihm die Hand und sagte:

»Damit ich es nicht vergesse: mein Freund Wiljasoo möchte Ihre Bekanntschaft machen. Er gibt Bücher heraus und hofft auf Ihre Mitarbeit. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, ihn noch heute aufzusuchen.«

Das bedeutete für Indrek eine solche Freudennachricht, daß er Herrn Bystryi zur Gesellschaft sogleich ein zweites Mal begann Mittag zu essen.

»Die Weiber haben es leicht im Leben«, meinte nun der alte Herr, »eigentlich kapieren sie nichts, und wenn schon mal, dann auf ihre Weise. Diese Frau hier ist ein gebildeter, erfahrener Mensch, hat einige Jahrzehnte hindurch andere Leute gefüttert und keiner von ihnen hätte deswegen vorzeitig das Zeitliche gesegnet. Nur die Hunde, die halten es nicht aus, werden zu fett und sterben dann vor der Zeit. Der gegenwärtige ist schon der dritte im Laufe von achtzehn Jahren, aber auch seine Tage sind schon gezählt. Ihr seliger Mann – sie ist ja Witwe – ist vielleicht auch an Verfettung gestorben, gleichwie die Hunde, denn den Weibern ist ja alles eins – Mann oder Hund.«

»Was erzählen Sie einem jungen Menschen hier für Geschichten über Weiber und Hunde«, sagte die Wirtin, die Suppe auftragend, scherzend.

»Herr Bystryi redet von Männern und Hunden, nicht von Weibern und Hunden«, berichtigte Indrek.

»Ich sage nur«, erklärte der Alte, »daß Sie eine gebildete, lebenskluge Person sind, die mit ihren Speisen noch niemand zum Tode gebracht hat, die aber nichtsdestoweniger die Menschen auch nicht im entferntesten verstehen kann. Denn ...«

»Wieso nicht verstehen, wenn ich sie zu füttern weiß«, unterbrach ihn die Wirtin. »Dann verstehe ich sie doch.«

»Keineswegs«, blieb der alte Herr bei seiner Behauptung. »Ich gehe an Ihrer Tür vorüber, ganz ernstlich vorüber, aber Sie lachen, meinen, ich machte bloß Spaß.«

»Natürlich Spaß«, versetzte die Wirtin, »veranlassen bloß den armen Hund zweimal an die Tür zu laufen, das ist alles, denn zurück kommen Sie doch und herein auch.«

»Das ist es eben, was Sie nicht verstehen«, erklärte Herr Bystryi. »Ich komme doch nur deswegen zurück und trete ein, weil ich in mir die Kraft gefunden habe vorüberzugehen. Wenn einmal der Tag kommen sollte, an dem ich das nicht mehr vermag, dann werden Sie schon sehen, daß ich auch nicht einen Fuß mehr über Ihre Schwelle setze. Ich komme einfach nicht, und damit basta. Ich will eben nichts mehr gezwungenermaßen tun. Wenigstens auf meine alten Tage möchte ich frei und selbständig sein, ein Selbstherrscher sozusagen. Die anderen kämpfen gegen die Selbstherrschaft, ich bin für sie.«

»Ihre Freiheit und Selbstherrschaft hat sogleich ein Ende, wenn ich anfange die Todesanzeigen zu studieren«, lachte die Wirtin.

Aber nun geschah etwas gänzlich Unerwartetes, wenigstens in den Augen der Wirtin. Herr Bystryi legte nämlich den Löffel, den er jetzt gerade in den Mund schieben wollte, mit dem Suppeninhalt auf den Tisch, erhob sich, nahm vom Haken seinen Mantel, fuhr in diesen hinein, setzte seinen Hut auf und ging. An der Türe wandte er sich um und sagte zur Wirtin:

»Nun lesen Sie Ihre Todesanzeigen und warten Sie, bis ich wiederkomme. Das sage ich Ihnen in Zeugengegenwart.« Lüftete den Hut und ging, den Kopf gesenkt, die langen Arme am Körper niederbaumelnd, die Knie eingeknickt.

»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte die Wirtin Indrek, den Tränen nahe. »Achtzehn Jahre erscheint dieser Mensch Tag für Tag, wie er es ja selbst bestätigt, und nun kommt er mir so, und das noch vor Fremden. Als hätte er den Verstand verloren.«

»Ja, in der Tat«, murmelte Indrek teilnehmend.

»Sie können das natürlich nicht wissen, aber wir haben doch alle diese Jahre hindurch wie Eheleute gelebt, nur daß wir keine gemeinsame Wohnung hatten und das Lager nicht miteinander teilten«, fuhr die Wirtin bekümmert fort. »Das natürlich nicht, denn wir sind ja nicht getraut. Und ohne das mag ich solche Sachen nicht, ich bin nun mal so. Und nun wirft er den Löffel mit der Suppe auf den Tisch, als seien wir wirklich verheiratet. Er will beweisen, daß er frei sei. Aber Herrgott nochmal! Das ist er ja doch, er soll nur zur rechten Zeit zum Mittag kommen, nur das. Wenn ich ihn nur täglich sehen kann, damit ich weiß, daß alles in Ordnung ist. Wenn er zur Tür hereintritt, dann denke ich: Gott sei Dank, noch ist nichts verloren, er lebt und ist gesund, will essen. Und sagen Sie doch bitte selbst, was fängt ein alter Mensch mit der Freiheit an, wohin mit ihr? Meine Töchter versichern mir alle Tage – ach Mutter, du brauchst ja gar keine Freiheit, du bist ja schon alt, aber wir, wir sind jung, bei uns ist das eine andere Sache. Aber Herr Bystryi ist ja noch älter als ich, und der beansprucht nun plötzlich für sich solch eine Freiheit, daß er nicht einmal mehr zu Mittag zu speisen braucht.«

Die Wirtin mußte gehen, denn im Nebenzimmer klapperte man erbarmungslos mit den Tellern. Aber noch im Gehen wandte sie sich um und sagte in drohendem Tone:

»Aber das schenke ich ihm nicht, das mit dem Suppenlöffel, meine ich. Nicht einmal verheiratet und schmeißt den Löffel mir nichts, dir nichts einfach auf den Tisch. Alle Tage will ich nun die Todesanzeigen studieren, das wird er schon merken. Der kommt sicher wieder.«

Und dabei versuchte sie ein zorniges Gesicht zu machen, aber dabei war ihr das Weinen näher als das Lachen.

»Gewiß, er kommt sicherlich«, wiederholte Indrek tröstend, und fuhr in seinen Mantel, um sich zum Verleger Wiljasoo zu begeben.

* * *

Wiljasoos Kontor befand sich im zweiten Stock eines altmodischen Steinhauses. Der Weg dahin führte durch ein feuchtes Vorhaus, über eine dämmrige Treppe und einen selbst am hellen Tage nahezu finsteren Korridor. Als Indrek anklopfte, erfolgte von drinnen die Antwort:

»Herein, herein! Die Tür ist ja offen.«

Indrek versuchte die Tür zu öffnen, aber sie ließ sich nur eine schmale Spalte weit aufschieben.

»Stärker schieben«, wurde von drinnen kommandiert, und als Indrek diesem Befehl Folge leistete, gelang es ihm schließlich mit einiger Mühe sich seitlich ins Zimmer zu schieben, wo er denn alsbald feststellte, daß es Bücher waren, die das Öffnen der Tür behinderten – Bücher, die überall aufgestapelt waren, auf Regalen, auf Tischen und Stühlen, auf dem Fensterbrett, auf dem Diwan, der anscheinend als Nachtlager diente, denn an seinem einen Ende lag eine zusammengerollte gestreifte Decke, und ein mit einem fettigen Überzug versehenes Kissen –, auf dem Fußboden, so daß Indrek ratlos stehenblieb, da er nicht wußte, wohin den Fuß setzen.

»Was klopfen Sie denn, wenn die Tür doch offen ist«, sagte der Verleger, der an einem Tisch, zwischen Bücherstapeln vergraben, Korrektur las. »Nehmen Sie Platz, gleich bin ich fertig, die Druckerei wartet nicht.«

Indrek blickte sich nach einer Sitzgelegenheit um. Der einzige in Frage kommende Stuhl stand hinter einem hohen Bücherstapel und war überdies ebenfalls mit Büchern beladen.

»Schieben Sie die Bücher beiseite, auf den Fußboden meinetwegen, ihnen ist es doch gleich, wo sie liegen«, belehrte der Verleger Indrek, der es versuchte, die goldene Mittelstraße zu wählen, indem er sich auf dem Diwan niederließ, so daß der dort aufgetürmte Bücherstapel umstürzte, die gestreifte Decke und das Kissen unter sich begrabend.

»Sie hegen eine allzugroße Ehrfurcht vor Büchern«, schmunzelte Wiljasoo, als er bemerkte, mit welcher Vorsicht Indrek bestrebt war, für seine Füße Platz zu schaffen, denn auch hier waren ihm die Bücher im Wege. Und dabei rümpfte er sonderbar die Nase, als wolle er seiner Verachtung Ausdruck geben oder spüre einen üblen Geruch von den Büchern. Und dieses Nasenrümpfen machte der ganze rote Backenbart mit, der an den Ohren in die bauschige Frisur überging, den ganzen übermäßig großen Kopf in einen richtigen Struwelpeter verwandelnd. Der Rock von unbestimmter Farbe mit aufgeklapptem Kragen schien viel zu weit und schlotterte wie fremd um den Körper; und wie sich später herausstellte, war er nicht nur zu weit, sondern auch zu lang. Und doch war das alles höchst zweckmäßig eingerichtet: der aufgeschlagene Kragen sollte dem Barte behilflich sein, den nackten Hals und die Kehle zu verbergen, wo dem Hemde ein Knopf fehlte, und der breite Rock sollte es ermöglichen, im Winter etwas Dickeres und Wärmeres unterzuziehen und auf diese Weise eines Mantels überhaupt entraten zu können.

»Sie sind also Paas«, sagte der Verleger, nachdem er seine Korrektur beendet hatte. »Ich habe Sie in der Redaktion des ›Volksfreund‹ gesehen. Ich bat dort, Ihnen Nachricht zu geben ...«

»Herr Bystryi hat mich hierher gewiesen«, unterbrach ihn Indrek.

»Um so besser«, versetzte der Verleger. »Das ist mein Freund. Ich bin Wiljasoo, Pseudonym Marienland, Sorgenland, Bitterland und so weiter. Wie ich höre, läßt der Zensor ihre Sachen im ›Volksfreund‹ nicht passieren. Vielleicht wollen Sie sie dann mir geben, für ein Buch, vielleicht geht das durch.«

»Wie sollte es denn als Buch durchgehen, wenn es in der Zeitung verboten ist?« fragte Indrek zweifelnd.

»Natürlich wird es nicht durchgehen, aber versuchen kann man es immerhin«, sagte Wiljasoo, die Nase rümpfend, so daß sein Bart zitterte. »Ich verlege nur solche Sachen, die verboten sind oder sonst aus einem Grunde anderwärts abgelehnt werden, darauf kommt es mir gerade an. Denn zahlen kann ich ja nichts Nennenswertes, nur mit den von mir verlegten Werken. Davon können Sie sich selbst hier vom Fußboden auswählen, was Ihnen gefällt. Für Mitarbeiter gelten günstige Vorzugspreise. Und was den Zensor anlangt, so verhält sich mit ihm die Sache so, daß er morgen erlaubt, was er heute verbietet, oder auch umgekehrt. Je nach Laune, Vorschrift oder Verhältnissen. Das ist mir bekannt, denn ich schreibe selbst auch, verlege und schreibe. Daher auch die vielen Pseudonyme, denn der Leser mag nicht immer Aufsätze ein und desselben Verfassers aufgetischt erhalten, er liebt Abwechslung. Was werden Sie sich für ein Pseudonym wählen? Paas geht nicht, klingt nicht scharf und bitter genug«, lachte Wiljasoo, so daß inmitten seines zerwühlten Bartes zwei Reihen gelblicher Zähne aufleuchteten. »Mir geht es ja ebenso«, fuhr er fort. »Wiljasoo! Ist das ein Name? Was kann er einem modernen Menschen sagen? Einem Fabrikarbeiter? Der will einen Namen wie ein Prügel, wie scharfer Senf, einen Namen, der einem den Atem verschlägt, in den Augen brennt. Bei solch einem saftigen Namen sagt der Leser sofort: das ist das Wahre, nur der Zensor, dieser Galgenvogel, macht Schwierigkeiten. Und so liest mancher mit Interesse auch den reinen Kaff, nur wegen des saftigen Verfassernamens.«

Wiljasoo lachte wiederum, rümpfte die Nase und fuhr dann fort:

»Also welchen Namen wählen Sie sich? Aber damit hat es ja noch Zeit, darüber reden wir noch. Wann könnten Sie mir das Manuskript bringen? Ich könnte es gleich brauchen. Die Überschriften ändern wir natürlich zeitgemäß. Und was das Honorar anlangt, so ist es damit, wie ich schon sagte: wählen Sie sich hier vom Fußboden etwas nach Bedarf aus. Und hohe Prozente! Ach ja, haben Sie keine Bekannten, denen Sie Bücher verkaufen könnten, dann wäre Ihr Honorar gesichert, Sie könnten sogar Vorschuß haben. Ein gutes Honorar, denn, wie gesagt, ich berechne Ihnen hohe Prozente. Was? Sie haben keine?«

»Ein paar Bekannte nur, aber die kommen kaum in Frage, dürften kaum Interesse für Bücher haben«, meinte Indrek.

»Wer sind das? Ihr Beruf? Ihr Gehalt?« forschte Wiljasoo eifrig.

»Einer ist in einem Laden angestellt, der zweite in einer Apotheke, der dritte in der Polizei ...«

»Mit dem Laden und der Apotheke ist nichts anzufangen. Aber die Polizei, das ist etwas anderes. Die interessiert sich für uns, liest uns gerne, sie haben sich sogar manchmal hier bei mir mit Proben versorgt. Schnüffeln nach revolutionärer Literatur, nach Büchern, die geeignet sein könnten, die Grundlagen des Staates zu unterwühlen, und unterwühlen diese damit selbst. Denn bedenken Sie doch mal bloß, was geschehen muß, wenn die Polizei Jahr für Jahr mit einer derartigen Sorgfalt die revolutionäre Literatur studiert, gratis natürlich, denn die Polizei hat alles gratis – Theater, Bücher, ja sogar Freudenhäuser. Sollte diese revolutionäre Literatur da nicht ein wenig abfärben? Ich meine doch wohl. Die Engländer haben nur durch Lesen den Burenkrieg angezettelt, wir machen damit Revolution. Bis heute hat die Polizei also die revolutionäre Literatur gratis zu lesen bekommet. Wir wollen nun den Versuch machen, sie zahlen zu lassen, denn hier handelt es sich doch um kein Bordell, das der Polizei gratis offenstünde. Nehmen Sie doch schon gleich heute einige Bücher mit und bringen Sie sie Ihrem Polizeifreunde. Damit wäre also die Honorarfrage erledigt. Ich bitte nur um das Manuskript! Mit dem Zensor werde ich mich schon auseinandersetzen, da seien Sie unbesorgt. Ihm muß man etwas von jungen Mädchen vorschwatzen, wenn man will, daß er etwas Saftigeres durchläßt, denn schließlich ist er doch auch Polizei, Geistespolizei sozusagen. Aber die hat das Freudenhaus natürlich nicht gratis. Nein. Und darum macht es ihr Spaß, wenigstens gratis von jungen Mädchen reden zu können. Und da bin ich gerade der rechte Mann – rotbärtig und Junggeselle. Mir glaubt er, nimmt mich ernst, mich und meine jungen Mädchen. Passen Sie nur auf, sogar Ihr ›Eichhörnchen‹ werden wir noch durchbringen, mitten durch die jungen Mädchen. Also nur der Titel, die Überschrift, die muß geändert werden. Das ist die Hauptsache. Der Titel ist in der Literatur Stern und Achselklappe, Band und Ehrenzeichen, Schwert und Revolver ...«

Als Indrek Wiljasoo verließ, trug er einen dicken Packen Bücher unter dem Arm, die er in sein Honorar eintauschen sollte. Aber Otstavel, an den er sich als ersten wandte, sagte ihm ohne Umschweife:

»Komm du mir nur nicht mit diesem Kaff. Mit dem ist unser ganzes Lokal angefüllt, alles um Gottes Lohn, wozu da noch Geld dafür wegwerfen?«

Diese Antwort fuhr Indrek dermaßen in die Glieder, daß er die Bücher nun auch niemand anderem mehr anzubieten wagte. Und so wurde aus dem Berge seiner Freude ein Mäuschen der Enttäuschung, und sein doppeltes Mittagsmahl zu einer bösen Unterhöhlung seiner Wirtschaftslage.


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