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III

Unter diesen klugen Gesprächen gelangten sie in den Wald. Am Versammlungsort standen und saßen die Leute tatsächlich wie in der Kirche in Erwartung einer segenspendenden Predigt. Kein lautes Wort, kein Lachen, Scherzen oder unruhiges Ab- und Zugehen. Unter den hohen Kiefern, deren Wipfel leise im Winde rauschten, herrschte eine feierliche Stille. Nur ein Unterschied war zu verzeichnen: im Bethause hocken meist alte Weiber, während hier fast nur Männer vertreten waren in jüngeren und mittleren Jahren. Nur hier und da, zur Abwechslung gleichsam eine bunte Bluse, ein Tuch oder Hut, ja sogar ein farbenprächtiger Sonnenschirm, aber auch dieser von einer knochigen, abgearbeiteten Hand gehalten. Überall von Sonne und Wind gegerbte oder in dumpfen Arbeitsräumen verwelkte Gesichter, steife eckige Bewegungen, schwielige Hände, gebeugte Rücken.

Indrek und Otstavel drängten sich auf den Rat des letzteren nicht in die dichteste Masse, sondern setzten sich ein wenig abseits auf eine Kiefernwurzel. Erst als die erste Rede begann und alles sich näher hindrängte, traten auch sie näher heran, ja, sie versuchten ganz nahe an den Redner heranzukommen, doch erwies sich das als unmöglich, weil dieser von einer dichten Mauer von Männern umgeben war, die nur Auserwählte passieren durften. Als ein solcher fiel Indrek sein Wohnungswirt Lohk in die Augen, dessen gewichtiger Leib wie ein Schild gerade vor dem Redner aufragte.

Die erste Rede beschränkte sich auf eine sachliche Beleuchtung der Lage der Arbeiter daheim und im Auslande: es war von Parteien die Rede, von Koalitionen, Gewerkschaften, Streiks, Meetings, Propaganda, Presse, Druckereien, Büchern.

»Das ist nichts, laß mal erst den zweiten und dritten drankommen, dann geht die Sache erst eigentlich los«, erklärte Otstavel sachverständig und fügte dann hinzu: »Steh du hier unter der Kiefer, daß ich dich später finden kann, ich muß ein wenig fortgehen.« Und ohne Indreks Antwort abzuwarten, ging er seiner Wege.

Bald darauf traten zwei junge Leute an Indrek heran, einer von ihnen offensichtlich ein wenig angeheitert.

»Kommen Sie mal etwas beiseite«, sagte letzterer, so daß Indrek deutlich den aus seinem Munde kommenden Schnapsgeruch spürte.

»Wohin? Wozu?« fragte Indrek verwirrt.

»Das werden Sie schon hören«, sagte der junge Mann und wollte Indrek am Arm packen, was der zweite indessen verhinderte, indem er mahnte: »Laß bleiben! Laß ihn sein! So geht das nicht.« Und sich zu Indrek wendend, sagte er: »Wir wollen ja bloß ein Paar Worte mit Ihnen reden, wo niemand uns hören kann. Treten Sie nur ein wenig beiseite.«

Indrek überlegte einen Augenblick, während er seine Blicke in die Runde gleiten ließ, und sagte dann: »Meinetwegen«, worauf er seine Schritte in eine Richtung lenkte, wo keine Menschen zu sehen waren. Dann machte er unter den Kiefern halt und sagte:

»Weiter komme ich nicht. Hier hört uns niemand.«

»Wozu sind Sie hier?« fragte der nach Schnaps duftende Jüngling.

»Wozu alle hier sind – ich höre mir die Reden an«, versetze Indrek, »aber was geht Sie das an?«

»Das ist unsere Sache«, erwiderte der junge Mann. »Sie spionieren.«

»Nicht so«, mischte sich der andere ins Gespräch, aber diese Bemerkung wirkte wie Öl ins Feuer, denn der Angeheiterte brach nun los: »Was sollen diese Zeremonien! Der Kerl ist doch Spitzel. Wohin ist er losgezogen?« wandte er sich dann an Indrek. »Wohl Bericht erstatten, he? Und Sie passen unterdessen hier auf. Das kennt man!«

»Sie irren«, sagte Indrek, denn er begriff nun, worum es sich handelte.

»So! Also ich irre mich! Antworten Sie mir: ist dieser andere bei der Polizei angestellt?«

»Gewiß«, versetzte Indrek.

»Nun, sehen Sie!« riefen beide jungen Leute triumphierend. »Aber Polizeiseelen können wir hier nicht brauchen, und darum, wenn Ihnen Ihre Knochen lieb sind, verschwinden Sie. Aber sofort! Und sagen Sie diesem anderen, daß, wenn er nochmals wiederkommen sollte, wir nicht erst unsere Zungen bemühen werden sondern gleich die Fäuste.«

Und damit verschwanden sie in der Volksmasse, aus der sie auch gekommen waren.

Indrek bedauerte nun, den jungen Leuten nicht berichtet zu haben, daß er den Schuster Lohk mit der verkrüppelten Hand kenne und bei ihm wohne. Was sie dann wohl für Gesichter gemacht hätten? Und er ging an seinen früheren Platz zurück, um dort auf Otstavel zu warten oder, wenn er die jungen Leute nochmals erblicken sollte, ihnen zu sagen, was er vorhin vergessen hatte.

Der zweite Redner sprach vom Recht, vom Recht des Arbeiters, dessen saurer Schweiß die ganze Welt erhalte. Aber dieses Recht wolle man nicht anerkennen; die Gendarmenhyänen, die Polizeihunde, die kapitalistischen Blutsauger, die erpresserischen Gutsbesitzer, die bourgeoisen Blutegel träten dieses Recht mit Füßen. Und darum müsse der Arbeiter sich dieses sein Recht selbst nehmen, für sich selbst und die anderen, alte und junge, das ganze arbeitende Volk mit Schwielen an den Händen und gebeugten Rücken ...

»Nun, das lohnt sich schon anzuhören«, hörte Indrek plötzlich Otstavel sagen, der inzwischen zurückgekehrt und unbemerkt herangetreten war. Dann fragte er leise: »Was wollten die Kerle von dir?«

Indrek hatte eigentlich beschlossen, nichts von ihnen zu sagen, aber nun ließ sich das nicht vermeiden, und so erzählte er alles.

»Das dachte ich mir gleich«, sagte Otstavel. »Dämelacks! Ich und ein Spitzel! Der ich unter den Augen der ganzen Stadt im Polizeibüro sitze! Was bin ich nun für ein Spitzel! Die sind unter ihnen selbst zu finden, dicht unter der Nase der Redner, in ihrer eigenen Schutzmauer, da stecken sie.«

»Meinst du?« fragte Indrek überrascht.

»Aber wie denn sonst?« versetzte Otstavel, »die Spitzel sind immer unter den eigenen Leuten zu suchen, nur dann kommen sie überall hin, erfahren und hören alles.«

»So daß wir also bleiben?« fragte Indrek.

»Aber natürlich«, erwiderte Otstavel.

Der dritte Redner sprach schon vom gegenwärtigen Augenblick und seinen Aufgaben, der heiligen Pflicht des bewußten Arbeiters, der Aufopferung für eine bessere Zukunft. Er sprach direkt vom heutigen Tage hier unter den Kiefern, wo inmitten der ehrlichen Leute auch die Gendarmen der frohen Botschaft von dem kommenden Zeitalter der Gerechtigkeit lauschten, diese Bluthunde, deren Schnauzen den roten Lebenssaft des Arbeiters wittern, der auf dem Altare der Freiheit fließen müsse. Denn man solle sich nur nicht etwa einbilden, daß der Revolver der Polizei ungeladen sei, daß den Kosaken keine Knute am Handgelenk hänge oder die Gendarmen keine Handschellen hätten. »Aber, Brüder, Genossen, wir fürchten uns nicht, wir werden unsere rote Fahne in die Stadt tragen, wie sie eben hier an der Kiefer flattert. In diesem Zeichen wirst du siegen, Bruder. Niemand und nichts kann uns aufhalten, wenn wir nur zusammenhalten. In der Einigkeit liegt unsere Stärke, in der Einmütigkeit die Kraft ...«

Nach Schluß der Rede stand man in kleineren Gruppen zusammen, an die niemand außer den eigenen Leuten herankonnte. Indrek und Otstavel gingen ein wenig abseits und setzten sich nieder; letzterer streckte sich bald aus, so lang er war, und guckte in den Himmel. »Ich mag solche Reden«, sagte er. »Ich komme immer zuhören. Man sagt dir unter offenem Himmel, du seist ein Spitzel, ein Bluthund, so daß einem Schauder über den Rücken laufen. Nicht daß ich mich fürchtete, was hätte ich hier zu fürchten, denn hier redet ja nur einer, während die anderen zuhören, aber es ist einfach angenehm, ja ein wenig gruselig sogar, zu hören, daß du so blutdürstig bist. Wenn ich solche harte Worte höre und den Redner so mit den Händen fuchteln sehe, dann habe ich gleich das Gefühl, als begännen meine Zähne zu wachsen. Bei Gott! Ohne Spaß! Es ist wie ein lebendiger Spuk. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, woher das wohl kommen möge, und bin immer wieder zur Einsicht gekommen, daß der Redner wohl etwas Derartiges sehen und empfinden muß, und das dann auch auf mich übergeht. So zum Beispiel dieser letzte, der war gut. Den habe ich auch schon früher gehört, erkenne ihn an der Stimme. Der macht mir gleich die Zähne wachsen. Ach, was kann es Schöneres geben, als Redner zu sein, dessen Worten alle glauben, wie dem Evangelium, so daß er einem Löcher in den Kopf reden kann, Hörner auf den Schädel!«

»Nun brechen sie auf«, unterbrach Indrek die philosophischen Auslassungen seines Begleiters.

»Dann wollen wir ihnen nachgehen, so daß wir sie im Auge behalten«, erwiderte Otstavel, sich erhebend. »Aber Vorsicht! Nicht allzu nahe heran.«

Die Menge setzte ein paarmal zum Gesang an, der aber immer wieder alsbald verstummte. Als sie aus dem Walde ins Freie traten, wies Otstavel mit der Hand nach vorne:

»Sieh mal, sogar eine rote Fahne führen sie mit sich. Wenn sie mit dem Ding in die Stadt wollen, dann gibt es bestimmt eine Keilerei. Unbedingt! Alles andere, nur das nicht! Demolier meinetwegen ein halbes Dutzend Monopolschnaps-Läden, das tut nichts, aber die rote Farbe, nein, die kann der Polizeistier nicht vertragen.«

Unter diesen Worten hatte man die Vorsicht außer acht gelassen und war der Menge allmählich näher gerückt. Sie konnten nun sehen, daß die meisten Leute in den Händen dicke Prügel trugen, die manche über ihrem Kopfe schwangen, während die anderen sie geschultert hatten, gleich Gewehren, als spielten sie Soldaten.

Aber das alles nahm plötzlich ein schnelles Ende, denn als die Menge an eine Stelle gelangt war, wo die Straße auf der einen Seite von einem Kiefernwäldchen begrenzt wurde, auf der anderen eine sandige Fläche war, mit kümmerlichen Weidenbüschen und einzelnen alten Krüppelkiefern bestanden, tauchten aus der Kiefernschonung plötzlich Kosaken auf, die der Menge die Straße etwa fünfzig Schritte nach der Stadt zu vertraten. »Auseinandergehen!« brüllte der die Kosaken begleitende Polizeioffizier, aber als er in der Menge das rote flatternde Fähnchen entdeckte, wandte er sich an den Kosakenoffizier, und nun erklang ein Kommando, und die ganze Kosakenschwadron setzte sich gegen die Menge in Galopp, wohl um die rote Fahne als Sachbeweis zu erbeuten. »Widerstand leisten! Hol's der Teufel! Gebt es ihnen ordentlich, den Teufeln!« ertönten Stimmen aus der Menge, und dann erklangen Schüsse, und alles verwandelte sich in ein Chaos, das in eine dichte Staubwolke gehüllt war: Pferde, Menschen, Flüche, Schmerzensschreie, stürzende Pferde, ein reiterlos zwischen den Weidenbüschen über die Sandfläche rasender Gaul, ein zweiter, der der Stadt zu gallopierte.

Wie lange das eigentlich dauerte, hätte Indrek nicht zu sagen gewußt, aber plötzlich findet er sich am Rande des Straßengrabens, während ein Reiter an ihm vorüberjagt, der ihn mit irgend etwas zu schlagen versucht, aber nicht ganz an ihn heranreicht, so daß nur das äußerste Ende der Knute seinen Hals unterhalb des Ohrs trifft. Das erbittert ihn aufs äußerste, so daß er in den Graben springt, wo er ein paar Steine aufliest, um sie auf die vorüberjagenden Pferde und ihre Reiter zu schleudern. Als seine Steine zu Ende sind, bückt er sich nach neuen und will gerade den Reitern nachlaufen, als er jemanden rufen hört: »Genug, Genosse, die haben schon ihr Teil.« Nun wirft Indrek seine Steine hin, wobei ihm einer besonders leid tut, der ihm außerordentlich passend schien, ein eckiger scharfer Granitsplitter – und wendet sich um, um zu sehen, wer ihn als Genosse angeredet hat, und sieht sich Auge in Auge dem jungen Mann gegenüber, mit dem er im Walde auf der Versammlung zu tun gehabt hatte. Der ist gegenwärtig völlig nüchtern, blickt Indrek mit klaren Augen an und bemerkt, als dieser nichts sagt:

»Ihr Hals blutet, sind Sie verwundet?«

Jetzt empfindet auch Indrek einen Schmerz am Halse und fühlt sein Hemd über der Brust feucht am Körper kleben. Er hebt die Hand an den Hals und betrachtet, sie zurückziehend, seine blutigen Finger.

»Gehen wir in den Wald«, rät der junge Mann, »weiter von der Straße ab, denn dabei wird es natürlich nicht bleiben, die kommen sicherlich zurück.«

Und so verschwinden sie über den Straßengraben in der Kiefernschonung, während Indrek sein Taschentuch hervorzieht, um sich das Blut vom Halse zu wischen. Schließlich stopft er das Tuch hinter den Kragen, um das aus der Wunde sickernde Blut zu verhindern, am Körper hinabzufließen. So marschieren sie im Zickzack durch die Schonung, einen freieren Weg suchend. Am Seeufer angelangt, sagt der fremde junge Mann:

»Öffnen Sie Ihr Hemd, nehmen Sie den Kragen ab.« Und als Indrek seinen Rat befolgt hatte, feuchtete er sein Tuch im See an und sagte: »Erlauben Sie; für einen selbst ist das schwierig, wo man doch nichts sehen kann.« Und dann wischte er Indrek mit seinem erfrischend feuchten Tuch Hals und Brust rein.

»Ein Glück nur, daß es nicht das Auge oder Ohr getroffen hat«, meinte er. »Diese Schinder haben ja weiß der Teufel was da am Ende ihrer Knuten.«

»Ja, mit dem Ende traf er mich gerade«, sagte Indrek.

»Na ja, natürlich, das sieht man gleich. Ich bekam eins über den Rücken, doch feucht scheint er mir nicht zu sein. Aber dafür habe ich auch dem Polizeimeister eines ausgewischt, daß er wie ein Kohlkopf aus dem Sattel unter die Pferdehufe rollte. Was da von ihm übriggeblieben ist, weiß ich nicht, aber auf eigenen Füßen ist er jedenfalls nicht heimgekommen, sein Pferd raste voraus, ihn selbst schleppten die Kosaken hinterdrein.«

Als das aus Indreks Halswunde sickernde Blut völlig gestillt war, schritten die beiden längs dem Seeufer weiter. Während sie von dem hohen Sandufer in eine grüne Niederung hinabstiegen, sagte der junge Mann zu Indrek:

»Und ich hielt Sie vorhin für einen Spitzel.«

»Ja, ich war einfach starr, konnte nichts begreifen«, sagte Indrek.

»Aber Sie sollten doch nicht mit diesem anderen, sonst ...«, der junge Mann ließ seinen Satz unbeendet.

»Wer weiß, wozu das gut sein mag«, scherzte Indrek, ohne sich etwas Besonderes dabei zu denken. Aber der andere blickte ihn plötzlich bedeutungsvoll an und sagte mit Nachdruck:

»Richtig, sehr richtig! Wer weiß, wozu es gut sein kann. Auch eine Polizeibekanntschaft kann von Nutzen sein.«

Indrek begriff, daß der Mann viel mehr voraussetzte, als tatsächlich dahintersteckte, aber er ließ die Sache auf sich beruhen und schwieg.


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