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VII

Die Erlebnisse mit Tigapuu und dem Direktor blieben auf Indrek nicht ohne Einfluß. Sie hatten ihm einen tieferen Einblick in die Verhältnisse und Personen ermöglicht, in deren Mitte sich sein Leben nun abspielte.

Schon sehr bald konnte Indrek feststellen, daß er zu vereinsamen begann, indem er einerseits sich selbst vom Verkehr mit den Jungen, die Tigapuu zu Zuträgern und Verrätern gestempelt hatte, zurückzog, wenngleich er nicht völlig erfaßte, wieviel Wahrheit hinter diesen Beschuldigungen stecken mochte, andrerseits die Erfahrung machte, daß augenscheinlich viele seiner Kameraden ihn eben dieser verächtlichen Clique von Angebern zuzählten, denn jedesmal, wenn er sich harmlos einer in eifrige Gespräche vertieften Gruppe näherte, verstummte man und ging mit bedeutsamen Blicken auseinander. Im Ergebnis dieser Erfahrungen zog er sich immer mehr in sich selbst zurück und vertiefte sich in die Arbeit. Und die gab es für ihn tatsächlich so viel, daß er noch gar nicht einmal so recht erfaßt hatte, welche Hindernisse es hier zu überwinden galt. So verstrichen die Tage. Und als man allgemach dahinterkam, daß Indrek nicht zu fürchten sei, und begann, seine Gesellschaft zu suchen, da hatte er sich schon eine bessere Gesellschaft in Gestalt seiner Bücher geschaffen.

Hierbei war er in erster Linie von Herrn Koovi unterstützt worden, den er nach langem Zaudern schließlich doch aufgesucht hatte mit der Bitte, ihm bei seinen lateinischen Studien behilflich zu sein. Nur mit befangenem Herzklopfen pochte Indrek das erstemal an seine Tür.

»Wer ist da?« ließ sich eine schläfrige, verdrießliche Stimme vernehmen, und als Indrek seinen Namen genannt und sein Anliegen vorgebracht hatte, sagte Koovi:

»Ich schlief gerade.«

»Dann bitte ich um Entschuldigung, ich komme vielleicht besser ein anderes Mal.«

»Warum ein anderes Mal«, lautete die mürrische Antwort, »mein Mittagsschläfchen ist nun ohnehin gestört worden, treten Sie nur ein, was schreien Sie da hinter der Tür! Die Tür ist ja offen.«

Als Indrek eintrat, lag Koovi auf seinem mit einer gestreiften Decke überzogenen Holzbett, das bei jeder seiner Bewegungen jämmerlich knarrte. Die Füße in den Stiefeln lagen auf der Bretterlehne des Lagers.

Eine halbe Stunde etwa verbrachte Indrek in dem kleinen Zimmer, das von oben bis unten mit Büchern gefüllt war, die überall herumstanden und -lagen: auf einem bis zur Decke reichenden Regal, auf dem Tisch, den Fensterbrettern, auf Stühlen, ja sogar auf dem Fußboden, überall. Und als er sich erhob, sagte Koovi:

»Sie müssen mehr arbeiten! Wir Alten kommen sonst nicht mit. Machen Sie es, wie der Direktor sagt: lernen Sie mit Begeisterung wie ein Verrückter, denn er hat recht. Und wenn Sie vom Büffeln genug haben, dann nehmen Sie dieses hier und lesen Sie, Russisch verstehen Sie doch genügend.« Und mit diesen Worten reichte er Indrek ein dickes Buch. »Und schlagen Sie das Buch hübsch ein, sonst beschmutzen Sie es, Bücher muß man schonen.«

Und als Indrek schon in der Tür stand und sich zum Gehen wandte, wiederholte er:

»Lesen Sie, lesen Sie, lesen Sie, und lassen Sie alle diese Narrenspossen mit Tigapuu und auch mit dem Alten selbst. Auch mit dem«, betonte er.

Koovis Kollege Timusk, mit dem er regen Umgang pflegte, war ein stiller, zurückhaltender Mensch, der es vielleicht gerade eben darum liebte, andere Leute aufzuhetzen, einerlei in welcher Richtung. Nach seiner Ansicht gab es überhaupt keine Lebenslage, in welcher nicht Widerstand und Aufruhr geboten gewesen wären.

Als Indrek sich auf Koovis Empfehlung in Sachen des Unterrichts im Deutschen an ihn wandte, mußte er eine dunkle Treppe emporklimmen, die auf den Boden führte, wo Timusk ein bescheidenes, ärmliches Zimmerchen bewohnte wie Koovi. Auch hier lagen überall Bücher herum. Außerdem fand sich hier aber ein großer Tisch, der mit allerlei Pflanzen überladen war, deren estnische Benennungen Timusk bestrebt war festzustellen, aus welchem Grunde er jeden das Zimmer betretenden Gast sogleich in dieser Hinsicht interpellierte. Auch Indrek legte er einige Pflanzen vor und fragte:

»Kennen Sie diese Pflanze? Aber diese hier? Und diese? Und wie wird sie bei Ihnen genannt?«

Die meisten seiner Fragen mußte Timusk freilich selbst beantworten, wobei er nicht nur die estnischen Benennungen gab, sondern auch noch die russischen, deutschen und lateinischen.

»Die Hauptsache in der Wissenschaft ist der Name«, erklärte Timusk. »Am Anfang war das Wort, das ist der Sinn der Wissenschaft. Schade nur, daß unsere Sprache noch lebt, eine lebende Sprache kann nie so präzise sein wie eine tote. Nur was tot ist, ist vollkommen. Und was würde aus der Wissenschaft werden, wenn es keinen Tod gäbe? Wenn der Mensch ewig leben würde? Sie kennen doch die Sage von Tod und Sündenfall? Daß es nämlich ohne Sündenfall keinen Tod gegeben hätte. Aber was wäre dann aus der Wissenschaft geworden, wenn es keine Toten gegeben hätte? Sagen Sie selbst, wozu sollten wir lernen, wenn wir ohnedies unsterblich wären? Haben Götter oder Engel je gelernt? Nein, nur der Mensch lernt, denn er fürchtet den Tod. Wissen Sie überhaupt, wie es mit Gott und seiner Existenz bestellt ist? Lernen Sie Deutsch, dann will ich Ihnen ein Buch zu lesen geben. Bei uns ist es freilich verboten, aber Ihnen will ich es doch geben, damit Sie doch sehen, was in der Welt geschrieben wird. Das ist nicht so wie bei uns, wo man verstehen muß, zwischen den Zeilen zu lesen.«

Und nun begann Timusk, Indrek die schwierige Kunst zu lehren, zwischen den Zeilen zu lesen, wobei er sich von der Erde auf den Mond, die Sonne und die Sterne verstieg bis zur Seligkeit, Unsterblichkeit und Erlösung, Wissenschaft, Freiheit und Revolution. Und dabei geriet das Deutsche völlig in Vergessenheit, denn das war nach Timusks Meinung neben allen solchen kosmischen Fragen eine belanglose Nebensache.

Als Indrek Timusk verließ, wußte er tatsächlich nicht, wo ihm der Kopf stand, so erfüllt war er ihm plötzlich von großen, weltbewegenden Fragen. Noch nie war er sich so dumm vorgekommen wie heute. Es schien ihm direkt unbegreiflich, wie ein Mensch, der so große Probleme in seinem Kopfe wälzte wie Timusk, in einem so kleinen, elenden Stübchen wohnen konnte! Und sich so kleiden! Denn Indrek hatte schon lange bemerkt, daß Timusks Studentenmantel höchst fadenscheinig zu werden begann, aber erst heute fiel es ihm eigentlich auf. Und seine Stiefel waren völlig verschlissen und über und über mit Flicken bedeckt, die Hacken völlig abgenutzt und schief getreten. Welchen Sinn hatte das Leben überhaupt, wenn es so große Gedanken gab, so viele große Gedanken, und wenn diese Gedanken von solch einer Armut, solch einem Elend umgeben waren?

Aber schon das nächste Mal, als er zu Timusk ging, schien ihm plötzlich alles irgendwie sinnvoll. Schon auf der Treppe drangen Töne an sein Ohr, so schön, wie er sie noch nie gehört. Er machte halt und lauschte, lauschte eine ganze Weile. Als er sich endlich entschloß, die letzten Stufen emporzusteigen, und hinter Timusks Tür stand, entdeckte er, daß die Töne aus dessen Zimmer kamen. Erst als die Musik drinnen schwieg, wagte er es anzupochen. Timusk war allein, da mußte er wohl der Musikant gewesen sein. Und da wurde es Indrek auf einmal klar: Warum nicht in zerlumpten Kleidern und zerrissenen Stiefeln so große Probleme und Lebensfragen in seinem Kopfe wälzen, wenn man so zu musizieren verstand! Wieso und warum diese großen Probleme mit dem Musizieren etwas zu tun hatten, das hätte Indrek kaum näher erklären können, aber eins fühlte er deutlich – sie gehörten irgendwie zusammen. Daran bestand kein Zweifel! Oh, wie gerne würde auch er solch ein elendes Leben führen, wenn er nur so zu musizieren verstünde!

»Hörten Sie mich spielen?« fragte Timusk.

»Es hat mir einfach den Atem geraubt«, erwiderte Indrek, aus irgendeinem Grunde errötend.

»Das ist noch aus der Zeit, als wir hier noch ein Orchester hatten«, erklärte Timusk.

Diese Worte griffen Indrek ans Herz. Also auch hier waren die schönsten Zeiten schon vorüber. Ganz wie auf Wargamäe! Dort die biegsamen Birken, auf denen man sich schaukeln konnte, daß einem ein kühler Hauch übers Herz zu fahren schien, hier die Musik, die einem den Atem verschlug und das Herz schneller schlagen ließ. Wie sonderbar doch das Leben war! Immer kam man irgendwie zu spät. Immer wieder im Laufe seines Lebens mußte Indrek diese traurige Tatsache bedenken, aber heute riß ihn Timusk aus seinen Gedanken, indem er fortfuhr:

»Das ist die größte Sinnestäuschung, die es gibt, die Musik nämlich. Denn sind Sie etwa der Meinung, daß es so etwas in Wirklichkeit gibt? Blödsinn! Dann müßten doch auch die Pferde Beethoven und Bach genießen können, denn sie haben doch auch Ohren. Aber genießen tut sie nur der Mensch, einige wenige Menschen. Folglich könnte ein Pferd, wenn es verstehen würde zu denken, allenfalls an unsere Musik glauben, nicht aber sie verstehen und genießen. Ganz wie der Mensch an Gott. An den kann man nur glauben, nicht aber ihn verstehen. Glauben Sie an Gott?«

»Wahrscheinlich wohl«, versetzte Indrek zögernd.

»Was heißt wahrscheinlich?« fragte Timusk erstaunt. »Wie kann man wahrscheinlich an Gott glauben?«

»Ich denke, ich glaube«, verbesserte Indrek sich nun.

»Wie können Sie denn noch denken, wenn Sie glauben?« fuhr Timusk fort zu fragen.

Darauf wußte Indrek nichts zu erwidern.

»Natürlich«, sagte Timusk überlegen, »das können Sie auch noch nicht verstehen. Die Sache ist nämlich die: wenn man glaubt, denkt man nicht und wenn man denkt, so glaubt man nicht. Sagen wir, Sie haben ein Steinchen in der Tasche und glauben, daß dieses Gott ist, der Himmel und Erde und den Menschen erschaffen hat. Das zu glauben ist eine Kleinigkeit, denn der Mensch glaubt noch viel tolleren Unsinn. Es gibt keinen Unsinn, den der Mensch nicht geglaubt hätte. Aber wenn Sie darüber nachzudenken beginnen, mit dem Verstande zu erfassen versuchen, daß Sie den Schöpfer Himmels und der Erden als Steinchen in der Tasche tragen, glauben Sie, daß das möglich ist?«

»Nein«, versetzte Indrek.

»Nun, sehen Sie. Glauben kann man so etwas, denken nicht. Glauben kann man also mehr als denken, der Glaube ist größer als der Verstand, darum kann man nicht gleichzeitig von Glauben und Verstand reden. Der Glaube braucht nicht wahr zu sein, aber das Denken muß wahr sein, sonst ist es überhaupt kein Denken. Also: glauben Sie oder denken Sie, daß Sie an Gott glauben? Was meinen Sie?«

»Ich denke, daß ich glaube«, sagte Indrek.

»Wieder dasselbe!« rief Timusk. »Sie können nur denken oder glauben, beides zusammen geht nicht. Wenn Sie etwas nicht begründen können, dann denken Sie nicht, sondern glauben Sie«, fuhr Timusk belehrend fort. »Glauben bedarf keiner Begründung. Logisch genommen, müssen Sie sagen: ich glaube, daß ich glaube. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte Indrek und war froh, als er endlich gehen konnte, denn diese erste Belehrung über Denken und Glauben ließ ihn schaudern. Die Treppe hinabsteigend, dachte er: »Nun gut, nehmen wir an, daß es keinen Gott gibt, daß alles ein Märchen ist, die Erschaffung der Welt und alles andere; aber was dann, wenn es nun plötzlich doch einen Gott gibt, ohne unser Wissen und unsern Glauben, einen Gott, der alles hört und sieht, auch das hört, was wir über ihn reden? Was dann?«

So lernte Indrek neben dem Deutschen auch einiges über Glauben und Wissen.

Das waren glückliche Tage voll aufregender Ideen und bohrender Gedankenarbeit. Aber dieses Glück währte nicht lange, denn eines schönen Tages rief der Direktor Indrek zu sich und sagte:

»Warum stören Sie Herrn Timusk? Warum lassen Sie ihn nicht ruhig studieren?«

»Er hilft mir ein wenig im Deutschen«, versetzte Indrek.

»Deutsch verstehen auch andere, nicht nur Herr Timusk, der studieren muß«, erklärte der Direktor. »Und warum sprechen Sie von Gott, wenn Sie Deutsch lernen? Was haben Sie und dieser Timusk mit Gott zu schaffen? Herr Maurus weiß alles, Herr Maurus hört alles, denn er ist der Gott dieses Hauses. Und wie Herr Maurus hier im Hause alles hört und sieht, so hört und sieht der liebe Gott in der ganzen Welt alles. Was für eine Verschwörung hecken Sie mit Timusk da gegen ihn aus? Er hat Sie doch gefragt, ob Sie an Gott glauben?«

»Das hat er allerdings gefragt«, sagte Indrek, als er merkte, daß der Alte Bescheid wußte.

»Nun, sehen Sie«, sagte der Direktor. »Was hat nun ein vernünftiger Mensch einen anderen zu fragen, ob er an Gott glaubt oder nicht. Hat jemand Sie das schon früher gefragt? Hat Herr Maurus Sie das gefragt?«

»Nein«, versetzte Indrek.

»Hat er vielleicht andere danach gefragt?«

»Nein, das hat er nicht.«

»Und was glauben Sie, warum fragt er das nicht?«

Und als Indrek mit der Antwort auf diese Frage zögerte, kam ihm der Direktor zuvor, indem er sagte:

»Weil Herr Maurus bei vollem Verstande ist. Niemand, der bei vollem Verstande ist, stellt solche Fragen. Aber wenn nun jemand das tut, wie muß es da um seinen Verstand bestellt sein?«

Indrek schwieg.

»Aha!« rief der Direktor. »Sie bleiben mir die Antwort schuldig! Herr Maurus fragt Sie einmal klar und deutlich, aber Sie geben ihm keine Antwort. Sie sind also mit dem da oben einer Meinung. Sie greifen Gott an, Sie greifen in diesem meinem anständigen Hause den lieben Gott an. Aber nun sagen Sie mir, was antworteten Sie, als Sie gefragt wurden, ob Sie an Gott glauben?«

»Ich antwortete, daß ich glaube.«

»Haben Sie wirklich geantwortet: ich glaube und nicht irgendwie anders? Sagten Sie nicht vielleicht: wahrscheinlich glaube ich?« forschte der Direktor.

»Jawohl, so sagte ich«, versetzte Indrek erstaunt, den Direktor so genau unterrichtet zu sehen.

»Haben Sie gehört, haben Sie gehört!« schrie der Direktor. »Dieser lange Mensch hier glaubt wahrscheinlich! Hat jemand von Ihnen so etwas früher schon gesehen oder gehört?« wandte er sich an die Umstehenden, deren Belehrung und Vermahnung die ganze Rede ja dienen sollte. »Herr Maurus ist alt und grau geworden, aber so etwas hört er zum ersten Male. Wie ist der Name Ihres Vaters?« wandte der Direktor sich an Indrek.

»Andres«, versetzte dieser, ohne zu verstehen, worauf der Direktor mit dieser Frage hinauswollte.

»Und der Name seines Hofes?« forschte der Direktor weiter.

»Wargamäe.«

»So, also Wargamäe«, wiederholte der Direktor, und sich mit einem Lächeln an die anderen wendend, fügte er hinzu: »Ein hübscher Name, dieses Wargamäe, was?« Aber als die Jungen hierauf in Lachen ausbrachen, sagte er: »Nicht lachen, wenn Herr Maurus mit diesem Langen hier über Gott spricht, denn sonst könnte Gott denken, wir lachten über ihn.« Und sich wieder zu Indrek wendend, fragte er: »Und nun sagen Sie mir, ob ihr Vater Andres auf seinem Wargamäe auch wahrscheinlich an Gott glaubt oder ob er bestimmt an ihn glaubt.«

»Er glaubt bestimmt«, erwiderte Indrek und empfand im selben Moment, daß auch er noch bestimmt glaube.

»Und Ihre Mutter da in Wargamäe, wie glaubt die?«

»Auch bestimmt«, sagte Indrek.

»Und Ihre Geschwister – Sie haben doch Geschwister –, wie glauben die?«

»Ebenso.«

»Aber Ihre Verwandten, Nachbarn und Bekannten, sollten die vielleicht wahrscheinlich glauben?«

»Nein, auch sie glauben bestimmt.«

»Also nur Sie glauben wahrscheinlich, alle anderen bestimmt«, folgerte der Direktor siegesbewußt. »Und Sie selbst, als Sie noch in Wargamäe waren, glaubten Sie damals bestimmt oder nicht?«

»Ich glaubte damals.«

»Können Sie hören!« rief der Direktor. »In Wargamäe hat er geglaubt, aber kaum kam er in das anständige Haus des alten Herrn Maurus, so war es mit seinem Glauben zu Ende! In der Stadt glaubt er nicht mehr, denn der Vater hat ihm etwas Geld gegeben und ihn zu Herrn Maurus geschickt, Latein lernen.« Und er trat dicht vor Indrek hin, blickte ihn starr über die Brille an, schüttelte seinen grauen Kopf und sagte: »Schämen Sie sich nicht vor Ihren ehrlichen Eltern, Ihren Geschwistern und Ihrer ganzen Bekanntschaft und Verwandtschaft, nicht zu glauben, wenn sie alle glauben?«

Und es wollte Indrek scheinen, als ob er tatsächlich etwas wie Scham empfinde.

»Und nun sagen Sie mir doch bitte selbst, ob dieser junge Mensch noch bei vollem Verstande ist, der Sie dem Glauben Ihrer Eltern und Geschwister, der Sie Gott entfremdet und Sie damit zur Waise macht! Ja oder nein?«

»Vermutlich nicht«, sagte Indrek, um dieser Szene nur endlich ein Ende zu machen.

»Endlich!« rief der Direktor erleichtert. »Und darum hüten Sie sich vor Menschen, die nicht bei vollem Verstande sind. Dieser Herr da oben studiert schon seit Jahren, aber es kommt nichts dabei heraus, weil er eben nicht bei vollem Verstande ist. Er spielt mit der Erschaffung der Welt und mit dem lieben Gott herum, als gedächte er, eine neue Welt zu schaffen oder beim lieben Gott Arzt oder Advokat zu werden. Aber Gott hat solch einen Advokaten nicht nötig. Er betreibt seine Geschäfte selbst oder durch Leute, die bestimmt glauben.«

Auch Timusk hatte wohl seine Kopfwäsche bekommen, denn als Indrek ihm die entliehenen Bücher auf Befehl des Direktors zurückbrachte, dieses durch Zeitmangel begründend, bemerkte Timusk:

»Ich hielt Sie für alt genug, um zu kapieren, daß es sich hier um diskrete Dinge handle. Verstehen Sie? Um Dinge, die man zwischen den Worten hindurch hören und zwischen den Zeilen lesen muß. Aber schließlich – Ihre Schuld ist es ja wohl nicht«, fügte er nach einer Weile hinzu.

Aber Indrek fühlte sich Timusk gegenüber doch schuldig, so daß er nur beschämt in seine stillen Augen blicken konnte. Zum Glück reiste Timusk nach den Weihnachtsferien ab – nach Petersburg, wie verlautete –, und so blieben Indrek Schuldbewußtsein und Scham fürderhin erspart.

»Geschieht ihm recht«, sagte der Direktor, als die Türe hinter Timusk ins Schloß fiel. »Wenn ein Mensch andere verderben will, warum sollte das gerade in Herrn Maurus' anständigem Hause geschehen? Mag er das woanders betreiben. Mag er die Russen verderben, ich aber und mein Haus, wir wollen Jehova dienen.«


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