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XIII

So zog der Frühling ins Land. Aber Indrek bemerkte es nicht. Erst als er mal mit den anderen vor die Stadt hinausgezogen war und von ferne die weiten Fluren erblickte, fiel ihm plötzlich ein, daß es Frühling geworden sei.

»Nun wird man den Fluß bald über die Moorbirken hinweg erblicken können«, dachte er, der Heimat gedenkend. »Ja, nun wird man ihn schon bald vom Hofe aus erblicken, wenn die Sonne so warm scheint und solch ein Wind weht.«

Und gleichsam zum ersten Male in seinem Leben erfaßte er es recht, wie der Fluß im Frühling von Wargamäe aus sichtbar geworden war, anfangs durch und über die Moorbirken, wenn diese noch dürr dastanden, und später, wenn sie sich mit dem ersten Grün zu schmücken begannen. Das schimmernde Band des Flusses glänzte wersteweit, so daß die Augen geblendet wurden. Als wäre die Sonne selbst vom Himmel gestiegen und spazierte auf den Wogen des Flusses dahin, der sich durch die Moore und Sümpfe windet, durch Wälder und Fluren, immer weiter, immer weiter, wohl gar bis ans Ende der Welt. Nur durchs Meer, da kann der Fluß wohl nicht hindurch, auch im Frühling nicht, wenn er aufs Meer trifft, dann muß er haltmachen.

Ja, nur im Frühling schickt der Himmel die Sonne längs dem Wargamäe-Flusse spazieren, damit auch die Bewohner von Wargamäe es merken und spüren möchten, daß sie nicht ganz verlassen sind. Früher hatte Indrek das nicht begriffen, er erfaßte es erst jetzt. Und sogar auch die anderen, die mit ihm waren, schienen etwas davon zu ahnen, und so marschierten sie eine Weile stumm nebeneinander dahin, wie Weise, die eine neue Wahrheit gefunden haben.

Mit welchen Hoffnungen und Plänen war Indrek doch hierher gekommen, und wie anders hatte sich dann doch alles gestaltet! Etwas Großes hatte er gewollt, etwas Großes und Schönes, und nun war das Jahr dahingegangen, als habe er nach Wind gehascht. Die gehobene Stimmung, die frohen Erwartungen waren im Gestrüpp des Alltags erstickt. Und geradezu wunderlich deuchte ihm die Tatsache, daß von Bedeutung eigentlich nur dieses erscheinen wollte, daß er ein halbes Jahr über Brot gesäbelt und Teller, Messer, Gabel und Tassen ohne Henkel aufgedeckt habe. Und nun lagen am Boden seiner Kiste zwei Tassenhenkel.

Eines Nachmittags erschien Herr Maurus in Begleitung Herrn Ollinos unten im großen Zimmer, hieß die Jungen antreten und erklärte in feierlichem Tone:

»Hier sind Sachen abhanden gekommen. Herr Maurus weiß ungefähr, wo, wie und wann. Aber da er die Gerechtigkeit liebt, so öffnet mal eure Kisten: Herr Maurus will nachsehen, was ihr da habt.«

Die Jungen blickten sich ratlos an. Erst als Herr Ollino den Befehl wiederholte, wurden die Kisten geöffnet. Indrek kam sogleich der Gedanke: sie suchen die Tassenhenkel, sie haben irgendwie von Ramildas Stückchen erfahren. Als Ollino sich an seine Kiste als erste machte, schwand ihm jeder Zweifel an dieser Kombination.

Wer sucht, der findet, und so fand denn Ollino auch die Tassenhenkel, die er aus der sie umgebenden Hülle schälte, um sie dann Herrn Maurus zu überreichen.

»Was ist das?« fragte dieser.

»Augenscheinlich Tassenhenkel«, meinte Ollino, Indrek schmunzelnd anblickend.

»Was ist das?« wandte sich der Direktor nun an Indrek.

»Herr Ollino sagte es schon«, versetzte Indrek.

»Was sind das für Tassenhenkel, und was haben sie zu bedeuten?« fragte der Direktor.

Indrek schwieg.

»Ach, Sie sind also der Übeltäter, der den Tassen ihre Ohren abbricht«, schrie der Direktor. »Sie langer Lümmel! Sie, der mir den alten Herrn Schulz verjagt hat! Sie ...«

»Das sind nicht die Henkel Ihrer Tassen«, sagte Indrek.

»Aber wessen denn? Wo haben Sie sie her?« fragte der Direktor erstaunt.

»Das kann ich dem Herrn Direktor nur unter vier Augen sagen«, erwiderte Indrek.

»Herr Maurus hat keine Geheimnisse«, sagte der Direktor. »Mein Haus liegt wie unter einer Glaskuppel da, jeder, dem es beliebt, darf hier hereinblicken, denn hier herrschen Wahrheit und Recht.«

Aber Indrek schien auf Wahrheit und Recht keine großen Stücke zu halten, denn er schwieg beharrlich, so daß Herrn Maurus nichts anderes übrigblieb, als mit ihm ins Nebenzimmer zu gehen, wo Indrek ihm denn schließlich folgende Erklärung abgab:

»Zu Hause hatte ich vor meiner Abreise versehentlich zwei Tassen die Ohren abgebrochen, und meine Mutter meinte damals, das bringe Glück und wickelte darum die Ohren ein und schob sie mir in meine Kiste. Der Mutter wegen wollte ich das vor den anderen nicht erzählen, Herr Direktor.«

»Nun gut, wenn das die Glücksohren Ihrer Mutter sind«, sagte der Direktor, »aber passen Sie nur gut auf, daß sie Ihnen nicht noch Unglück bringen.« Mit diesen Worten, die scherzhaft gemeint schienen, wandte sich der Direktor um und ging ins große Zimmer hinüber, wo er Ollino sagte:

»Geben Sie Paas seine Sachen zurück.«

Ollino war gerade dabei, die Tassenhenkel genauer zu betrachten, als fände sich an ihnen etwas Besonderes, oder als ahne er ihre Bedeutung. Als Indrek die Henkel wieder einwickelte, fragte er:

»Ein Talisman vermutlich?«

Das Wort Talisman gefiel den Jungen so gut, daß sie Indrek von nun ab diesen Spitznamen zulegten. Er hieß von nun ab der Talisman, aber nicht mit einem, sondern mit zwei L.

So kam Indrek durch diese Tassenhenkel in jedermanns Mund, überhaupt brachte die Durchsuchung der Kisten seltsame Dinge an den Tag, von denen noch lange die Rede war. So begrüßte man es als große Abwechslung, als der Direktor eines Abends eine seiner pädagogischen Reden mit den Worten schloß: »In Petersburg liegt Professor Köler im Sterben. Versteht ihr? Professor Köler, unser letzter großer Mann, ein aufrichtiger Freund des estnischen Volkes! Und Doktor Hurt auch.«

Am Tische saßen nur wenige, die Professor Köler überhaupt nur dem Namen nach kannten, und noch wenigere waren es, die gewußt hätten, was er geleistet hatte. Darum wurde auch auf diese Nachricht kaum geachtet, es sei denn, daß diesem oder jenem der Titel Professor in die Ohren fiel, der eine gewisse Ehrfurcht erweckte. Aber am nächsten Morgen bei der Andacht erwähnte der Direktor die Sache aufs neue, und nun klang aus seinen Worten deutliche Anteilnahme, als er sich in estnischer Sprache mit folgender Ansprache an die estnischen Schüler wandte:

»Was soll auf diese Weise aus uns werden? Wenn alle sterben, die uns lieb haben. Soll unser Volk deswegen zugrunde gehen? Mit nichten! Wenn die Männer, die unser Volk lieben, sterben, dann müssen wir selbst unser Volk lieben, wie diese Großen es geliebt, die schon gestorben sind oder im Sterben liegen. Alle müssen wir diese Liebe haben, alt und jung, groß und klein. Ja, auch die Kleinen müssen lieben, als seien sie groß, denn in der Liebe können auch die Kleinen groß sein, die allergrößten. Und sagen Sie mir nun, hat das Volk etwas zu fürchten, wenn wir es von ganzem Herzen lieben, wenn es sich selbst von ganzem Herzen liebt? Nein, solch ein Volk hat nichts zu fürchten. Und darum, Jungen, liebt euer Volk, liebt euch selbst, wie der Engländer, der Deutsche sich lieben.«

Als die Todesnachricht eintraf, trug der Direktor für die Veranstaltung einer kirchlichen Gedächtnisfeier Sorge, die alle estnischen Jungen mitmachen sollten. Zu diesem Zweck wurden die Knaben in einer langen Reihe paarweise vor dem Schulhause aufgestellt, die Kleineren vorn, die Größeren dahinter; Herr Maurus schritt als Anführer voran, Ollino hinterdrein, gleichsam als Aufseher, um zu verhindern, daß jemand hinter Herrn Maurus' Rücken das Weite suchte. So marschierte man in geschlossenem Zuge durch die Stadt, so daß alle Welt sehen konnte, wie Herr Maurus mit seinen Zöglingen unterwegs sei, Professor Kölers Gedächtnis zu ehren.

In der Kirche vor dem Altar wartete bereits der alte grauhaarige Pastor, als Herr Maurus das Gotteshaus mit seiner Knabenschar betrat, die er in die Nähe des Pastors führte, der, auf das Altarbild weisend, sagte:

»Liebe Kinder, der Mann, der dieses Bild geschaffen hat, ist nun tot. Sein Fleisch ist sterblich, aber sein Geist lebt in dieser Heilandsgestalt hier auf dem Altar. Beugen wir uns vor diesem lebenden Geiste und bitten wir für das sterbliche Fleisch.«

Hierauf kehrte der Pastor ihnen den Rücken und sank in die Knie, und seinem Beispiel folgte Herr Maurus und nach ihm seine Zöglinge. Aber es währte eine geraume Weile, bevor der Pastor zu reden begann, als gebräche es ihm an Kraft. Indrek war im Zweifel, ob der Pastor überhaupt reden würde oder ob jeder für sich selbst beten solle. Und eben dieser Zweifel schien auch an den übrigen Jungen zu nagen, denn Indrek hörte, wie Wainukägu, der neben ihm kniete, begann, das »Vaterunser« zu sprechen, und so hielt er es denn für geraten, seinem Beispiel zu folgen. Aber er hatte sein Gebet noch nicht beendet, als der Pastor seinen alten, müden Mund öffnete, um zu reden. So blieb Indreks Gebet halb, denn es schickt sich doch wohl nicht, in der Kirche für sich zu beten, wenn der Pastor für alle das Gebet spricht.

Als Indrek die beiden alten Männer vor dem Altare knien sah und den sonderbaren Tonfall des einen hörte, der bei jedem Satzschlusse in die Tiefe sank, als sinke er ins Höllengrab, ja, als er das hörte und bemerkte, daß der andere, der doch stets zu reden liebte, nun ganz stumm auf den Knien lag, da ergriff ihn plötzlich eine unerklärliche Wehmut. Nur mit knapper Not gelang es ihm, die Tränen zurückzuhalten und auch das nur deswegen, weil er sich vor den anderen schämte – vor den Mitschülern sowohl als auch vor Ramilda, die mit der Tante auf dem Chor saß und doch von oben herab hätte bemerken können, daß er vor dem Altar, auf den Knien liegend, den Rücken dem Chor zugewandt, Tränen vergieße. Aber als alles sich dann wieder erhob und Indrek wahrnahm, daß sowohl der Pastor als auch Herr Maurus sich die Augen wischten, da bedauerte er es, keine Ursache zu haben, das nämliche zu tun. Beim Verlassen der Kirche hatte er die Empfindung, als habe er sich selbst den schönsten Augenblick seines Lebens verdorben, und so ging er heim, trauriger, als er gekommen.

Ihn quälte ein Gedanke, eine Empfindung, die er nicht los werden konnte: alles, was schön und groß war in dieser Welt, lag in der Vergangenheit. Das Schöne und Große ist tot. Die schönen und großen Zeiten sind vorüber. In die Stadt ist er zu spät gekommen, gleichwie er auch zu spät nach Wargamäe gekommen war. Und immer wieder erhob sich in ihm die Frage: gibt es denn jetzt wirklich nichts Großes und Schönes mehr? Kreutzwald ist gewesen, und Köler, und nun ist Schluß? Goethe, Schiller, Puschkin sind gewesen, und nun gibt es niemanden mehr. Ja, Tolstoj gibt es noch, aber den darf man nicht lesen, es sei denn heimlich. Alles, was groß und schön ist, muß geheim betrieben werden; erst wenn es schon tot ist, darf es an die Öffentlichkeit. Wie zum Beispiel Köler: Indrek hatte früher nie etwas von ihm gehört, aber kaum war er tot, so sprach gleich alle Welt von ihm, so daß man ihn nun nicht mehr vergessen konnte. Als würde ein Mensch erst im Tode richtig und eigentlich lebendig! Das war alles so wunderbar, daß einem beinahe die Lust ankommen konnte, solch ein lebender Toter zu werden. Ganz gleich, was man getan oder wie man gelebt hätte, wenn man bloß im Tode dieses eigentliche Leben gewinnen würde. Solch ein dummer und sonderbarer Wunsch tauchte in Indrek auf, als er die Kirche verließ, wo er seine ungeweinten Tränen verschluckt hatte.

»Haben Sie auch in der Kirche geweint?« fragte Ramilda Indrek am nächsten Tage.

»Nein«, bekannte Indrek.

»Aber Papa hat geweint, und auch der Pastor hat sich die Augen gewischt«, erklärte Ramilda. »Köler war ihr Freund. Ich hätte gerne auch geweint, aber es ging nicht. Und wissen Sie warum? Ich habe Köler mehrfach gesehen, schon von Kind auf, und wenn man jemand so oft gesehen hat, dann kann man seinetwegen nicht so recht weinen. Gerade wenn man so weit ist, daß man meint, nun kommen die Tränen, fällt einem plötzlich etwas ein und lenkt die Gedanken ab. Von Köler fiel mir sein dünner Bart ein, und das ließ mir die Tränen gleich vergehen. Ich dachte mir, wie sollte ich wohl über ihn weinen, wenn er solch einen dünnen Bart hatte. Dumm, nicht wahr? Später gelang es mir freilich, seinen dünnen Bart zu vergessen, ich nahm mich einfach zusammen und vergaß ihn eben, aber dann fiel mir ein, wie er einmal bei uns einnickte, erst vor wenigen Jahren war das. Sein Mund stand ein wenig offen, und in seinen Zügen malte sich eine furchtbare Gleichgültigkeit. Und kaum fiel mir das ein – mir fiel übrigens noch etwas ein, aber das kann ich eben nicht sagen –, also, als mir das einfiel, was ich sagen kann, wollte es mir plötzlich scheinen, als trüge der von ihm gemalte Heiland seine eigenen Züge, und daß, wenn der Heiland etwa einnicken sollte, rein zufällig etwa, auch sein Mund so furchtbar gleichgültig ein wenig offenstehen könnte, ganz wie bei Köler selbst, und dann würde er mit den Menschen der ganzen Welt nichts mehr zu tun haben wollen. Sagen Sie doch bitte selbst, könnten Sie weinen, wenn Ihnen solche Gedanken kommen würden?«

»Natürlich nicht, wenn mir solche Gedanken kämen«, meinte Indrek.

»Ich auch nicht, denn ich mußte mir gleich sagen, wie willst du über einen Menschen weinen, der einen solchen Heiland gemalt hat, dem so etwas passieren könnte. Ich begreife ja selbstverständlich, daß das alles sehr dumm von mir ist, denn der Heiland nickte natürlich nie so gleichgültig ein, das taten vielmehr seine Jünger im Garten Gethsemane, aber denken kann man das doch, so oder so. Ich kann einen Gedanken überhaupt nie so recht zu Ende denken, so fest ich mir das auch vornehme, immer schlagen meine Gedanken plötzlich einen Haken und kommen an ihren Ausgangspunkt zurück, ganz wie jemand, der sich im Walde verirrt hat. Das kommt wohl daher, daß auch unsere Gedankenwelt rund ist, wie die Erde und alle Himmelskörper. Und auch das ewige Leben scheint mir rund, so wie der Pastor es uns in der Schule erklärte, derselbe, der gestern den Gottesdienst hielt. Wie hätte ich da weinen können? Denn sobald ich den Pastor erblickte, dachte ich gleich: da kniest du nun und denkst ans ewige Leben. Und dabei sind dir die grauen Haare so gekämmt, daß sie die Glatze verdecken sollen. Aber warum ist er so besorgt um seine Glatze, wenn er ans ewige Leben glaubt? Können Sie mir das erklären? Was dachten Sie übrigens, als Sie dort in der Kirche knieten? Dachten Sie überhaupt etwas?«

»Ich dachte, daß in der Welt die besseren und größeren Zeiten vorüber sind«, sagte Indrek.

»Das habe ich wohl noch nie gedacht, niemals«, versicherte Ramilda. »Aber wieso denn?« fragte sie dann erstaunt.

»Alles Große und Schöne ist früher gewesen und ist nun tot: Goethe ist tot, Schiller ist tot, Puschkin und Köler, alle ...«

»Aber das ist doch gut, daß Goethe tot ist«, sagte Ramilda.

»Warum?« fragte Indrek, an den nun die Reihe gekommen war, sich zu wundern.

»Er war doch schon sehr alt, als er starb«, meinte Ramilda, »und wenn er bis heute gelebt hätte, so wäre er noch älter gewesen. Don Juans sollten nie lange leben, denn alte Don Juans sind lächerlich. Und Goethe war doch ein großer Don Juan. Wissen Sie, daß er schon über siebzig um eine Achtzehnjährige freite? Verstehen Sie? Siebzig und achtzehn! Lebte er noch eben, so hätte ich Tag und Nacht keine Ruhe, ich würde immer fürchten, er könnte um mich freien, wenn er mich zufällig erblicken sollte. Und sagen Sie doch bitte selbst, was sollte ich tun, wenn ein so uralter Goethe um mich freien würde?« Ramilda schwieg ein Weilchen, als denke sie über irgend etwas nach oder als sei ihr ein neuer Einfall gekommen. Dann lächelte sie und bemerkte ein wenig verschämt:

»Wollen Sie, ich verrate Ihnen ein Geheimnis, ein großes, großes Geheimnis?«

»Lieber nicht, Fräulein«, lehnte Indrek ab, »ich fürchte, ich könnte es versehentlich ausschwatzen.«

»Sie müssen lernen, Geheimnisse bewahren«, ermahnte Ramilda weise. »Also hören Sie: Onkel und Tante wollen mich nach Deutschland schicken, aber ich will nicht. Und wissen Sie, warum?«

Indrek wollte es scheinen, als ob sein Herz plötzlich zu zittern begänne und als ob dieses Zittern sich dem ganzen Körper mitteilte.

»Nun, können Sie es nicht erraten?«

»Nein«, stammelte Indrek, dem das Zittern die Stimmbänder zu lähmen schien.

»Sie großes, großes Schaf«, sagte Ramilda, und in ihrer Stimme lag ein Ton zärtlicher Rührung, so daß man hätte annehmen können, daß auch sie an dem Zittern teilhabe, das Indreks Herz ergriffen hatte. »Sie Tallisman! Wir haben doch gerade eben erst davon gesprochen. Wovon sprachen wir?«

»Von dem großen Geheimnis«, erwiderte Indrek sanft.

»Und dieses große Geheimnis ist Goethe«, erklärte Ramilda nun lachend. »Die Sache ist nämlich gerade umgekehrt, wie ich vorhin sagte: ich will nicht nach Deutschland, weil Goethe schon tot ist. Niemand außer Ihnen weiß, daß es darum ist. Wenn Goethe noch leben würde, so würde ich noch heute abend reisen. Denken Sie doch bloß mal, dahin reisen, wo man Goethe treffen könnte, der noch im Alter junge Mädchen liebte, nur zu denken, daß man ihn treffen könnte, nur aus der Ferne erblicken – das würde mir besser helfen als Doktor Brummfeldts sämtliche Mittelchen. Aber nun reise ich nicht, ich will einfach nicht. Und dann ist da noch etwas, was auch Sie angeht, nicht gerade Sie persönlich, aber die Jungen überhaupt. Als Doktor Brummfeldt mir nämlich schon zu Weihnachten einen Luftwechsel empfahl, sagte Papa, das sei nun nicht möglich, denn wo solle er inzwischen seine Jungen lassen, das heißt also seine Fürsten, Grafen, Tigapuus und so weiter. Sie natürlich auch. Und wegen dieser aus der ganzen Welt zusammengelaufenen Jungen mußte meine Reise aufgeschoben werden. Aber wozu lebe ich denn überhaupt, wenn die Suppe der Jungen wichtiger ist als meine Reise? Denn Papa und die Tante behaupten ja immer wieder: es ist unmöglich, es geht nicht, denn wer wird den Jungen unterdessen Suppe kochen? Ich wünschte, Sie wären an meiner Stelle und ich an der Ihren, wenn auch nur für einen Augenblick, nur um zu sehen, was Sie tun würden, wenn Sie irgendwohin fahren müßten und doch nicht könnten, weil der Vater und die Tante immer wiederholen: ›wart, wart bis zum Frühling, dann braucht Ramilda keine Suppe mehr, dann wollen wir reisen‹. Sagen Sie doch bitte, was täten Sie dann?«

»Ich weiß nicht, was ich dann täte«, sagte Indrek, »aber eins weiß ich ...«

»Und das wäre?« fragte Ramilda neugierig.

»Ich weiß, daß, wenn Sie mir das früher gesagt hätten, ich bereit gewesen wäre, die Schule, ganz gleich unter welchem Vorwande, zu verlassen, damit die Tante nicht mehr hätte Suppe zu kochen brauchen, und Sie gleich hätten reisen können.«

»Aber die anderen! Die wären doch immer geblieben.«

»Wenn die anderen gewußt hätten, worum es sich handelt, so hätten sie es ebenso gemacht wie ich«, erklärte Indrek mit großer Bestimmtheit. »Wir hätten für Sie alles getan, Fräulein.«

Ramilda blickte Indrek ernst an, während es um ihren auffallend großen Mund seltsam zuckte, als kämpfe sie mit Lachen oder Weinen. Aber dann sagte sie schnell gefaßt:

»Und Papa? Was wäre aus dem geworden, wenn Sie alle meinetwegen auseinander gelaufen wären? Ach Gott, das ist ja gar nicht auszudenken! Ich glaube, wenn der Heiland selbst eines schönen Tages zu Papa käme und ihm sagte: ›Komm zu mir, ich gebe dir das ewige Leben, aber nur wenn du deine Jungen und Herrn Ollino sogleich verläßt und mit mir kommst‹, so würde Papa ihm, ohne sich auch nur einen Augenblick zu bedenken, erwidern: ›Nein, lieber Heiland, das geht nicht. Ich komme gerne zu dir ins ewige Leben, aber nur unter einer Bedingung – wenn ich meine Jungen und Herrn Ollino mitnehmen kann.‹ Sie mögen es nun glauben oder nicht, aber so würde Papa dem Heilande antworten. Und so würden auch die Jungen ins Paradies kommen, auch Sie, und auch die Tante, nur ich nicht, denn ich bin ein elender Egoist. Die Tante ist böse, aber ich bin egoistisch. Denn die Tante schimpft wohl oft furchtbar auf Sie alle, aber im Grunde ihres Herzens liebt sie Sie doch. Aber ich liebe eigentlich niemanden. Auch Sie nicht, und auch nicht den Fürsten oder Tigapuu. Allenfalls Herrn Ollino ein wenig wegen seiner häßlichen Augen. Und darum müßte ich allein zurückbleiben. Dann brauchten Sie auch meinetwegen nicht mehr Tassenhenkel abzubrechen. Wo sind die übrigens geblieben? Immer noch am Boden Ihrer Kiste? Ich weiß sehr gut, was Sie Papa damals geantwortet haben. Das war eine feine Lüge, sehr fein! Viel besser als was ich sagte.«

In diesem Augenblick hörte man Frau Malmbergs schwere Schritte sich nähern. Sogleich unterbrach Ramilda ihr Gespräch, um alsbald in gänzlich verändertem Ton fortzufahren:

»Wie haben Sie wieder Brot aufgeschnitten, das eine Stück dick, das andere dünn. Nicht einmal diese einfache Sache können Sie erlernen!«

»Reg dich hier nicht unnütz auf«, brummte die Tante. »Laß das lieber meine Sorge sein.«

»Ich geh schon, ich geh schon«, versetzte Ramilda, nach der Türe gehend, wo sie indessen haltmachte mit der Frage: »Was glaubst du, liebe Tante, wird Köler in den Himmel kommen? Ich habe schon Herrn Paas nach seiner Meinung gefragt, aber er wußte es nicht.«

»Was für dumme Fragen du doch stellst«, seufzte die Tante. »Was soll auf diese Weise aus dir werden?«

»Ist das denn wirklich eine so dumme Frage, liebe Tante?« fragte Ramilda gleichsam betrübt.

»Für uns Menschen ist das eine dumme Frage«, erklärte Frau Malmberg. »Das ist Gottes Sache, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. Wir haben dafür zu sorgen, daß die Suppe richtig gesalzen ist, das Brot geschnitten und der Tisch gedeckt, denn gleich werden die Jungen erscheinen, hungrig wie die Wölfe. Für die sorgt der liebe Gott nicht, was haben wir uns dann darum zu sorgen, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt?«

»Genau Herrn Paas' Meinung«, rief Ramilda. »Aber ich muß oft an Himmel und Hölle denken, und ich meine, Köler kommt sicherlich in den Himmel, denn er hat doch so hübsche Jesusbilder gemalt. Und dann hat er doch in Petersburg gelebt, und der Kaiser lebt doch auch in Petersburg, und wenn der in den Himmel kommt, dann muß doch Köler auch in den Himmel kommen. Und ich kann nicht glauben, daß der liebe Gott den Kaiser in die Hölle schicken wird.«

»Hör doch schon einmal auf!« rief Frau Malmberg ungeduldig. »Und des Kaisers Namen solltest du überhaupt gar nicht in den Mund nehmen, denn Papa sagt, das sei Politik, und mit Politik soll man sich überhaupt nicht zu schaffen machen.«

»Für Papa ist alles immer Politik, und daher darf man schließlich überhaupt von nichts mehr reden«, versetzte Ramilda. »Seiner Meinung nach sind Himmel und Hölle auch Politik, und daher dürfte ich ihn niemals fragen, ob Köler in den Himmel oder in die Hölle kommt.«

»Du kannst einen wirklich rasend machen mit deinem Geschwätz«, rief die Tante, der Verzweiflung nahe. »So geh doch schon mal! Was suchst du hier noch?«

»Dieses Kind wird mich und auch sich selbst schließlich noch umbringen, wie sie ihre Mutter bei der Geburt umgebracht hat«, klagte Frau Malmberg Indrek, als Ramilda gegangen war. »Was sie nicht alles wissen will! Ganz wie die Mutter. Meine verstorbene Schwester war genau so: konnte auch endlos fragen. Und die Fragen sind nahezu dieselben. Können Sie sich vorstellen, was sie mich heute zum Beispiel gefragt hat: ob man an Liebe sterben kann, an reiner, nackter Liebe? Und die letzten Worte ihrer Mutter waren: sterbe ich nun aus Liebe? Wird mein Mann nun glauben, daß ich ihn liebe? Und die anderen alle? Meine Schwester war nämlich viel jünger als ihr Mann, und darum glaubte eigentlich niemand, auch Herr Maurus selbst nicht, daß Miralda ihn liebe. Auf dem Totenbette habe ich meiner Schwester auf ihre Frage wohl versichert, daß nun alle an ihre Liebe glauben würden, aber was weiß man nun? Manchmal scheint es, als wüßten die Menschen überhaupt nicht, was Liebe ist. Nicht einmal die Frauen, geschweige denn die Männer. Die sorgen wohl für ihre Frauen und sind schrecklich eifersüchtig, aber was Liebe ist, das wissen sie nicht. Liebe ist beinahe wie Zorn. Das sah ich an meiner Schwester. Die liebte ihren Mann wirklich. Und doch konnte sie äußerst zornig werden, wenn er auch nur einer ihrer kleinsten Launen nicht nachgab. So zornig, daß sie drohte, ihn bei lebendigem Leibe zu rösten, zu Asche zu zermahlen und in die Müllgrube zu schütten. Da gehört ein alter Mann hin, wenn er nicht liebt, sagte sie. Die jungen, die lieben natürlich nicht, die erwarten, daß man sie liebt. Aber einen alten habe ich doch gerade darum genommen, damit er mich liebt. Und was ist das denn für eine Liebe, die nicht alles kann. Die rechte Liebe kann lügen und stehlen, rauben und morden, die rechte Liebe kann sogar bellen wie ein Hund. Und dann mußte sie selbst über ihre Worte lachen. So war meine Schwester, und mit der Tochter ist es ganz ähnlich.«

Die Glocke läutete, den Schluß des Unterrichts verkündend. Und alsbald erhob sich im ganzen Hause ein Summen, wie in einem Bienenstock. Während die einen nach Hause eilten, strebten die anderen ins Speisezimmer, wo die dampfenden Schüsseln ihrer schon harrten.


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