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XII

Am nächsten Tage setzte in der Stadt eine allgemeine Wallfahrt ein, denn alles wollte sich die Folgen der nächtlichen Ereignisse mit eigenen Augen ansehen. Aus den entlegensten Vorstädten eilten die Leute herbei. Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Krüppel, Blinde und Taube zogen nach dem Inneren der Stadt, von wo man in der verflossenen Nacht die Flammen des großen Feuerschadens gen Himmel hatte lohen sehen und Schüsse hatte knallen hören. Wer sich früh genug aufgemacht hatte, kam noch zu rechter Zeit, um sich das Säubern und Aufräumen der Straßen mitansehen zu können, konnte noch mit eigenen Augen die Zeugen der greulichen nächtlichen Verwüstung in Augenschein nehmen, wer aber später kam, der hatte das Nachsehen, denn er fand nichts Ungewöhnliches mehr vor als eine Reihe mit Brettern verschlagener Fenster, die allenfalls ein gewisser geheimnisvoller Reiz umwitterte. Auch Indrek konnte nicht umhin, sich die Folgen seiner nächtlichen Erlebnisse anzusehen. Aber eines taten alle: sich über die nächtlichen Ereignisse aussprechen. Es hatte plötzlich den Anschein, als sei alle Welt bestens miteinander bekannt, ja wohl gar befreundet, denn alles unterhielt sich, tauschte seine Ansichten aus, fragte, erklärte; der Este radebrechte Russisch, der Deutsche Estnisch; es war, als seien alle von einem gemeinsamen großen Interesse erfaßt, das alle nationalen und ständischen Unterschiede verwischte, als hätte die Freiheit dieser einen finsteren Nacht eine Riesenarbeit geleistet, mit der bisher Jahrhunderte nicht fertiggeworden waren.

Nur die Kavalleristen, die unter dem prasselnden Klappern der schwerbeschlagenen Hufe ihrer Rosse durch die belebten Straßen zogen, nahmen an diesen allgemeinen Auseinandersetzungen nicht teil. O nein! Eher störten sie die Gespräche der anderen, indem sie sie immer wieder zum Weitergehen mahnten, als sei tatsächlich zu befürchten, ein Greis oder Jüngling, ein Bursche oder Mädel, ein Hut- oder Kokardenträger könne es sich einfallen lassen, das Einschlagen der Schaufenster auch am hellen Tage fortzusetzen.

»Nun sind die Burschen zur Stelle, das Gewehr über den Rücken, aber wo waren die Herren gestern abend, als geplündert wurde?« brummte ein altes Weib, auf die Reiter deutend.

»Gestern abend«, flüsterte eine andere Alte der ersten zu, sie gleichsam beschwichtigend, »sie selbst waren ja die Plünderer.«

»Was redest du da!« mischte sich nun eine dritte ins Gespräch. »Sie selbst sollten es gewesen sein? Wo hast du das her?«

»Ja, vorhin behauptete jemand hier, das selbst gesehen zu haben, der lange Alte da drüben hat es auch gehört. Denn wer sollte es sonst wohl gewesen sein, die Polizei hat ja ihre Finger überall. Natürlich sie selbst, um es dann dem Volke in die Schuhe zu schieben und sagen zu können: sieh mal, was die Kerle sich leisten, wenn man ihnen die Freiheit schenkt.«

Aber an der nächsten Straßenecke versicherte ein alter Mann seinem Nachbarn mit großer Bestimmtheit:

»Die Deutschen, sage ich Ihnen, natürlich die Deutschen. Jetzt spazieren sie umher und überzeugen sich, ob ihre Handlanger ganze Arbeit gemacht haben. Wer hätte so etwas denn sonst nötig? Doch nur sie. Um dann dem Kaiser sagen zu können: sieh mal, was die Esten und der kleine Mann alles losschießen, wenn man ihnen auch nur den kleinen Finger gibt. Jetzt ist ihre Suppe heiß genug, um sie dem Kaiser vorzusetzen. Hier, lieber Kaiser, löffle doch gefälligst dieses Süppchen aus, in das die Esten gespuckt haben. Und dann schickt man ihnen aus Petersburg natürlich Kosaken, soviel sie wollen, und die Sklaverei geht wieder an. Mir macht man nichts vor, ich kenne meine Leute, habe selbst auf dem Gute gefront.«

»Ja, den Burschen ist wohl nicht zu trauen«, meinte ein anderer, »die bringen alles fertig.«

Wiljasoo aber, den Indrek auf der Straße traf, rümpfte die Nase und erklärte, in seinen roten Bart schmunzelnd:

»Sehen Sie mal, ich habe doch recht behalten: meine Bücher will kein Kuckuck haben, aber die Branntweinläden und die Freudenhäuser, die Waffen- und die Kurzwarenläden, das ist eine andere Sache. Die Revolution beginnt immer mit Alkohol und Liebe, mit Mordwaffen und Schmuck.«

Nachdem die beiden sich die Verwüstungen der letzten Nacht genügend betrachtet und die Kommentare der vox populi zu den Ereignissen genügend angehört hatten, begaben sie sich in die Redaktion des »Volksfreund« in der Hoffnung, hier vielleicht nähere und zuverlässigere Auskünfte über die Lage zu erhalten. Aber schon auf der Treppe des Redaktionslokals ließ sich ein erbitterter Wortwechsel hören, aus dem geschlossen werden mußte, daß anscheinend auch hier durchaus keine Klarheit herrschte.

»Also nicht du, sondern die andern haben vor aller Augen die Schaufenster eingeschlagen und bei der Gelegenheit ein paar alte Schießprügel und Donnerbüchsen konfisziert«, sagte Sillamäe, das letzte Wort mit besonderer Ironie betonend.

»Warum denn gerade Donnerbüchsen und Schießprügel«, schrie Josua, seine wallende Mähne mit einem Schwung in den Nacken werfend.

»Warum?!« rief Sillamäe. »In den Läden gab es ja nichts Besseres. Oder glaubst du etwa, daß es da Winchester und Maschinengewehre gab? Schnellfeuerkanonen vielleicht? Aber demoliert mußte doch schon mal werden, damit doch jeder Galgenvogel sehen kann, wie das gemacht wird, wenn es dunkel ist und Freiheit herrscht, eine dunkle Freiheit sozusagen. Und so gingen eben die Fenster auch an ganz anderen Läden zum Teufel, und man versorgte sich dort mit Kriegsausrüstung – neuen Anzügen, Manschetten, Schlipsen, Stehkragen und so weiter, denn in den Krieg zieht man natürlich in Paradeuniform, nicht?«

»Hinterher ist es leicht, zu ironisieren«, sagte Josua, »aber würdest du nicht gefälligst zu sagen geruhen, was du denn an Stelle dessen getan hättest?«

»Ich hätte an Stelle dessen vielleicht gar nichts getan«, meinte Sillamäe.

»Natürlich, du hättest nichts getan«, beeilte sich nun Josua seinerseits zu ironisieren, »denn warum sollte ein Bourgeois von echtem Schrot und Korn überhaupt etwas tun.«

Und nun ging der Streit darüber los, wer der rechte Bourgeois und wer der rechte Revolutionär sei, Sillamäe oder Josua, und die Ereignisse der Nacht rückten ganz in den Hintergrund.

Als Indrek später mit seinem Schulkameraden, dem Polizeischreiber Otstavel, zusammenkam, meinte dieser, solch eine Revolution sei eine verteufelt feine Sache, wenn man nämlich keinen Laden besitze, der verwüstet oder ausgeplündert werden könne.

»Hast du gesehen, wie man mit den Freudenmädchen umgesprungen ist?« fragte er kichernd. »Fein! Was? Aber was die wohl mit der Revolution zu tun haben mögen, das würde ich wohl gerne wissen. Weiß Gott! Sie sind doch eigentlich nicht als Staatseigentum anzusehen, nicht wahr?«

Ach ja, da war so manches, was man nicht begreifen konnte, und darum disputierte man und stritt sich eben nach Noten mit unermüdlichem Eifer. Ja, es kam sogar vor, daß namentlich ältere Leute, die niemand fanden, dem sie ihre Weisheit hätten verzapfen können, mit sich selbst zu reden begannen. So konnte man am hellichten Tage, auf der Straße seines Weges gehend, jemanden plötzlich mißbilligend rufen hören: »Aber nein doch, das ist ja ganz unmöglich, kommt doch gar nicht in Frage«, oder ein andermal wiederum die mit großer Überzeugung vorgebrachte Behauptung vernehmen: »Aber natürlich, selbstverständlich, anders kann es ja doch gar nicht sein.« Sah man sich dann neugierig nach den Leuten um, die dort so eifrig disputierten, so erblickte man da niemanden als einen alten Mann, der mit den Händen fuchtelnd über die Welt zu Gericht saß.

Und dann nahmen auch wieder die geheimen Versammlungen ihren Fortgang, die freilich nach wie vor verboten waren, was aber niemanden hinderte zu tun, als seien sie erlaubt. Die Großen dieser Welt hatten gleichsam Gesicht und Gehör verloren, und kein Mensch kehrte sich mehr an ihre Worte. Wie erstarrt standen sie dem unaufhaltsamen Fluß der Ereignisse gegenüber. Die Tore der feuchten, dunklen Gefängniszellen taten sich auf und lieferten die Genossen wieder aus, die als Märtyrer der Freiheit im Triumph empfangen und auf den Händen durch die Straßen getragen wurden, auf den Händen eben jener Menge, die alle bisher für nichts geachtet hatten, und die doch so groß war, daß man beinahe hätte glauben mögen, die ganze Stadt jubele mit ihr, das ganze Land, das ganze Volk. Und doch fanden sich so viele Unglückliche, die auch nicht die geringste Freude empfanden, denn die große Freude der anderen betrübte sie.

Ja, es gab sogar solche, deren Herzen voll Ingrimm waren, als habe die jubelnde Menge gerade ihre Freude geraubt, um mit ihr zu prassen und zu prunken. Diese Leute waren der Meinung, daß es auf der Welt überhaupt nicht genügend Freude gebe, die für alle reiche, daß die Freude das Vorrecht einiger Weniger sei, das Privateigentum einzelner sozusagen, so daß die Freude der Menge also eine geraubte Freude sei, die sie wieder denen herauszugeben hätten, die das Monopol auf sie haben.

Die feiernde Menge wußte eben nicht, daß Gott in der Welt zu wenig Freude geschaffen hat, als daß sie für alle reichen würde, und darum kümmerte sie sich auch nicht um den Grimm der wenigen Auserwählten, sondern verpraßte jubelnd ihre Freude, als könne diese nie ein Ende nehmen. Und als die Arbeiter ihre befreiten Brüder begeistert auf den Händen in die Versammlung trugen, da wollte es auch Indrek scheinen, als könne die Freude nie ein Ende haben, als müsse sie ewig währen.

Aber der alte Herr Bystryi, den Indrek auf der Versammlung traf, war anderer Meinung, vielleicht weil die freudig bewegte Menge ihn in eine entfernte Ecke des Saales gedrängt hatte, wo er, klein wie er war, vermutlich nichts hätte sehen, wohl auch kaum hören können, wenn er nicht auf den Stuhl gestiegen wäre, auf den er zum Überfluß noch seine überfüllte Aktenmappe gelegt hatte, so daß er eigentlich auf dieser stand und so tatsächlich nun den ganzen Saal überblicken konnte. Da auch Indrek sich mehr im Hintergrunde gehalten hatte, weil es ihm scheinen wollte, daß er doch eigentlich nicht so viel Anrecht auf Freude hätte, wie Käba, Lohk, Josua oder die übrigen Anwesenden, so kam er nahe neben Herrn Bystryi zu stehen, der seinesteils keine eigentliche Freude empfinden konnte, vielmehr bloß gekommen war, an der Freude der andern teilzuhaben. Und so stand er denn weit hinter dem Rücken der übrigen – alt, grau, gebeugt, mit eingeknickten Knien, die Augen hinter den Brillengläsern versteckt, von Zeit zu Zeit die Hand ans Ohr hebend, um besser zu hören. Als er Indrek entdeckte, lächelte er und rief ihm über die Köpfe der Umstehenden zu:

»Haben sie ihnen schließlich doch Angst eingejagt, was?«

Da Indrek nicht recht verstand, was Bystryi eigentlich meinte, drängte er sich näher an ihn heran.

»Oder glauben Sie vielleicht, daß die Gefangenen befreit worden sind, ohne den Leuten Angst einzujagen?« fuhr Bystryi fort, als Indrek schon neben ihm stand und setzte dann hinzu: »Die Angst, das ist hier im Leben die Hauptsache, die Angst, die Sie selbst empfinden, und die sie anderen einjagen. Und nun die Frage: Wie können sie uns Angst machen? Für uns war das eine einfache Geschichte – wir demolierten, sengten und brannten, aber was sollen sie machen? Wir haben nichts zu verlieren als Leben und Gesundheit. Also, wenn sie uns bange machen wollen, dann müssen sie uns ans Leben oder die Gesundheit, nicht wahr? Einfacher ausgedrückt, sie müssen morden, sonst bleibt ihnen nichts übrig. Bis heute schreckten die Gefängnisse die Leute, nun zieht das nicht mehr. Und wenn wir erst so weit sind, daß auch der Tod uns keine Furcht mehr einflößt, dann ist der Sieg unser. Was meinen Sie, schreckt der Tod die Menschen noch?«

»Ich denke doch«, meinte Indrek nachdenklich.

»Dann ist nichts zu machen, dann haben sie leichtes Spiel«, sagte Herr Bystryi.

Aber fürs erste hatte noch niemand Furcht. Im Gegenteil, die allgemeine Freude der Menge war so überströmend, daß geschlossene Räume für sie zu eng wurden, und man daher beschloß, sich unter freiem Himmel zu versammeln. Für diese Versammlung wurde der nächste Sonntag ausersehen, um allen die Möglichkeit zu geben, an der allgemeinen Freude teilzuhaben: Arbeiter und Fabrikant, vornehm und gering, Schüler und Lehrer, Männer und Frauen, jung und alt, reich und arm. Alle, alle sollten sie der frohen Botschaft teilhaftig werden, die jene soeben dem dunklen Gefängnis entronnenen Märtyrer verkündeten:

Wir verkündigen euch einen neuen Glauben, der da lehrt: das Himmelreich soll auf die Erde herabgebracht werden, oder es gibt überhaupt kein Himmelreich. Wir erklären: das Himmelreich ist schon auf Erden, aber die Reichen haben es gierig an sich gerissen, haben daraus das Privateigentum einiger weniger gemacht. Das Himmelreich muß gerechter verteilt werden oder der Jüngste Tag bricht an. Das Himmelreich sollen die Armen untereinander aufteilen, nicht die Reichen, das ist unser Gesetz und die Propheten. Erbarmungsloser Kampf um das Himmelreich auf Erden, das ist unsere Losung, unser Schlachtruf. Kampf den Reichen und ihren Göttern! Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Und der Ohren waren viele, die diese Botschaft hören wollten, hier unter freiem Himmel, im Scheine der milden Herbstsonne. Sogar der Krämer Wesiroos war gekommen, den der Herrgott mit einem Bauch gesegnet hatte, der für längere Spaziergänge eigentlich etwas zu rund geraten war. Auch Indrek machte sich auf, in Begleitung Kristis, die heute behilflich sein sollte, Proklamationen zu verteilen. Aber das Haus verließen sie einzeln, um sich erst später an einem verabredeten Ort zu treffen. Aber diese Verabredung drohte sich zu zerschlagen, denn unterwegs traf Indrek den alten Herrn Bystryi, der ihn sogleich anhielt, auf ein Wort nur, wie er erklärte, Indrek am Rocksaum fassend.

»Was macht es Ihnen nun aus, junger Mann«, begann er, »wenn Sie sich ein wenig verspäten, um mit einem alten Manne ein paar Worte zu wechseln. Denn eins müssen Sie im Auge behalten: Alter ist eine ganz andere Sache als Jugend.«

Wenn Indrek nun annahm, daß der Alte ihm den Unterschied zwischen Alter und Jugend erläutern würde, so hatte er sich geirrt. Herr Bystryi begann vielmehr ihm ausführlich über einen Traum zu berichten, den er in der vergangenen Nacht gehabt hätte, von einem Urwald und einer Lichtung inmitten dieses Waldes und einem einzelnen hohen Baum inmitten dieser Lichtung. Nun sagen Sie mir doch, ich bitte Sie, wie kommt ein alter Mensch auf solch einen verrückten Traum, zumal wenn er sein Leben lang überhaupt nie einen Urwald gesehen hat? Auch in der Jugend nicht, niemals! Und nun plötzlich, mir nichts dir nichts – ein Urwald, eine Lichtung, ein hoher Baum. Und dann bemerke ich plötzlich, daß der Baum zu zittern beginnt, zu schwanken, sich zu neigen, zu stürzen, gerade auf mich. Ich erschrecke, stehe regungslos da, wie ein Kohlstrunk im gefrorenen Erdreich – ein Vergleich meiner seligen Mutter, der mir im Traume einfiel – und – ich erwache, während mir Schauder über den Leib laufen. Als ich mich dann im warmen Bett fand, unter der Decke, nicht im Urwalde, da mußte ich lachen, und dann mußte ich an meine Mutter denken, und darüber schlief ich wieder ein. Und dann träumte mir zum zweiten Male genau dasselbe, mit einer kleinen Variante nur, indem ich dieses Mal erstarrt dastand, wie ein Eiszapfen, nicht wie ein Kohlstrunk, nachdem ich noch eben weich und biegsam gewesen war wie Wachs. – Und dann endlich entdeckte ich die eigentliche Ursache dieses sonderbaren Traumes: ich hatte vergessen, meine Taschenuhr aufzuziehen. Verstehen Sie, sobald die Uhr ihr Ticken einstellte – die Uhr hängt bei mir an der Wand neben dem Bett und leistet mir Gesellschaft, denn andere Gesellschaft habe ich ja nun schon seit Jahrzehnten nicht mehr – ja, also, als die Uhr ihr Ticken einstellte, dann kam dieser Urwald mit der Lichtung und dem Baum, das heißt also die Einsamkeit und ich mitten darin, denn der Baum bin natürlich ich, so daß ich also im Traume zweimal starb, als stürzender Baum und als erstarrter Kohlstrunk oder gefrierender Eiszapfen. Mit einem Wort – ich stürzte mir selbst auf den Kopf. Darum, junger Mann, lassen Sie sich eins gesagt sein: tun und treiben Sie, was Sie wollen, aber seien Sie nie allein. Und dann noch eins: denken Sie was Sie wollen, aber denken Sie immer an jemand oder etwas anderes, nie an sich selbst. Verstehen Sie? Gewiß, auch das ist nackter Egoismus, ganz ebenso wie das Jagen nach der ewigen Seligkeit – denn die ewige Seligkeit, das ist überhaupt der krasseste Egoismus, der sich denken läßt – erlauben Sie, erlauben Sie, nur einen Moment noch! Das heißt also, etwas anderem oder einem anderen irgend etwas tun, oder auch nur von ihm denken, ist der reinste Egoismus, denn das macht dem Menschen selbst Freude, indem er denkt: sieh doch mal an, was für ein braver und anständiger Kerl ich doch bin, ich denke nicht an mich selbst, sondern an einen andern, und denke sogar noch gut von ihm. Diese innere Freude ist eben der reine Egoismus! Von einem anderen schlecht denken oder ihm etwas Böses antun, sei es auch nur einem Baum oder Stein, das ist selbstverständlich erst recht Egoismus. Aber auch Gutes denken oder tun ist Egoismus, wenn auch der andere etwas Gutes davon haben mag. Aber was hat ein anderer von meiner Seligkeit? Kann man die mit jemandem teilen? Natürlich nicht. Da hilft weder stehlen noch rauben oder morden, da hilft überhaupt gar nichts! Man kann den seligsten Menschen ermorden, seiner Seligkeit wird man deswegen noch lange nicht teilhaftig. Christus war selig, die Juden ermordeten ihn, aber was hatten sie davon? Darum, lieber junger Mann, hören Sie auf einen alten Mann, tun Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie Ihre Seligkeit in Frieden, denn die ist der allertollste Egoismus. Und, was ich sagen wollte ...«

Aber nun hielt Indrek es nicht mehr länger aus, denn er mußte gar zu deutlich an Kristi denken, wie diese an einer Straßenecke auf ihn wartet, die langen Arme ungeschlacht herabhängend, einen betrübten Zug um den großen Mund, der dadurch noch röter erscheinen will als gewöhnlich.

»Entschuldigen Sie schon, Herr Bystryi, aber ich muß nun Wohl gehen«, sagte er, indem er sich mit einem Ruck vom Griff des Alten befreite.

»Werden Sie auch reden?« fragte dieser.

»Nein, nur Proklamationen verteilen, das heißt ...«

»Nicht zu viel Proklamationen, nicht zu viel reden«, sagte Herr Bystryi, »denn auch damit ist es eigentlich nur auf der Seelen Seligkeit abgesehen, ganz wie im Bethaus oder in der Kirche, wo auch immerzu geredet wird und Proklamationen verteilt werden – Predigten und Gesangbuchlieder. Denn eins müssen Sie im Auge behalten, junger Mann ...«

Aber der junge Mann wollte nichts mehr im Auge behalten, sondern machte, daß er fortkam, als sei der Teufel ihm auf den Fersen.

»Also auf morgen«, rief der alte Herr ihm nach. »Sie kommen doch?«

»Ja, morgen«, rief Indrek sich umwendend.

»Zwischen fünf und sechs also!« rief der Alte, aber Antwort erhielt er nicht mehr. So drückte er denn seine dicke Mappe fester unter den Arm und setzte sich in der entgegengesetzten Richtung, die Indrek genommen, in Bewegung – vornüber gebeugt, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Knie eingeknickt.


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