Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

»Na, Käba, also du streikst auch wieder?« sagte der Krämer zu einem Arbeiter in mittleren Jahren, als Indrek gerade den Laden betrat.

»Nein, heute sind wir wieder an die Arbeit gegangen«, versetzte Käba.

»Was ist das nun für eine Spielerei«, sagte der Krämer ärgerlich. »Heute gestreikt, morgen wieder an die Arbeit. Wenn ihr schon mal streikt, dann doch gehörig, sonst mag der Teufel aus euch klug werden. So weiß man ja überhaupt nicht, ob ihr noch irgendwas an Lohn ausstehen habt, und die Rechnungen wollen doch beglichen werden. Auch du bist schon wieder mit einem ganz hübschen Sümmchen in der Kreide.« Und der Krämer wühlte in einem Päckchen blauer Heftchen, bis er das richtige herausgefunden und aufgeschlagen hatte, worauf er fortfuhr: »Na eben, deine Rechnung droht schon zu groß zu werden. Ich habe deiner Frau schon neulich gesagt, daß, wenn du streikst und keinen Lohn mehr in Aussicht hast, auch ich streiken müsse. Denn wie lange soll ich schließlich allein durchhalten, wenn alles streikt. Nicht wahr?«

Aber Käba gab auf diese heikle Frage keine Antwort, und so mußte man ja wohl annehmen, daß er sich der Meinung des Krämers nicht anschließe. Denn wie zum Teufel hätte er wohl seine Kinder füttern sollen, wenn auch der Krämer sich einfallen lassen sollte, zu streiken. Er, Käba, streikt doch genau genommen nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Krämer. Man könnte es als eine Art Arbeitsteilung zwischen den beiden ansehen, denn für den Freiheitskampf an sich ist der Krämer natürlich auch, aber eins ist ihm unklar: was wir mit den Kosaken und Fabrikanten zu tun hätten? Was könne man überhaupt gegen alle anderen Leute haben, ausgenommen die Gutsbesitzer? Das seien doch unsere Kosaken, unsere Fabrikanten, unsere Gendarmen, unser Zar. Davon war der Krämer felsenfest überzeugt. Und darum versicherte er immer wieder, die Arbeiter möchten mit ihren Streiks herumspielen, soviel ihr Herz begehre, aber wenn es mal wirklich Ernst werden sollte, dann könne der sich nur gegen die Gutsbesitzer richten. Und so hielt der Krämer auch von Käbas Fabrikstreiks nicht allzuviel. Das wußte Käba, und darum ließ er sich auch gar nicht erst mit dem Krämer auf eine Auseinandersetzung über die Arbeitsteilung zwischen ihm und dem Krämer ein, sondern versicherte bloß erneut:

»Nein, heute arbeiten wir schon, und morgen wird auch gearbeitet, so daß der Lohn ...«

»Nun, dann will ich auch nicht streiken«, unterbrach ihn der Krämer. »Hast du was zu bekommen, bleibe auch ich nicht ohne Bezahlung, ich weiß, du bist ein ordentlicher Mensch.«

»Nun, natürlich, da kannst du sicher sein. Aber bei uns ist das ja nun schon mal so, daß, wer nur ein wenig Grips hat, mit dem wird abgerechnet, und er kann sich zum Teufel scheren. Dafür sorgen schon die Spitzel, die Schinder, die haben ihre Nase ja überall.«

Indrek hätte nun ja wohl gehen können, denn er hatte alle seine kleinen Einkäufe beisammen. Aber der Krämer war der Ansicht, daß sein Unternehmen gewissermaßen eine öffentliche Institution sei und seine Tätigkeit in gewissem Sinne »Kulturarbeit« und er selbst daher auch durchaus als ein »Kulturmensch« anzusehen sei, und darum wollte er Indrek nicht so ohne weiteres gehen lassen, wünschte vielmehr, daß auch er seine Meinung zum Ausdruck bringen solle. War hier schon mal eine öffentliche Institution, dann solle hier auch jeder offen seine Meinung sagen, damit es richtig »kulturell« zugehe. Darum wandte sich der Krämer an Indrek, als dieser gerade, sein Päckchen in der Linken, mit der Rechten die Tür öffnen wollte, indem er in aufmunterndem Tone fragte:

»Nun, junger Herr, wen nehmen wir beide aufs Korn, wenn es losgehen sollte, wir haben ja weder einen Vorgesetzten noch einen Fabrikanten?«

»Laßt es nur mal erst losgehen«, meinte Indrek lächelnd, »dann wollen wir schon sehen.«

»Sehr richtig«, pflichtete der Krämer Indrek bei, »laß es nur erst losgehen ...«

»Und losgehen wird es«, versicherte Käba. »Bei uns in der Fabrik heißt es alle Tage: ›Jungens, Genossen, haltet euch bereit, nun legen wir bald los.‹«

Aber in der Redaktion des »Volksfreund« war man lange nicht so gut auf dem laufenden. Freilich, man meinte nicht mehr: »wollen wir mal sehen, was die morgigen Residenzblätter bringen«, sondern versicherte bloß kurz: »es gährt, es gährt«, aber das klang so unbestimmt, daß ein jeder darunter verstehen konnte, was er mochte. Und mit eben solch einer unbestimmten Botschaft kam auch Kristi einmal von einer geheimen Versammlung, indem sie in höchster Erregung hervorsprudelte: »jetzt geht es los«, ohne daß sie vermocht hätte zu sagen, was denn eigentlich losgehen würde. Nur so viel wußte sie zur Erklärung hinzuzufügen, daß irgendein Abgesandter aus Petersburg eingetroffen sei und die Sache daher schon ihre Richtigkeit haben werde. Aber das sei ein tiefes Geheimnis, das solle Indrek im Auge behalten.

»Daß es nun ernst wird«, fuhr Kristi fort, »läßt sich schon daraus entnehmen, daß der Vater überhaupt nicht mehr arbeitet, sondern bloß noch herumspaziert und überhaupt kein Wort mehr redet, sondern bloß noch vor sich hin brummt. Das ist immer so: wenn die Sache ernst wird, dann redet er kein Wort mehr mit mir und der Mutter, sondern brummelt bloß noch so vor sich hin.«

Inzwischen nahmen die Streiks, Unruhen, Ausschreitungen, Widersetzlichkeiten, Verhaftungen und Brandstiftungen einen immer größeren Umfang an, ebenso aber auch die Meetings, Reden, Kongresse, Versammlungen, Resolutionen, Losungen, ja sogar die Forderungen. Ja, sogar die Forderungen, so sonderbar das erscheinen wollte! Denn bis vor kurzem noch wäre das etwas ganz Unerhörtes gewesen. Aber nun schien der Geduldsfaden bei allen bis aufs äußerste angespannt, und keiner konnte wissen, was wohl geschehen würde, wenn jemand an diesen Faden rühren sollte, ob er reißen oder erklingen würde.

Und er erklang. Eines Tages erklang er laut und deutlich im Heulen der Fabriksirenen, das sich plötzlich hören ließ, erst eine, dann die zweite, die dritte, bis die ganze Stadt von heulenden Sirenen widerhallte und die Herzen Tausender erbeben ließ. Die Arbeiter erschienen in Gruppen auf den Straßen und zogen schweigend oder singend dahin. Niemand hatte bisher geahnt, daß es in der Stadt so viele Arbeiter gebe, und so blieb so mancher erstaunt, ja erschrocken stehen und blickte dem Zuge nach, der immer dichter, immer länger wurde, als wolle er überhaupt kein Ende mehr nehmen, alles niedertrampelnd, was sich ihm in den Weg zu stellen wagte. Wie ein mächtiger Strom wälzte sich diese Arbeiterarmee von Fabrik zu Fabrik, von Werkstube zu Werkstube, von Betrieb zu Betrieb, allüberall alle Räder, alle Hände stillegend. Nur die Füße blieben in Bewegung, die Straßen mit ihrem dumpfen Getrampel erfüllend.

Aber als die Dunkelheit hereinbrach – und die kam an diesem bewölkten Herbsttage früh –, da waren alle Sirenen verstummt, die großen und die kleinen, die hohen und die tiefen. In den Straßen hörte man bloß die Schritte der Passanten und scheues Flüstern, ohne daß man irgend etwas hätte unterscheiden können, denn das erste überraschende Anzeichen der Freiheit war pechschwarze Stockfinsternis. Aber in der Ferne hörte man das dumpfe trappelnde Marschieren der Arbeiterkolonnen, und dann splitterten irgendwo Fensterscheiben klirrend in Scherben, es krachte und knackte, und dunkle Gestalten huschten hin und wieder. Unter den Füßen knirschten die Scherben. Irgendwo knallte ein Schuß. Wo geschossen wurde, wer schoß und warum, das hätte niemand zu sagen gewußt, man fuhr bloß ein wenig zusammen und setzte dann seinen Weg fort. Soldaten! Kavalleristen! Haussuchungen! Keiner kehrte sich daran, denn alles wollte am Anbruch der Freiheit teilnehmen, die in dieser Finsternis geboren wurde. Es war wie ein allgemeiner Rausch, eine Betäubung, und man hätte am liebsten seinen nächsten besten Nachbar umfaßt, um sich so als Masse, von der Masse geschoben, durch die Straßen zu wälzen. Wenn der Marschtritt des Militärs, das Hufgeklapper der Kavalleristen sich näherte, flutete die Menge zurück, teilte sich, stolpernd, um sich stoßend, lachend, kreischend, wohl auch fluchend, aber abnehmen tat sie darum nicht, und das Gedränge nahm nur zu.

Indrek wäre vielleicht gar nicht ausgegangen, aber Kristi brannte geradezu darauf, an diesem ersten Freiheitsmarsch durch die dunklen Gassen teilzunehmen. Der Vater war schon gleich nach dem Mittag verschwunden, und die Mutter kam als Begleitung gar nicht in Frage. Nach langem Betteln erst erlaubte sie Kristi schließlich auszugehen, unter der Bedingung, daß Indrek sie begleite.

So wanderten die beiden denn einträchtig durch die stockfinsteren Straßen dahin, ihre Schritte nach dem Zentrum der Stadt richtend. Sie hielten sich nahe beieinander, als fürchteten sie, sich sonst zu verlieren. Und je mehr sie sich der Innenstadt näherten, desto enger rückten sie in dem zunehmenden Gedränge zusammen. Plötzlich hörte man sich näherndes Hufgeklapper. Die Menge machte halt, schwankte gleichsam hin und her, und man hörte flüstern: »Dragoner!« Und dann drängte sich alles Indrek und Kristi entgegen, denen es nur mit Mühe gelang kehrtzumachen und mit der Menge Schritt zu halten. Sie wurden auf den schmalen Bürgersteig gedrängt, eine enge, in irgendeinen Kellerraum führende Treppe hinabgeschoben, auf der sie sich niederkauerten, da das Klappern der Hufe inzwischen schon ganz nahe herangekommen war. So saßen sie im Finstern da, sich fest umschlungen haltend, als könne das sie irgendwie schützen. Aber als die Dragoner dann glücklich vorüber waren, erhoben sie sich, lachten und stiegen, sich noch fester umfaßt haltend, die Treppe empor, um dann ihre traumhafte Wanderung durch die dunklen Straßen fortzusetzen, bestrebt, möglichst leise aufzutreten, damit niemand sie hören möge. Aber bald gerieten sie abermals in einen Menschenstrom, der sie hin und her trug, über klirrende Glasscherben und allerlei rätselhafte, den unsicheren Schritt hemmende Gegenstände. Sie hörten von Demolierung und Plünderung reden, aber es kam ihnen gar nicht in den Sinn zu fragen, wer das täte, wo und warum das geschähe, vielmehr erschien es ihnen eigentlich ganz selbstverständlich, daß in dieser Finsternis und im ersten Rausche der jungen Freiheit derartige Dinge vor sich gingen, so daß die Straßen mit Glasscherben und allerlei Kram bedeckt waren, der einen nur mit größter Vorsicht einen Fuß vor den andern setzen ließ.

Plötzlich überzog den Domberg und die hohen Türme ein gespenstischer Schein, so daß alles aufblickte. Dieser helle Schein zitterte, schwankte, als drohe er jeden Augenblick zu erlöschen, um dann wieder aufzuflackern, immer heller sich ausbreitend und den ganzen Himmel umfassend und überziehend, gegen den die dunkle Wand der Häuser wie eine schwarze Silhouette dastand, deren Einzelheiten sich scharf gegen den flammenden Hintergrund abzeichneten. Die Menge, die sich plötzlich vom wallenden Schein dieses Flammenspiels übergossen sah, prallte gleichsam zurück und blickte erstaunt um sich und einander an.

»Es brennt!« rief jemand.

»Feuer, es brennt«, sagte Indrek leise zu Kristi.

»Ja, ein Feuerschaden«, kam es wie ein Echo von Kristis Lippen, und Indrek fühlte, wie sie am ganzen Körper zitterte, denn immer noch hielten sie sich eng umschlungen, als herrsche um sie immer noch Finsternis.

Aber gleich den andern erwachten nun auch sie aus der anfänglichen Betäubung, und als sie sich in der Menge nun wieder vorwärts zu schieben begannen, um festzustellen, woher denn eigentlich dieser helle Feuerschein komme, da erblickten sie eingeschlagene Scheiben, zertrümmerte Türen, Scherben, zerbrochene Fensterrahmen, zertretene Kisten und Kasten, zerrissene, beschmutzte Papiere und Stoffe und allerlei Kram, und sie erfaßten plötzlich, was eigentlich geschehen sei, und anstatt der Betäubung packte sie das Grauen. An einem offenen Platze angelangt, an dem einige alte Weiden standen und von wo die rauschenden, prasselnden Flammen der großen Feuersbrunst deutlich zu erblicken waren, sagte Kristi gleichsam für sich:

»Also so kommt die Freiheit.«

Als Indrek ohne zu erwidern bloß schweigend den Blick über die hohen Türme und Häuser gleiten ließ, die im Scheine der Flammen rot erglühten, rückte Kristi ihm noch näher und fragte, seine Hand berührend, gleichsam enttäuscht:

»Kommt die Freiheit immer so?«

»Ich weiß nicht«, versetzte Indrek, »ich sehe sie zum ersten Male kommen.«

Eine ganze Weile standen sie wie versunken nebeneinander da, ohne zu bemerken, was um sie vorging und gesprochen wurde. Endlich sagte Indrek:

»Daheim, in Wargamäe, traten wir in dunklen Herbstnächten immer vors Haus, um zu sehen, ob nicht irgendwo am Horizont ein Feuerschein zu erblicken sei. Und jedesmal, wenn dieses der Fall war, manchmal an zwei, drei Stellen an einem Abend, dann ging der Vater in die Hinterstube und betete.«

»Ihr Vater war also fromm?« fragte Kristi.

»Fromm und böse«, versetzte Indrek. »Und nun denke ich: wer mag wohl wegen dieses Feuerscheins beten? Er ist ja freilich groß, aber in Wargamäe wird er doch nicht zu sehen sein, so daß mein Vater seinetwegen nicht beten kann.«

Dann standen sie wieder eine Weile still nebeneinander, bis Indrek fortfuhr:

»Ja, mein Vater war böse, und alle meinten, das käme von seiner großen Frömmigkeit. Aber auch der, der heute dieses Feuer angelegt hat, muß ein böser Mensch sein. Ob er auch fromm sein mag? Das würde ich gerne wissen.«

»Glauben Sie, daß es irgendein Betbruder ist?« fragte Kristi erstaunt.

»Ich glaube nichts, ich frage bloß«, erwiderte Indrek. »Mich interessiert es, ob das alles aus großer Frömmigkeit kommt, das heißt aus dem Glauben, und wenn dem nicht so ist, was es dem Menschen nützt, daß er nicht fromm ist, wenn er doch böse bleibt? Mehr noch – was nützt die ganze Freiheit dem Menschen, wenn er dennoch böse bleibt? Mein Vater war auf Wargamäe freier, als ich es bis heute jemals gewesen bin, aber genützt hat es weder ihm noch uns jemals etwas. Und nun denke ich: ist es wirklich überall in der Welt so wie bei uns in Wargamäe? Gibt es wirklich nichts Besseres? Und wissen Sie was, Fräulein« – zum ersten Male redete Indrek Kristi mit Fräulein an –, »das Denken macht furchtbar traurig. Wäre ich nun allein und noch kleiner, dann setzte ich mich hier auf die Wurzel dieser Weide und würde vielleicht weinen, dann wäre mir leichter.«

Als Indrek schwieg und sich Kristi zuwandte, da erblickte er in ihren Augen Tränen.

»Es geht gleich vorüber«, sagte Kristi lächelnd, als sie Indreks Blick auf ihren Zügen ruhen fühlte. »Es vergeht, wie es gekommen.«

»Wir werden hier im Schein des Feuers und der argen Hitze ganz blödsinnig«, meinte Indrek, »machen wir besser, daß wir nach Hause kommen.«

»Ja, gehen wir heim«, erklärte sich auch Kristi mit Indreks Vorschlag einverstanden, und im Scheine der immer noch hoch gen Himmel schlagenden Flammen wandten sie sich zum Gehen, nicht ohne sich immer wieder nach der Feuersbrunst umzublicken, als täte es ihnen doch leid, von ihr zu scheiden, oder als wollten sie sich dieses Schauspiel für immer einprägen. Als dann der Feuerschein, allmählich immer matter werdend, hinter ihnen zurückblieb, da rückten sie wieder näher aneinander heran und schritten schweigend und gleichsam ergeben nebeneinander her.

»So ist es also«, sagte Kristi gedankenvoll.

»Ja, so ist es augenscheinlich«, bestätigte Indrek.


 << zurück weiter >>