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XV

Auch zu Hause wurde Indrek von einem fremden Hunde mit wütendem Gebell empfangen. Nur mit Mühe, einen derben Prügel in der Hand, gelang es ihm, sich an die Tennenpforte zu retten, die er öffnete und, nachdem er hineingeschlüpft, schnell wieder hinter sich schloß, während der Hund draußen seine Spuren mißtrauisch beschnüffelnd, fortgesetzt bellte. Dieser fremde, böse Hund an der heimatlichen Pforte erschien Indrek sonderbar und unheimlich, und lange lag er oben auf dem Heuboden, vergeblich Schlaf suchend, auf dem Rücken. Wie veränderlich war doch alles im Leben! Aber endlich schlief er doch ein und erwachte nicht früher, als bis der Vater am Mittmorgen erschien, den Pferden Heu zu holen.

»Ach, du warst es also, den der Hund in der Nacht so schnöde begrüßte«, sagte der Vater, während er mit ausgebreiteten Armen das Heu zusammenraffte, um es durch die Luke nach unten zu werfen. Und Indrek, der sich mittlerweile aufgerichtet hatte, bemerkte nun eigentlich zum erstenmal, wie steif der niedergebeugte Rücken des Vaters war, wie verkrümmt seine gespreizten Finger. Gerade diese Finger fielen ihm besonders auf. Als der Vater sich der Leiter näherte, um wieder hinabzusteigen, trat Indrek auf ihn zu und streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen.

»Richtig, ja«, sagte der Vater, »wir haben uns ja noch nicht einmal die Hand gereicht. Bei der scharfen Arbeit vergißt man solche Sachen.«

Auch bei der Begrüßung fielen Indrek die steifen, krummen Finger des Vaters auf, und als dieser die Leiter hinabstieg, murmelte er vor sich hin, als hätte er damit eine neue Lebensweisheit entdeckt:

»Krumm sind sie, ganz verkrümmt, daran besteht kein Zweifel.«

Aber das war nicht die einzige Lebensweisheit, der Indrek daheim begegnete. Aus den Augen der Mutter leuchtete bei der Begrüßung eine große Freude, und doch wandte sie den Blick scheu ab, als schäme sie sich des schmerzlich wehmütigen Zuges um den sich zu einem Lächeln zwingenden, welken, von unzähligen Runzeln umrahmten Mund. Wie oft hatte Indrek diesen Mund schon gesehen, aber so erblickte er ihn heute zum ersten Male. Und er hatte die Empfindung, daß man mit jemandem, der solch einen Mund habe, überhaupt nicht reden solle, es sei denn, man hätte etwas Ernstes, Trauriges, Schweres zu sagen. Und so hatte er der Mutter nichts zu sagen als bloß das leerste, gewöhnlichste, zweckloseste Zeug. Und auch die Mutter schien vergeblich nach einem Gesprächsstoff zu suchen. Erst als sie beide allein geblieben waren, sagte Indrek:

»Sind die Hände des Vaters aber verkrümmt!«

Die Mutter schien zusammenzufahren, als sie sich umwandte und den Sohn anblickend fragte:

»Wie kommst du darauf?«

Und dabei hatte sie solch einen weichen Ausdruck in den Augen, und der den Mund umrahmende schmerzliche Zug schien sich gleichsam zu mildern.

»Ich sah, wie er auf dem Heuboden das Heu zusammenraffte und dann die Leiter hinabstieg: die Finger wollten sich nicht mehr um die Sprossen schmiegen, nur die Leiterbäume konnten sie noch richtig umfassen«, erklärte Indrek.

Die Mutter wandte das Gesicht ab, vornübergebeugt vor dem Sohne stehenbleibend. Und plötzlich tauchte vor Indreks innerem Auge ein längst vergangenes Ereignis auf, als die Mutter einmal ebenso vornübergebeugt dagestanden hatte. Aber damals hatte sie mitten auf dem Hof gestanden, ein Bündel Reisig auf den Armen.

Erst nach einer Weile fragte die Mutter:

»Hast du denn erst jetzt Vaters Finger bemerkt?«

»Ja, heute morgen zum ersten Male«, versetzte Indrek.

»Aber das ist doch schon lange so«, erklärte die Mutter nun. »Du hast es nur nicht bemerkt. Erst jetzt, wo du in die Stadt in die Schule gekommen bist, sind dir die Augen aufgegangen.«

»Meinst du wirklich in der Schule?« fragte Indrek zweifelnd.

»Aber natürlich«, versetzte die Mutter, den Sohn anblickend, »natürlich in der Schule. Die Schule und der Militärdienst, die öffnen den Leuten die Augen. Hat Andres etwa das Alter Vaters und seine schwere Fron bemerkt, solange er zu Hause war? Nein. Aber nun bemerkt er sie. Über Tausende von Wersten sieht er es und schreibt darüber. Als der Vater das las, mußte er sich immer wieder die Augen wischen. Er schob es wohl auf die Brille, behauptete, sie sei zu scharf; aber das war nicht die scharfe Brille, sondern der Brief des jungen Andres. Denn einige Tage, nachdem er den Brief gelesen, sagte der Vater: ›Aus Andres wird vielleicht doch noch etwas. Der Dienst macht ihn vielleicht noch zum Manne.‹ So daß der Vater anscheinend hofft, daß er nach Wargamäe zurückkehren wird, wenn er erst den Dienst hinter sich hat.«

»Der kommt nicht wieder«, sagte Ants, der die letzten Worte der Mutter gehört hatte. »Ich glaube nicht, daß er wiederkommt.«

»Ach, geh doch!« sagte die Mutter vorwurfsvoll. »Immer meinst du, er kommt nicht wieder, er kommt nicht wieder. So kommt er natürlich nicht wieder, wenn alle Welt immer wieder wiederholt: der kommt nicht zurück, der kommt nie mehr zurück.«

Und sich an Indrek wendend, klagte die Mutter:

»Ants ist ganz wie närrisch auf diesen Punkt, daß Andres nicht mehr zurückkommen soll. Ganz als sei er neidisch oder sei es ihm leid, daß der Bruder am Ende doch wiederkommen könnte.«

»Ach, Mutter, laß doch diese Verdächtigungen«, sagte Ants nun. »Mir kann es doch wirklich ganz gleich sein, ob Andres wiederkommt oder nicht. Aber eins steht jedenfalls fest: wenn ich mal zum Militär muß, dann komme ich gewiß nie mehr nach Wargamäe zurück. Ich würde nicht einmal dann zurückkommen, wenn der Vater mir Wargamäe anbieten würde.«

»Nun hör doch«, sagte die Mutter mit zuckenden Lippen, während ihr die Tränen in die Augen traten, »so redet er immer, wenn die Rede auf Andres kommt. Sogar dem Vater sagte er es einmal, so daß der ihn gehörig vornehmen mußte.«

»Wohin willst du denn gehen und was anfangen?« fragte Indrek den Bruder, der im Laufe des Winters kräftig in die Höhe geschossen war.

»Das weiß ich eben noch nicht, aber es wird sich schon in der Welt auch für mich etwas finden. Ich gehe einerlei wohin und tue einerlei was.«

»Also du würdest lieber bei einem anderen Knecht sein als in Wargamäe dein eigener Herr?«

»Warum denn gerade Knecht bei einem anderen?« fragte Ants eigensinnig dagegen. »Bist du etwa jemandes Knecht?«

»Aber natürlich bin ich Knecht, was glaubst du denn?« versetzte Indrek.

»Na na«, knurrte Ants ungläubig. »Deine Knechtschaft kennen wir. Spielst den Herren. Aber aus mir wird natürlich kein Herr, und da muß ich nach deiner und der Mutter Meinung natürlich hübsch zu Hause auf Wargamäe bleiben. Das ist für mich natürlich gut genug.«

»Hör mal, Ants, wie kommst du auf so etwas?« fragte Indrek betrübt und überrascht, denn es wollte ihm scheinen, als ob sich um den Mund des Bruders nun ein ähnlicher Zug zeige, wie er ihn vorhin bei der Mutter wahrgenommen. »Es ist nicht so, wie du zu denken scheinst. Wenn ich sage, ich bin Knecht, dann meine ich das im Ernst. Mehr noch, ich bin sogar Knechtesknecht. Oder weißt du, wie es mit meiner Schulung bestellt ist, mit der Schulung eines mittellosen Schülers? Ich und so mancher meiner Mitschüler müssen Dinge tun, die du sicherlich für entwürdigend halten würdest mit der Erklärung: das ist Weiberarbeit. Aber ich muß diese Arbeit leisten, um nur ein wenig lernen zu können.«

Aber was Ants nun sagte, erschien Indrek so erschütternd, so schrecklich, daß er keine Worte mehr fand und jedes gesprochene Wort bedauerte. Denn Ants sagte:

»Ich werde meinetwegen Abdecker, aber laßt mich nur etwas lernen.«

Dabei wandte er die Augen zur Seite und stand eine Weile eigensinnig vor sich hin glupend da, als bereite er sich zur Abwehr vor, um dann aber plötzlich kehrtzumachen und das Zimmer polternd zu verlassen, als empfinde er plötzlich Scham über seine Überschwenglichkeit.

Indrek fühlte sich zu Hause plötzlich fremd und angefeindet. »Also darum hat sogar der Hund mich in der Nacht so boshaft überfallen«, dachte er. Und auch die Landschaft, die ihn bei seiner nächtlichen Wanderung mit Entzücken erfüllt hatte, schien ihm nun fremd, denn wenn er hier nun davon hätte berichten wollen, so hätte man das ebensowenig verstanden, wie sein Geheimnis mit den Tassenhenkeln, die er sorgfältig in Seidenpapier gewickelt bei sich trug. Der Kuckuck mochte die ganze Nacht hindurch rufen, die Vögel im Moor ihre Stimmen erschallen lassen, wie besessen, die Schwalben zwitschern vom Morgen bis zum Abend, die Sonne am Himmel die rosa-weißen Wolken hüten –, die Menschen hatten mit all dem nichts zu tun, die hatten ihre eigenen Geschäfte, ihre eigenen Sorgen.

Nach dem Mittmorgen schlenderte Indrek längs dem Viehwege hinunter in die Koppel. Beim Anblick des Grenzgrabens, der schnurgerade nach dem Fluß hinabführte, beschloß er, dem Graben zu folgen. Aber die Grabenränder erwiesen sich als arg zusammengesunken, von den Frühlingswässern unterhöhlt und versumpft. Alles schien sich hier verändert zu haben. Oder täuschte ihn sein Gedächtnis? Hatte er sich selbst nicht vielleicht schneller und gründlicher verändert, als dieser Grenzgraben mit seinen versumpften Ufern?

Schweigend schritt er bis zum Flusse hinab. Aber hier, inmitten des frischen Grüns, vom blitzenden Wasserspiegel, über den die Schwalben unermüdlich hin und her huschten, geblendet, kam ihn die Lust an, seine Stimme hören zu lassen, als wolle er es den Vögeln gleichtun. Er stieß einen Juchzer aus, dann einen zweiten, als erwarte er von irgendwoher Antwort, aber da war niemand am Fluß, der ihm hätte antworten können, als die grauen Scheunen, die in unregelmäßiger Reihe den Fluß zu beiden Seiten begleiteten, so weit das Auge reichte, bis sie im gleißenden Sonnenglast und dem zitternden Dunst der Ferne verschwanden.

Aber dann kam doch eine Antwort, freilich nicht vom Flusse her, sondern aus dem Walde. Und ohne sich recht Rechenschaft darüber zu geben, wer da wohl rufen könne, begann Indrek direkt durch das Gestrüpp der Stimme nachzugehen. Als er eine Art Schneise erreicht hatte, machte er halt und blickte suchend nach rechts und links.

»Tiiu und Kadri natürlich«, murmelte er weiterschreitend.

»Wir dachten, jemand hätte sich vielleicht verirrt, findet nicht aus dem Busch«, erklärte Tiiu auf die Begrüßung des Bruders.

»Weißt du, was mit Polla ist?« mischte sich nun die zehnjährige Kadri ins Gespräch, als hätte sie eine höchst wichtige Neuigkeit zu berichten, die wichtigste, die sich seit dem Abschied des Bruders zugetragen, »Polla ist tot! Im Winter verschwand er plötzlich und blieb verschwunden. Wir dachten, der Wolf hat ihn geholt, und gingen die Spuren suchen, aber es war nichts zu finden. Und dann plötzlich im Frühling fanden wir ihn zwischen einer Schneewehe und einem Reisigbündel, die Schnauze voraus, als sei er selbst dahin gekrochen. Und der Vater meinte auch: Polla ist dahin gekrochen, um zu sterben. Er war schon älter als ich, darum. Hunde werden nicht so alt wie wir, sagt die Mutter. Ist das wirklich wahr, daß wir älter werden als die Hunde?«

»So ist es«, erwiderte Indrek, der sich auf einer höheren trockenen Bülte niedergelassen hatte, die Füße in der Sonne.

»Aber die Pferde? Sterben die auch früher als wir?« fuhr Kadri fort zu fragen.

»Ja, die auch«, bestätigte Indrek.

»Und die Schweine?«

»Die Schweine ebenso«, sagte Indrek.

»So daß wir also am längsten leben«, folgerte Kadri, und fragte dann geheimnisvoll flüsternd:

»Und die Gespenster? Wie lange leben die?«

»Die Gespenster?« wiederholte Indrek erstaunt.

»Ja, die Gespenster«, beharrte Kadri, indem sie ihre braune Wade kratzte. »Die Mutter sagt immer: wart', bis Indrek nach Hause kommt, dann frag' den, er weiß Bescheid.« Und dabei blickte sie den Bruder aus ihren braunen Augen ernst und unverwandt an.

Nun ergriff Indrek die Schwester bei ihren von Luft und Sonne braungegerbten Händen und zog sie auf seine Knie.

»Hast du schon mal gehört, daß ein Narr mehr fragen kann, als sieben Weise zu antworten wissen?« fragte er.

»Mutter sagt dasselbe«, lachte Tiiu nähertretend.

»Aber was lernt ihr denn da in der Stadt, wenn du das von den Gespenstern nicht weißt?« fragte Kadri.

»Was hast du denn im letzten Winter gelernt?« fragte Indrek dagegen.

»Russische Buchstaben«, versetzte Kadri. »Buchstaben lernt man doch in der Stadt nicht.«

»Ich habe doch nicht Buchstaben gelernt, sondern Worte«, mischte sich nun auch Tiiu wieder ins Gespräch.

»Dann werden in der Stadt also auch Buchstaben und Worte gelehrt?« verwunderte sich Kadri.

»Jawohl, nur Buchstaben und Worte«, versetzte Indrek wehmütig.

»Und immer nur auf russisch?«

»Nein, auch deutsch und lateinisch.«

»Was gibt es noch für Sprachen?«

»Englisch und französisch«, meinte Tiiu.

»Aber noch«, forschte Kadri, den Bruder erwartungsvoll anblickend.

»Furchtbar viele noch«, erwiderte dieser.

»Aber nenn mir eine, die ich noch nicht gehört habe.«

»Holländisch.«

»Das habe ich gehört«, rief Tiiu triumphierend.

»Herero«, sagte Indrek.

»Nein, das nicht«, bestätigten beide Schwestern.

»Aber gibt es solch eine Sprache, die weder du noch der Schulmeister gehört hat?« fragte Kadri.

»Sicherlich«, versetzte Indrek.

»Wie könnte wohl der Name solch einer Sprache sein?« verwunderte sich Kadri. Aber das wußte weder Tiiu noch Indrek, so daß sie also in dieser Sache, alle drei gleich dumm waren. Und dann setzte sich auch Tiiu neben den großen Bruder auf die Bülte und ließ ihre braunen Beine neben den weißen des Bruders in der Sonne baumeln.

»Sieh mal, Indrek, deine und unsere Beine«, sagte sie. »Wie des Teufels Faust und Gottes Hand.«

»Wie des Teufels Faust und Gottes Hand«, wiederholte Kadri, indem sie nun auch ihre Beinchen dicht neben die Beine des Bruders in die Sonne schob. Und nun kam das Gespräch auf die Beine. Kadri zeigte dem Bruder vor allem die große Eiterbeule unter der Sohle, derentwegen sie so viel geweint und Nächte hindurch gewimmert hatte, denn da wollten weder Wegerich, noch Sauerampfer, noch Klettenblätter helfen, weder Schweinespeckschwarte noch geweichtes Roggenbrot, das die Mutter aufgelegt hatte. Sie muß jetzt noch hinken und den Fuß schonen. Und dann zeigten sie Indrek das Nest eines kleinen Laubsängers, das einen verzwickten Eingang durch Gras und Moos hatte; und der Vogel selbst war so zahm, daß er Tiiu direkt in die Hand flog, als sie leise zum Nest schlich und ihre kleine braune Hand vor das Schlupfloch hielt. Weiter wurde Indrek eine hohe Bülte gezeigt, auf der die Schwestern schon mehrfach zwei große Schlangen gesehen hatten, und der Bruder sollte nun raten, wie man die Schlangen am besten erwischen könne: ob man mit einem scharfen Instrument einen Kreis um die Bülte ziehen solle, damit die Schlangen nicht entwischen könnten, oder ob man ihnen kleine Holzkreuzchen als Kopfkissen auf die Bülte legen sollte, wie der Kätneronkel sie gelehrt, wovon die Schlangen in tiefen Schlaf verfallen sollten, oder sollte man es mit Milchflaschen versuchen, in welche die Schlangen hineinkriechen, oder mit einem brennenden Strohwisch nach Sonnenuntergang, denn Feuer lockt Schlangen ja sogleich hervor, und dann hat man die Biester! Indrek riet dahingegen, einen scharfen Hund auf die Fährte der Schlangen zu setzen, der würde sie schon aus der Bülte stöbern, oder aber diese letztere zu zerstören; aber den Schwestern wollte weder dieser noch jener Vorschlag gefallen, denn einen solchen Hund hatten sie nicht, und wer könnte wohl diese riesige Bülte auseinanderreißen, zumal oben auf ihr noch Birken wachsen! Auch in manchen anderen Fragen war Indrek nicht imstande, seinen Schwestern behilflich zu sein, weder mit Wort noch mit Tat, so daß diese sehr bald dahinterkamen, daß es mit Indreks Schule in der Stadt doch eine etwas andere Bewandtnis haben müßte, als die Mutter es immer darstellte. Vielmehr schien dort nichts Rechtes gelehrt zu werden, wovon man im Leben Nutzen oder Hilfe gehabt hätte. Da wußte man weder etwas über das Alter der Gespenster noch den Namen der Sprache, die noch niemand gehört hat, nicht einmal der Schulmeister, noch wie man Schlangen aus einer Bülte herausstöbert. Einen Hund soll man haben! Aber das wissen Tiiu und Kadri auch ohnedies: hat man erst solch einen Hund, dann braucht man ihn nur an die Bülte zu setzen, wo er ein wenig scharrt und in die Bülte schnauft, und schon hört man es zischen und hat nun weiter nichts zu tun, als mit einem ordentlichen Stock in der Hand abzuwarten. Aber solch einen Hund haben sie eben nicht. Solch einen gibt es weder bei ihnen noch im Nachbarhof, weder in Aaseme, noch in Ämmasoo, noch in Soovälja oder Hundipalu. Auch aus Rava oder Kukkesaare ist von solch einem Hunde nichts zu hören gewesen, noch auch von jenseits der großen Wälder. Auf Kassiaru ist einer gewesen, aber der wurde toll. Riß die Schlangen, bis er den Verstand verlor, denn der liebe Gott wollte nicht, daß auf Kassiaru alle Schlangen verschwinden sollten: womit hätte man dann wohl seine Sünden büßen sollen! Gibt es Schlangen, so hat man weiter nichts zu tun, als in den Sumpf zu gehen, eine Schlange totzuschlagen, und schon sind dir neun Sünden vergeben. Hat man Glück, so trifft man auf zwei oder drei, und dann hat man allsogleich achtzehn oder siebenundzwanzig Sünden gebüßt. Und wieviel Sünden hat der Mensch denn schließlich! So reicht es für die Buße aller.

So verhält es sich mit den Schlangen, das wissen Tiiu und Kadri sehr genau. Sie wissen auch, daß der letzte Schlangenhund auf Kassiaru Loki hieß. Aber solch einen gibt es jetzt nicht mehr, denn jetzt ist es überhaupt nicht mehr so wie früher. Auch das wissen Tiiu und Kadri. Und darum eben wenden sie sich auch an den Bruder, der direkt aus der Stadt aus der Schule kommt, denn an irgend jemand muß man sich doch wenden. Aber da der Bruder nun auch nichts Rechtes zu sagen und zu raten weiß, sind die Schwestern natürlich enttäuscht, und Indrek versinkt wieder in die unerklärliche Wehmut, die ihn vorhin vom Hofe hinab ins Moor und an den Fluß getrieben hatte.

* * *

Wieder auf die Felder hinausgekommen, beginnt Indrek diese abzuschreiten. Am Grenzzaun gedenkt er all der Streitigkeiten und Prozesse, die wegen der Grenzen in Wargamäe entstanden sind und steigt dann nach kurzem Besinnen über den Zaun. Er bemerkt nicht das zarte, sanfte Rauschen des jungen Laubes der Erlen und Birken, unbewußt zieht es ihn wieder vom Rande der Felder weiter nach dem Sumpfe hin, wo hier und da Mandelweiden stehen mit ihren spitzen, glänzenden Blättern, die Indrek unwillkürlich zärtlich streichelnd berührt. In der Linken trägt er immer noch seine Stiefel, während die Rechte nach den frischen, saftigen, gleichsam harzigen Blättern hascht, die ihm hier und da zwischen den Fingern bleiben. Wie schön ist es, diese zarten, saftigen Blättchen in der Hand zu kleinen grünen Kugeln zusammenzuballen und den lebensfrischen Duft dieser saftigen Kügelchen einzusaugen.

So dahinschlendernd gelangt er bald wieder auf die Grenze hinaus und erblickt hier in einiger Entfernung am Graben Pearu. Im ersten Augenblick denkt Indrek daran, über den Graben zu springen und seinen Weg fortzusetzen, als habe er den Nachbar überhaupt nicht bemerkt, aber dann ruft er plötzlich, sich selbst unerwartet:

»Guten Tag auch, Nachbarvater!«

Pearu wendet sich um, und Indrek bemerkt, daß in seinem alten und sorgenvollen Gesicht – ja, heute sieht Indrek es deutlich, daß auch Pearus Gesicht alt und sorgenvoll dreinschaut, namentlich auf dem Hintergrund des frischen Grüns –, daß in diesem alten Gesicht ein freundliches, gleichsam dankbares Lächeln aufleuchtet. Das blitzende Weiß in den Augen ist verschwunden, die Augen sind ganz blau, als er sagt:

»Nanu, der Nachbar-Indrek ist auch mal aus der Stadt entlassen worden.«

»Ja, bei dem schönen Wetter geht es schon nicht anders«, versetzt Indrek.

»Naja, natürlich, im Frühling taugt es nichts, in der Stadt zu hocken, bei dem Staub und Gestank. Aber sieh mal, wie schattig und grün es hier ausschaut.«

Und dabei wies er in der Richtung, aus der Indrek gekommen war.

»Ich überlege eben gerade«, fuhr Pearu fort, »wie dieses Land gründlich zu entwässern wäre, denn hier ist Waldboden. Dein Vater ist da drüben mit dem Entwässern beschäftigt, aber ich gedenke hier damit zu beginnen, denn hier haben wir gerade den richtigen Waldboden.«

Hierauf wußte Indrek nichts zu erwidern, und als Pearu eine ganze Weile sich des längeren und breiteren über seinen Waldboden ausgelassen hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, ging er auf ein anderes Thema über, indem er sagte:

»Du lebst nun da in der Stadt, wo man die Blätter und Zeitungen hat. Was ist denn da zu hören? Gibt es bald wieder Krieg oder ...?«

Aber Indrek hatte nichts Derartiges gehört.

»Hundipalu, der weiß das immer, denn er bekommt die Blätter und alle diese Geschichten, aber ich habe ihn lange nicht mehr gesehen und weiß daher nichts«, erklärte Pearu.

Und damit fand ihr Gespräch für dieses Mal sein Ende, denn Indrek wünschte dem Nachbar einen guten Tag und setzte seinen Weg fort, während Pearu, seine sorgenvollen Überlegungen wieder aufnehmend, dort stehenblieb, wo Indrek ihn getroffen, an den Füßen hohe Wasserstiefel mit herabgerutschten Schäften, den Hemdensaum offen, so daß die Sonne seine nackte, behaarte Brust beschien.

Später im Sommer traf Indrek Pearu nochmals, und zwar im Gemeindehause, beim Schreiber, wo der Herr Nachbar wichtige Geschäfte zu erledigen hatte, und daher im Wohnstübchen des Schreibers ein tüchtiger Schluck gemacht werden mußte, so daß das Gespräch immer lauter und lebhafter wurde.

»Guten Tag auch, Nachbarsbalg!« rief Pearu, Indrek erblickend, indem er diesem die Hand hinstreckte, die Indrek erfaßte, wobei er mit einer gewissen Wehmut feststellte, daß Pearus Finger lange nicht so verkrümmt waren wie die des Vaters. Und dann sagte Pearu:

»Im vorigen Herbst sagte ich im Kruge deinem Vater, meinem lieben Nachbarn, diesem schweren Alten: Nun hast du deinen einen Sohn, den Seeräuber, fortgeschickt, am Staatstrog zu nagen, und den zweiten schickst du in die Stadt, Pferdedieb zu lernen – dich nämlich. Und weißt du, was der alte Andres, dieser Nachbarsmann, dein lieber Vater, mir darauf vor dem ganzen Kruge sagte? Du seist in die Stadt gezogen nicht Pferdedieb zu lernen, sondern Wahrheit und Recht zu studieren. Und da kamst du neulich über meinen Grund spaziert, die Stiefel in der Hand, die Hosen aufgekrempelt und rißt Blätter von den Bäumen, die du dann in den Graben warfst. Und ich stand da in der Nähe und beobachtete gerade meine Bienen, wie sie um die Weidenbüsche summten, und dachte mir: da sind sie nun, meine lieben Bienchen, fliegen und sammeln fleißig Honig in ihre Waben, und ich sehe bloß zu und warte ab, bis die Waben gefüllt sind, und gehe dann und hole mir den Honig. Aber da kamst du plötzlich aus dem Walde und wolltest über den Graben auf euren Grund hinüberspringen und so machen, als sei weder ich noch meine Bienen da um die Weidenbüsche auf der Welt. Flunker nicht, ich weiß Bescheid, genau so wolltest du es eigentlich machen, aber dann tatst du es doch nicht, sondern sagtest ... Aber weißt du überhaupt, was du mir sagtest, als ich da in der Sonne meine Bienen beobachtete? Du sagtest: ›Guten Tag auch, Nachbarvater! Guten Tag, Vater‹, sagtest du. Und ich erhob meine Stimme vor dem Herrn Jesus und sagte meinen Bienen: ›Liebes Bienchen, sieh dir doch mal diesen Mann da am Grabenrande an – denn du bist ja schon ein erwachsener Mann, Indrek –, siehst du ihn‹, so fragte ich angesichts meines Heilandes, ›und hast du gehört, daß er mir armen alten Manne, der von deiner fleißigen Arbeit leben will, o Biene, daß er mit lauter und heller Stimme sagte: ›Guten Tag, Vater!‹ Weißt du was, mein Sohn, meines lieben Nachbars Sohn, was ich mir da dachte, als du mich so an meinem Graben begrüßtest, denn das ist mein Graben, die ausgeworfene Erde liegt sogar auf meinem Lande? Ich dachte mir: ›O du Herr der Heerscharen, das ist ja die Stimme der alten seligen Kreet, justament die helle Stimme der Seligen, die mich da aus ihres Herzens Grunde grüßt. Aber die haben wir schon lange beerdigt, und ich habe ihr selbst den Weg bereitet, auf daß sie es im Sarge wenigstens etwas ebener zu fahren hätte, als sie Abschied nahm von Wargamäe, wo sie sich genügend abgeplagt und geschuftet hat. Aber der alte Andres nahm mir das übel, denn die selige Kreet war seine erste Frau und Herrin auf Wargamäe, wie es eine zweite nicht mehr gibt.‹ So dachte ich mir dort am Grabenrande bei meinen Bienen und sagte: ›Des Herrn Wege sind wunderbar, Kyrie eleison, habe ich doch diesen jungen Mann, der mit der Stimme der seligen Kreet redet, einen Pferdedieb gescholten, und er nennt mich nun Vater, so daß ich also ein Pferdediebvater wäre.‹ Und sieh mal, Indrek, dein Vater war im vorigen Herbst vom Geiste Gottes besessen, als er mir vor dem Krugsschanktisch sagte: dieser mein lieber Sohn wird euch Wahrheit und Recht verkünden. Und dann sprangst du über meinen Graben, als hättest du das in der Stadt gelernt und riefst mit der hellen Stimme der seligen Kreet, die doch gar nicht deine Mutter war: ›Guten Tag auch, Nachbarvater!‹ Warum tatst du so, o Jüngling? Warum tatst du so, dort am Grabenrande, im Scheine der Sonne?«

»Eben darum, weil ich kein Pferdedieb bin«, sagte Indrek scherzend.

»Richtig!« rief Pearu, gleichsam erfreut, »du bist kein Pferdedieb, und du wirst auch keiner werden. Aber wenn du wieder mal nach Wargamäe kommen solltest und mich armen alten Mann irgendwo erblickst, nur von weitem erblickst, dann geh nicht so an mir vorüber, sondern begrüß mich immer. Ruf wenigstens von weitem: ›Guten Tag, Nachbarvater!‹, und ich will meinen Söhnen und Töchtern sagen, daß sie auch deinen Vater so begrüßen. Und wenn er auf ihren Gruß nicht achten sollte, so tut das nichts, denn sie haben nicht so helle Stimmen wie die Söhne und Töchter meines schweren Nachbarsmannes. Das heißt, eigentlich hatte nur die verstorbene Kreet solch eine helle Stimme, wenn sie die Schweine lockte und ...«

Hier unterbrach der Schreiber Pearu, indem er ihn mit sich zog, denn sonst hätte dieses Gespräch nie ein Ende gefunden.

* * *

Die Sonne war schon tief gesunken, als Indrek heimkam. Die Mutter war gerade dabei, Wäsche auf dem Zaune auszuhängen. Als sie Indrek erblickte, sagte sie:

»Zum Glück fiel es mir noch rechtzeitig ein, aus deinem Bündel die Hosen und Hemden hervorzusuchen. Sie sind schon so unscheinbar geworden, daß ich recht erschrak. Sie waren doch ganz neu und aus reinem Leinen, und nun sind sie schon durch! Da ist natürlich die Stadtwäscherin schuld. Wer wäscht denn da für dich?«

»Es kommt eine Wäscherin zu uns«, versetzte Indrek, »die bringt die frischgewaschene Wäsche und nimmt die schmutzige mit sich.«

»Die ist dann daran schuld«, meinte die Mutter. »Unter meinen Händen halten die Sachen jahrelang vor. Du mußt ihr sagen, daß die Leinensachen auch so rein werden und nicht so furchtbar gescheuert zu werden brauchen. Aber fang nur deswegen nicht an, in schmutziger Wäsche herumzulaufen; sonst bekommst du noch Ungeziefer, Gott schütz! Ich will versuchen, dir zum Herbst einige neue Hemden zu machen, ich habe noch feines Linnen da. Die hier lasse ich zur Nacht unterm Tau, das ist gut für sie, das gibt es in der Stadt nicht. Morgen flicke ich sie dir, bevor du abziehst.«

Liine, die die letzten Worte der Mutter gehört hatte, trat näher und fragte:

»Du willst Indrek aus dem feinen Leinen, das du in der Truhe hast, Hemden machen? Aber du hast dieses Zeug doch mir versprochen.«

»Dir weben wir neues, Kind«, sagte die Mutter.

»Aber das wird ja doch erst im nächsten Jahre fertig«, sagte Liine.

»Was tut das?« meinte die Mutter, »du gehst ja nächsten Winter noch nicht zur Konfirmandenlehre.«

»Aber wann denn?« rief Liine. »Die anderen gleichaltrigen Mädchen werden alle im nächsten Winter zur Lehre gehen, warum soll ich dann allein zurückbleiben?«

»Das macht doch nichts aus, wenn du ein Jahr später konfirmiert wirst. Du wirst doch nicht gleich heiraten wollen.«

»Aber ich will diesen Winter konfirmiert werden, zusammen mit den anderen«, erklärte Liine bestimmt, »und darum muß dieses Hemdenzeug für mich bleiben.«

»Liebes Kind«, ermahnte sie die Mutter, »wie sprichst du? Du sollst doch nicht ohne Zeug bleiben, aber Indrek hat die Hemden doch gleich nötig, denn er muß doch in die Stadt. Da geht es nicht ohne Hemden, wir hier auf dem Lande können uns schon irgendwie durchschlagen.«

»Natürlich«, versetzte Liine spöttisch, »wer in die Stadt zieht und dort faulenzt, der muß alles bekommen, die anderen können warten, bis sie schwarz werden.«

Damit wandte sie sich kurz um und ging zum Speicher hinüber, wo einstmals Liisi und Maret im Frühling und Sommer zu sitzen liebten, um von Dingen zu reden, von denen Indrek damals noch nichts verstand, oder die er doch zum mindesten nicht hören sollte. Nur auf den Reisigbündeln unter dem Vordach der Tenne durfte er sitzen und nach dem Speicher hinüberschielen, hier konnte er die Worte der Schwestern nicht verstehen, nur ihren Gesang und ihr Lachen hören, die ihn so seltsam erregten.

Aber Liine begann nicht im Speicher zu singen, vielleicht weil sie allein war, oder war es darum, weil sie immer noch an das Leinen dachte, aus dem sie sich gerne Konfirmationshemden gemacht hätte. Denn wie soll man mit so schwerem Herzen singen. Das versteht auch Indrek, und darum kommt er herüber und setzt sich auf die Speichertreppe vor die geöffnete Tür, auf welche der blutrote Schein der sinkenden Sonne fällt. Da sitzt er und sieht zu, wie die Schwester in ihrer Truhe kramt, die früher Marets Truhe war. So sitzt er da und wartet, wartet und sieht der Schwester zu, genau wie dazumal, als er noch klein war und die Schwestern schon groß.

»Bist du mir böse, Liine?« fragte er schließlich, als die Schwester nicht weiter acht auf ihn gibt.

»Warum sollte ich dir böse sein?« versetzt das Mädchen schmollend.

»Nun, eben dieses Hemdenstoffes wegen«, meint Indrek.

»Der gehört ja nicht mir, sondern der Mutter, mag die damit tun, was ihr beliebt.«

»Aber wenn sie ihn dir doch versprochen hat.«

»Versprochen«, sagt Liine spöttisch. »Man verspricht viel. Wenn von dir etwas übrigbleibt, dann werde auch ich schon noch was kriegen; die anderen erhalten ja stets das, was du übrigläßt.«

Diese Worte gingen Indrek schmerzlich zu Herzen, und er erwiderte der Schwester:

»Ich will der Mutter sagen, daß ich keine Hemden aus dem Stoff mag; dann brauchst du nächsten Winter nicht aus der Konfirmandenlehre fortzubleiben.«

Und damit erhob er sich von der Speichertreppe, als hätte er der Schwester nun weiter nichts mehr zu sagen.

»Du gehst schon?« fragte diese. »Ich dachte, du bleibst noch ein Weilchen.«

Indrek empfand deutlich, wie dankbar die Schwester ihm für seine Worte war. Gewiß, nun hätte er hier noch lange sitzen können und mit der Schwester plaudern, bis zum Erlöschen des Abendrots, aber nun mochte er das nicht mehr, denn im blutroten Schein der sinkenden Sonne war ihm plötzlich Kadris Bericht über den Hund eingefallen, der sich im Winter zwischen Schneewehe und Reisigbündel verkrochen hatte, um hier zu sterben. Und dieser Hund benahm ihm die Plauderfreude. So war in Wargamäe noch nie ein Hund verendet, auch sonst nirgends, soviel Indrek wußte. Und zugleich mit diesem Hunde war in Wargamäe auch noch etwas anderes gestorben, das empfand Indrek deutlich.

Liine trat auf die Stufen der Speichertreppe hinaus und blickte dem Bruder nach, der nicht weiter auf sie achtete. Dann trat sie in den Speicher zurück und setzte sich auf den Rand der offenen Truhe, wo sie eine Weile sitzenblieb. Aber sei es nun, daß die Truhenkante gar zu scharf war oder die Freude über das Leinenzeug gar zu groß – Liine brach plötzlich in Tränen aus, und nun war in ihren Zügen auch nicht eine Spur jenes Eigensinns mehr zu entdecken, der sich noch eben in ihrem ganzen Wesen ausgeprägt hatte. Unterdessen war Indrek direkt zur Mutter gegangen und sagte ihr:

»Laß das Zeug doch lieber für Liine, damit sie nächsten Winter die Lehre besuchen kann.«

»Aber du lieber Himmel, wo nehme ich dann für dich das Zeug her?« rief die Mutter erschrocken.

»Einerlei von wo«, versetzte Indrek, »dann bleibe ich lieber ohne neue Hemden, aber dieses Zeug mag ich nicht, diese Hemden werde ich nicht tragen.«

Und damit ging er.

Nun begannen auch der Mutter die Tränen zu fließen, und sie flossen noch beim Melken, als bedaure sie das gute Braunchen und das muntere Rotchen, daß sie ihre Milch hergeben mußten, während ihre Kälber Mehltrank bekommen, dem bloß eine Bütte saurer Milch zugesetzt wird, um ihn ein wenig schmackhafter zu machen. Braunchens Kalb weniger, denn es ist älter, Rotchens Kalb mehr, denn es ist jünger und schwächlicher.

So herrschte in der Familie ein wenig dicke Luft, und keiner hatte dem anderen etwas Rechtes zu sagen. In dieser Stimmung ging man auch Sonnabendabend zur Ruhe. Am folgenden Morgen wurde Indrek durch das ferne Läuten der Sonntagsglocken geweckt, das feierlich über das Moor herüberhallte. Rasch erhob er sich, kletterte vom Heuboden herab und begab sich barfuß und in Hemdsärmeln an die Hofpforte, als gäbe es da etwas zu sehen. Da stand er nun, als habe er irgendwie teil an der Stimmung jenes Knaben, der einmal weinend hier gesessen hatte, einen bellenden Hund zur Seite. Aber Indrek weinte nicht, er stand bloß so da. Und neben ihm bellte auch kein Hund, sondern er stand mutterseelenallein da, während jeder neue Glockenschlag sein Herz gleichsam sanft schmerzlich erzittern ließ. So läuten die Glocken nur auf Wargamäe, sonst nirgends auf der weiten Welt. Nur einem Meister, und auch diesem nur ein einziges Mal im Leben ist es gelungen, solch wunderbare Glocken zu gießen. Viele schöne und kostbare Dinge gibt es auf der weiten Welt, aber nirgends finden sich solche Sonntagmorgen und solche Glocken, denn wo gäbe es sonst solche Sümpfe und Moore, die den Glockenton so widerhallen lassen. Das weiß Indrek nun, denn nun hat er in der Stadt gelebt und dort auch noch andere Kirchenglocken gehört. Und darum hat er nun die Empfindung, daß er immer arm bleiben wird, auch wenn das Schicksal ihn mit Schätzen überhäufen sollte, denn wo sollte er wohl die Sonntagmorgen und Kirchenglocken von Wargamäe hernehmen ...

Wer weiß, wie lange Indrek da noch an der Pforte gestanden und über das Moor hinaus geträumt hätte, wenn nicht der Vater aus der Pferdekoppel gekommen wäre und gefragt hätte:

»Wonach lugst du denn da so scharf aus?«

»Nach nichts, ich lauschte nur den Kirchenglocken«, erwiderte Indrek.

Der Vater machte halt, als wolle auch er den Glocken lauschen, die heute so läuten, daß sie das Herz sanft schmerzlich erzittern lassen, aber nach einer Weile sagte er:

»Die Glocken läuten gar nicht mehr, vorhin drüben hörte ich sie noch.«

Und tatsächlich, die Glocken waren schon lange verstummt, aber Indrek wollte es immer noch scheinen, als läuteten sie irgendwo tief in seinem Inneren, im Kopf oder in der Brust.

»Hast du es nun in der Stadt auch ein wenig leichter als daheim?« fragte der Vater nach einer Weile.

»Das ist schwer zu sagen«, murmelte Indrek.

»Ich denke manchmal, wenn du dir doch wenigstens ein wenig leichter dein Brot verdienen könntest als wir hier, dann hätten alle diese Sorgen und Ausgaben doch einen Sinn, aber sonst ...«

Der Vater ließ es ungesagt, was sonst wäre.

»Vielleicht gelingt es mir allmählich«, meinte Indrek schließlich.

»Ich habe es wohl schwer gehabt«, fuhr der Vater gleichsam zu sich selbst gewandt fort, »und ich sehe wohl auch früher keine besseren Tage, als bis man mir die Hände über der Brust falten wird. Vielleicht wird es dann leichter. Aber man muß sich schon durchfressen. Was über die Kräfte geht, bleibt ungetan.«

»Du hast schon ohnehin über deine Kräfte gearbeitet, Vater«, sagte Indrek gleichsam zum Trost. Das hörte der Vater aus seinen Worten heraus, und er sagte beinahe ergriffen, als habe auch er dort an der Hofpforte unter der Eberesche die dunkelsten Glocken der Welt gehört:

»Glaub mir, mein Sohn, hier auf dieser Welt muß man immer über seine Kräfte arbeiten, wenn man etwas erreichen will. Und selbst dann ist es noch zu wenig, selbst dann erreicht man nicht das, was man erstrebt.«

* * *

Die Kirchenbesucher waren, von der Kirche zurückkehrend, schon zum größten Teil an der Hofpforte des Wargamäe-Vorderhofes vorübergekommen, als Indrek sein Bündel schulterte, um sich nach der Bahnstation auf den Weg zu machen.

Die Mutter hatte sich schon lange mit betrübter Miene um den scheidenden Sohn zu schaffen gemacht, als wollte sie ihm etwas sagen, oder als erwarte sie, daß er ihr etwas Besonderes zu sagen habe. Aber der Sohn schwieg, und auch der Mutter wollten die Worte nicht von den Lippen. Erst als der Sohn schon die Pforte hinter sich hatte und diese bereits wieder eingehakt war, und Indrek sich schon zum Gehen wandte, fragte die Mutter ihn noch durch die Pfortenstäbe:

»Indrek, willst du denn diese Hemden wirklich nicht haben, wenn ich sie dir fertig mache?«

Von irgendwoher war plötzlich auch Liine neben der Mutter an der Pforte aufgetaucht, schon so lang wie die Mutter, ein wenig länger sogar, wie es Indrek scheinen wollte, aber die Augen ebenso braun. Und auch sie wandte sich durch die Pfortenstäbe an Indrek, indem sie sagte:

»Weißt du, was wir gemacht haben?« erklärte sie, gleichsam ein großes Wunder verkündend, »wir haben das Zeug zur Hälfte vermessen, genau zur Hälfte, mir nur ein wenig, ein ganz klein wenig mehr. Und so erhalten wir jeder zwei Hemden. Bist du damit einverstanden? Es kommt gut aus. Du glaubst es wohl nicht? Komm selbst sehen, komm in den Speicher!«

Und schon hatte sie die Pforte geöffnet und den Bruder bei der Hand ergriffen, um ihn zurück auf den Hof und in den Speicher zu führen, wo an der einen Wand die Strömlings- und Fleischtonnen standen und der große Hackblock und an den Wänden allerlei Geräte hingen, an der anderen Wand aber eine kleinere und eine größere Truhe mit bemaltem, knarrendem Deckel stand. Diesen letzteren riß Liine mit solch einem Schwung auf, daß er nur gleichsam einmal aufächzte, und dann begann sie geschwind, vor den Augen des Bruders das Zeug zu vermessen. Vielleicht hätte es Indrek gar nicht so weit kommen lassen, aber aus der geöffneten Truhe schlug ihm ein Duft entgegen, den er bloß hier gespürt hatte, und das stimmte seinen Sinn versöhnlich. Und so ließ er es geschehen, wie Mutter und Schwester wünschten. Und dann hörte er die Stimme der Schwester wie durch einen Nebel sagen:

»Da, miß nun selbst, wenn du mir nicht glauben willst, dann wirst du sehen, daß es auskommt, daß es gut auskommt, so daß du in die Schule kannst und ich in die Lehre. Und nun paß mal auf: ich schneide hier vor deinen Augen meinen Teil ab und schieb ihn in meine Truhe, und dein Teil bleibt hier. Richtig, nicht? Genau zur Hälfte. So daß keiner sich zu beklagen hat.«

Und Indrek beklagte sich auch nicht. Nun nicht mehr, nachdem er zwischen Mutter und Schwester hier an dieser wunderlich duftenden Truhe gestanden hatte.

»So daß ich dir nun also diese zwei Hemden fertig machen kann«, sagte nun die Mutter.

»Aber natürlich, du machst sie fertig, und ich trage sie zuschanden«, sagte Indrek zärtlich.

»Ich sagte es doch, damit wird Indrek einverstanden sein!« rief Liine fröhlich. Und als Indrek sich nun zum zweiten Male zum Gehen wandte, sagte sie: »Gib mal dein Bündel her, ich komm dich begleiten und trag es dir ein Stück Weges.«

Und so gingen Bruder und Schwester einig nebeneinander von Wargamäe hinab, das Bündel auf dem Rücken der Schwester, die Gesichter beider fröhlich lächelnd, als hätten sie beide ein großes Glück gefunden. Und mit lächelndem Munde stand auch die Mutter an der Pforte und blickte ihren Kindern nach. Und als sie sich am Abend dann unter Braunchen und Rotchen auf den Melkschemel niederhockte, bedauerte sie es auch nicht einen Augenblick, daß die warme Milch aus ihren schwellenden Eutern in den Melkkübel floß und nicht in die Mäuler der Kälber, so daß die Wargamäe-Marie heute vielleicht sogar mit lächelndem Munde zur Ruhe gegangen wäre, als wäre sie hier gar nicht mehr Bäuerin, sondern wieder die junge Magd, die hier einst vom Morgen bis zum späten Abend geträllert und gesungen hatte. Aber dann geschah es, gerade als der Melkkübel gefüllt war, so daß der grellweiße Schaum schon über die Ränder des Gefäßes stieg, daß Braunchen den Kübel mit einem Schlage ihres dreckigen Beines umstürzte, denn Marie hatte am Morgen vergessen, ihre geplatzten Zitzen mit Fett einzureiben.

»Lieber hätten die Ferkel oder die Kälber die Milch haben sollen«, schloß Marie ihre Schimpfrede an die Adresse Braunchens und fügte dann belehrend hinzu: »Da haben wir nun die Freude eines alten Menschen! Die Milch ist verschüttet, und alles bleibt ohne. Geh du noch lachen und dich freuen.«

Und so kam die Wargamäe-Marie auch an diesem Sonntagabend nicht mit lächelndem Munde zur Ruhe.


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