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VII

Eifrig in ihr Gespräch vertieft, hatten die beiden sich verspätet. Als sie den Versammlungsraum betraten, redete bereits ein junger Mann in Studentenuniform und russischem Hemde. Er hatte kohlschwarze Locken, bebrillte dunkle Augen, eine hübsche, ein wenig gebogene Nase und hellrote, gleichsam gefärbte Lippen, die beim Reden feucht und warm glänzten. Ein anderer dunkelhaariger, etwa zehn Jahre älterer Herr und eine brünette Dame saßen hinter dem Redner, nahebei eine Gruppe blonder junger Leute, deren Kleidung und gleichmütiges, achtloses Gehaben darauf schließen ließ, daß diese Rede nicht für sie bestimmt sei, sondern für etwa zwei Dutzend besser gekleideter junger Leute, Jünglinge und Mädchen, die vor dem Redner Platz genommen hatten. Diesen gesellten sich auch Indrek und Kristi zu.

Das Zimmer war nicht groß, desto schneller stieg die Temperatur in dem überfüllten Raume. Das Fenster wagte man nicht zu öffnen, da das Zimmer im Erdgeschoß an der Straße lag, und ein Spalt in der Türe zum Nebenzimmer schaffte kaum Abhilfe. So begann denn der Redner schon bald, sich die Stirn zu trocknen, und nach ihm auch seine beiden, hinter ihm sitzenden Sekundanten, und schließlich die ganze Versammlung. Nur die gleichgültig dreinblickenden blonden jungen Leute, die offensichtlich zu den Auserwählten gehörten, schwitzten nicht, als lasse die Hitze sie ebenso unberührt wie die Worte des Redners.

Womit die Rede begonnen hatte, das wußten Indrek und Kristi nicht, aber eben war von Sozialdemokraten die Rede, von Sozialrevolutionären und Anarchisten, wobei die beiden letzteren zugunsten der ersteren heruntergemacht wurden. Alle paar Sätze wiederholte der Redner gleichsam beschwörend die Worte: »Wir Sozialdemokraten«, und wischte den Sozialrevolutionären und Anarchisten eins aus, sei es mit Marx oder Lenin, mit Plechanow oder Kautsky. Und das alles »rein ideologisch, rein logisch, auf Grund der reinen Vernunft, ihrer Grundlagen und Entwicklung«. Die Sozialrevolutionäre hätten überhaupt keine grundsätzliche Weltanschauung, keine wissenschaftlich unterbaute, logisch entwickelte Idee, erklärte der Redner, und belegte diese Behauptung alsbald durch einige Zitate. Und der Anarchismus sei bei Licht besehen im Grunde nichts weiter als ein bürgerliches Vorurteil, eine liberale Sentimentalität. Und in diesem Stil ging es weiter, auch als weder der Redner noch sonst irgend jemand mehr daran zweifelte, daß sowohl die Anschauungen der Sozialrevolutionäre als auch der Anarchisten praktisch ein Blödsinn und logisch ein Nonsens seien – das matte Echo der an Altersschwäche dahinsiechenden bürgerlichen Ideologie, deren trauriges Gespenst.

Die Rede wäre vielleicht noch länger ausgefallen, denn an Worten schien es dem Redner nicht zu fehlen, aber die Hitze machte allem ein schnelles Ende, auch den Debatten, die im Anschluß an die Rede vorgesehen waren. So brach man denn auf, sonst hätte sich wieder einmal feststellen lassen, welch eine Leidenschaft zu töten im Menschen schlummert, sei es nun, daß diese Leidenschaft sich gegen den Menschen selbst oder gegen seine Gedanken richtet. Diese Leidenschaft ist wohl so alt wie der Mensch, denn immer wieder weiß die Geschichte begeistert von Menschen und Völkern zu berichten, die nicht nur andere Völker und Menschen getötet, sondern auch die Grundideen eines anderen Volkes, die Gedanken eines anderen Menschen lächerlich gemacht und vernichtet haben, wobei es sich denn erweist, daß es weit leichter und einfacher ist, Menschen und ganze Völker zu vernichten, als Gedanken zu töten, denn Gedanken sind zäher und lebensfähiger als Menschen und Völker: Sie können nach Jahrtausenden wieder vom Scheintod auferstehen. Darum richteten auf allen diesen geheimen Versammlungen die Redner ihre Waffen in der Hauptsache auch immer gegen die Gedanken anderer, bestrebt, sie ideologisch und logisch zu vernichten.

Die Jugend aber war mit dem Ergebnis dieser Versammlung höchst zufrieden: hatte sie doch eine Menge neuer Namen gehört, neuer Worte, und wenn sie diese zum größten Teil auch nicht recht begriffen hatte, tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß sie auf der nächsten Versammlung annähernd dasselbe hören und dann alles schon besser verstehen würde.

»Hörten Sie, wie er immer wieder betonte: Wir Sozialdemokraten, wir Sozialdemokraten?« fragte Kristi, während sie mit Indrek durch die dunklen Gassen heimwärts schritten. »Das war mutig, das war schön, das war fein! Wenn das ein Gendarm oder ein Polizist gehört hätte, er wäre geplatzt vor Ärger!«

Ein anderes Mal besuchte Indrek mit Kristi eine Geheimversammlung in einer reichen Familie. Hier konnte man ungeniert zusammenkommen, denn hier brauchte man die Polizei nicht zu fürchten: alle Zuhörer galten als Gäste der sechzehn oder siebzehnjährigen Haustochter, die sie zum Kaffee geladen hatte. Außer der Jugend fanden sich hier auch noch einige ältere Damen und Herren, darunter auch die Wirte, ein ehrwürdiges, liebenswürdiges, jüdisches Patriarchenpaar ein. Während der Rede saß man bei Tisch, und die Dienstmädchen in weißen Schürzchen und Häubchen gossen den dampfenden Kaffee ein, während der Tisch mit allerlei Gebäck, Näschereien und Obst in Vasen und Schalen bedeckt war.

Auch hier nahm der Redner sich kein Blatt vor den Mund, aber in diesem Milieu klangen seine Worte weit zarter und feiner, als sögen die vielen weichen Teppiche, Möbel, Portieren und Vorhänge alle Spitzen und Schärfen der Worte auf. Man hätte fast behaupten können, daß das Geklapper der Teller und Tassen, Messer und Löffel weit revolutionärer klang als der Ton der Rede. Und auch die Temperatur hielt sich hier in mäßigen Grenzen, so daß es den Anschein hatte, als müsse die Revolution sich in diesem Hause ohne alle Schroffheiten verwirklichen lassen, durch ein sanftes Wort, eine Handbewegung, die Erfüllung bringt, wie man eine neue, bisher unbekannte Speise mit einladendem Lächeln auf die Tafel setzt.

Auch hier apostrophierte der Redner die Anwesenden als Sozialdemokraten, aber das wurde eigentlich überhaupt nicht beachtet, denn hier gab es für die meisten so viel anderes zu beobachten, was ihnen mindestens ebenso neu war wie ein Sozialdemokrat. Und überdies standen hier längs den Wänden hinter den geschliffenen Scheiben schöner Bücherschränke lange Reihen solide gebundener Bücher, die sagen zu wollen schienen: olle Kamellen. Gerade als der Redner wieder einmal einen Satz mit den Worten »Wir Sozialdemokraten« einleitete und dabei Kristi über den Tisch hinweg direkt anzublicken schien, legte die neben ihr sitzende dunkeläugige Haustochter ihr die Hand auf den Arm und sagte, ihr aus einer Kristallschale Äpfel anbietend:

»Versuchen Sie doch diese hier. Sie sind aus der Krim, wir haben sie selbst von da mitgebracht, ich habe sie mit eigenen Händen gepflückt.«

Kristi dankte und bediente sich, mußte später aber Indrek gestehen, daß ihr die einheimischen Äpfel weit besser mundeten, wenn sie auch nicht so schön aussähen. Und noch manches andere mußte sie später Indrek gestehen, denn als sie nach einiger Zeit dieses gastliche Haus wieder betrat, um die Tochter des Hauses zu besuchen, hallten all diese schönen eleganten Räume von schneidendem, herzbrechendem Jammergeschrei wieder. Kristi machte erschrocken halt und wollte schon umkehren, als die herbeieilende Freundin ihr mit rot verweinten Augen erklärte, sie hätten Trauer im Hause, ihre Mutter sei gestorben. Dieses Klagegeschrei konnte nichts dämpfen, weder die Teppiche noch die Möbel oder Portieren oder die langen Reihen der Bücher mit Goldaufschriften hinter den geschliffenen Scheiben. Und als sie dann wieder auf der Straße stand, mußte Kristi unwillkürlich diese Stimmen der Trauer mit der des Redners neulich vergleichen. Und dabei stiegen ihr mancherlei Zweifel und Fragen auf, denen sie indessen auf keine Weise Ausdruck zu geben wußte, denn sie mochte es anfangen wie sie wollte, immer war es nicht das Richtige.

Endlich richtete sie aber doch an Indrek die Frage:

»Kann ein Sozialdemokrat an Gott glauben?«

»Das heißt – ob er das darf?« fragte Indrek.

»Nein, das nicht, sondern ich meine, ob er es überhaupt kann, wenn er ein richtiger Sozialdemokrat ist?« erläuterte Kristi ihre Frage.

»Das weiß ich nicht, denn ich bin noch nie Sozialdemokrat gewesen«, versetzte Indrek nun. »Aber ich meine, wenn ich ein Sozialdemokrat wäre, dann könnte ich wohl glauben ...«

»Auch an Gott?« rief Kristi erstaunt.

»Auch an Gott«, versicherte Indrek.

»Und Sie würden auch in die Kirche gehen?«

»Warum denn in die Kirche?« verwunderte sich Indrek. »Nein, ich meine, wenn man schon in die Kirche geht, dann ist man kein rechter Sozialdemokrat mehr. Unser Kirchengott mischt sich in die weltlichen Angelegenheiten, und das kann ein Sozialdemokrat nicht dulden. Aber was dann, wenn man annimmt, daß Gott sich nicht in die weltlichen Angelegenheiten einmischt? Kann ein Sozialdemokrat dann an ihn glauben? Ich denke doch wohl, denn ein solcher Gott ist meine höchst persönliche Angelegenheit, und da hat mir niemand etwas dreinzureden.«

»So, nun ist mir alles klar«, sagte Kristi nach einigem Besinnen. »Sie glauben also.«

»Wer denn?« fragte Indrek interessiert.

»Die Juden natürlich, wer denn sonst«, erklärte Kristi, »wie könnten sie sonst nach jüdischer Weise trauern und dabei doch Sozialdemokraten sein! Nur unsere Sozialdemokraten glauben nicht, aber die jüdischen Sozialdemokraten glauben. Und wissen Sie, als ich ihr Klagegeschrei hörte, da lief mir ein Schauder über den Rücken. Keine Rede hat so auf mich gewirkt wie dieses Klagegeschrei. Also der Glaube ist es, nicht wahr?«

»Mag sein«, versetzte Indrek. »Sie verstehen wohl besser zu trauern, als wir zu reden. Denn sie haben schon in der babylonischen Gefangenschaft und auf den Trümmern Jerusalems getrauert, aber wie lange ist es her, seit die Sozialdemokraten reden. Nicht einmal unsere Geistlichen auf der Kanzel verstehen wirkungsvoll zu reden, obgleich sie sich darin doch schon so manches Jahrhundert geübt haben.«

»Sie glauben eben nicht, darum«, versicherte Kristi ernst und weise, »aber die Juden glauben, sonst könnten sie nicht so trauern.«

Vom Glauben glitt ihr Gespräch auf die Wissenschaft hinüber, und sie machten sich daran, sich ihre jungen Köpfe an allerlei Problemen zu zerbrechen, als ließe sich anders überhaupt nicht leben, als hätte das Leben sonst keinen Sinn. Sie waren eben noch so jung, daß sie der Ansicht waren, wertvoll sei im Leben nur das, was man begreifen könne. Sie waren eben Kinder ihrer Zeit und glaubten – wenn sie auch selbst der Ansicht waren es zu wissen –, daß der Verstand und seine Frucht, die Wissenschaft, die Menschheit aus diesem Jammertale erlösen, sie selig machen werde. Und darum erschien es ihnen als höchstes Glück, höchste Lebensaufgabe, immer neue Bücher zu verschlingen, in denen die Geistesschätze der Menschheit aufgespeichert waren, und sie lasen sie um so lieber, als sich an Hand dieser Bücher so herrlich endlos disputieren ließ, namentlich dort, wo niemand einen hören konnte, denn am leidenschaftlichsten wurden ja gerade verbotene Bücher bevorzugt, sollten doch gerade diese das Arkanum enthalten, das die Menschen weise und glücklich macht.


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