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XII

So ergab sich für Ramilda wieder die Möglichkeit, ungestört im Speisezimmer zu schwatzen. Aber aus dem deutschen Unterricht, den sie Indrek versprochen hatte zu erteilen, wurde nicht viel. Überhaupt war das ein Fach, das bei allen für äußerst wichtig galt, um das sich aber im Grunde genommen alle nur wenig kümmerten. Mit dem deutschen Unterricht war ein altersgebeugter Deutscher betraut, der schon in den ersten Tagen seiner Tätigkeit den Spitznamen »Perpendikel« erhielt, wegen der Schöße seines langen, schwarzen Rocks, die beim Gehen sachte hin und her wippten. Sehr bald indessen erhielt er den Spitznamen Kopula, der denn auch bis zum Schluß an ihm haftenblieb.

Dieser Name war durch die Tatsache bedingt, daß Herr Schulz den Unterricht im Deutschen stets mit einer eingehenden Erklärung und Analyse des grammatikalischen Begriffs der Kopula einleitete. Diese Einleitung nahm indessen zahllose Stunden in Anspruch, so daß die Schüler schließlich den Eindruck gewinnen mußten, Herr Schulz lehre sie im Deutschen ausschließlich die Kopula. So brachte er es fertig, den Jungen in ein paar Wochen die deutsche Sprache gründlich zu verekeln, und wenn er in der Folge irgendeine Frage stellte, so rief die ganze Klasse im Chor »Kopula«. Anfangs schien das dem alten Herren sogar Spaß zu machen, aber als schließlich die ganze Klasse nur noch »Kopula, Kopula« brüllte, riß ihm die Geduld, und er befahl Indrek, den Direktor herbeizurufen.

»Geh nicht!« riefen ihm die anderen Jungen auf Estnisch zu, das der Lehrer nicht verstand, denn er war erst kürzlich von irgendwo an der Wolga ins Baltikum gekommen. »Mag er selbst gehen.«

»Die anderen lassen mich nicht gehen«, erklärte Indrek.

»Dann gehe ich selbst«, sagte Herr Schulz und verließ die Klasse; und da Herr Maurus gerade zu Hause war, erschien er schon bald wieder in der Begleitung des Direktors.

»Wo ist der, der nicht gehen wollte, Herrn Maurus rufen?« fragte der Direktor.

»Dieser hier«, wies der Lehrer auf Indrek. »Ich befahl ihm, zu gehen, aber er weigerte sich, behauptete, die Klasse sei dagegen.«

»Sie unverschämter Kerl!« schrie der Direktor auf Estnisch Indrek an, »Sie Langer, Großer! Der Lehrer ist hier Stellvertreter von Herrn Maurus, und ihm haben alle zu gehorchen. Haben Sie mir zu gehorchen?«

»Jawohl«, versetzte Indrek.

»Warum haben Sie denn Herrn Schulz nicht gehorcht, der doch mein Stellvertreter ist?«

»Ich wußte nicht, daß ...« murmelte Indrek.

»Was?!« schrie der Direktor. »Sie wußten nicht, daß der Lehrer mein Stellvertreter ist? Sie sind wohl der Ansicht, daß der kleine Lible dort Herrn Maurus' Stellvertreter ist? Sie blamieren mich mit Ihrer Länge und Dummheit vor diesem Deutschen. Was soll ich ihm denn sagen?« Und sich zum Lehrer wendend, sagte er diesem auf Deutsch: »Dieser Lange hat einen so kurzen Verstand, daß er nicht wußte ... Er meinte, wenn die Klasse dagegen ist, dann müsse er der Klasse gehorchen, weil in der Klasse viele sind, Sie aber nur einer. Was fängt man mit dem Kerl an? Arm ist er auch noch, hat kein Geld. Nächstes Mal schicken Sie einen Kürzeren, der wird gehen, der hat vielleicht einen längeren Verstand. Und dann die andere Sache, wie war das doch? Aber bitte auf Russisch, damit alle es verstehen können.«

»Ja, sehen Sie, Herr Direktor«, begann der Lehrer, »ich bin bemüht, den Jungen klarzumachen, was die Kopula ist, denn die Kopula ist nicht nur im Deutschen, sondern auch in vielen anderen Sprachen von größter Wichtigkeit, zum Beispiel: der Mann ist klein, das Kind ist groß ...«

»Wie denn das?« verwunderte sich der Direktor. »Wie war das: der Mann ist klein, das Kind ist groß?«

»Das war ja nur als Beispiel gemeint, da braucht es doch dem Sinne nach nicht den Tatsachen zu entsprechen, Herr Direktor«, verteidigte sich der Lehrer.

»Immer muß es den Tatsachen entsprechen, wenn es auch nur ein Beispiel ist«, sagte der Direktor. »In Herrn Maurus' Schule müssen auch die Lehrer die Wahrheit sprechen, nicht nur Herr Maurus und seine Schüler.«

»Nun gut, Herr Direktor«, erklärte sich der Lehrer einverstanden, »sagen wir also: Der Mann ist groß, das Kind ist klein. In beiden Sätzen wiederholt sich das Wort ›ist‹, das die anderen Worte verbindet. Darum trägt es auch den Namen Kopula. Habe ich nicht recht, Herr Direktor?«

»Sehr recht«, bestätigte Herr Maurus.

»Und ist das klar?« fragte der Lehrer.

»Vollkommen klar«, lobte Herr Maurus.

»Sehr erfreulich, Herr Direktor, daß Sie mit mir einer Meinung sind«, sagte der Lehrer nun, »aber die hier sind anscheinend der Ansicht, ich lehrte sie etwas Unmögliches, ja direkt Dummes. Sie ziehen alles ins Lächerliche und antworten mir auf alle meine Fragen immer nur mit dem einen Wort – Kopula, als hätte ich sie überhaupt nichts anderes gelehrt, und als bestünde die ganze Grammatik nur aus der Kopula. Philosophisch genommen läßt sich aus einem Begriff natürlich ein ganzes System deduzieren, und so auch aus der Kopula die ganze Grammatik ableiten, wie ich das in einem, größeren Werk, das ich eben in Arbeit habe, unwiderleglich nachzuweisen hoffe. Aber ich glaube nicht, daß sich diese wichtige Frage in der Schule genügend gründlich behandeln läßt, zumal auch den Schülern das Verständnis für den philosophischen Sinn der Kopula in der menschlichen Rede abgehen dürfte; ich neige daher vielmehr der Ansicht zu, daß die Klasse sich mit ihrer unentwegt wiederholten Antwort über mich lustig machen will, das ist meine Meinung, Herr Direktor.«

»Und auch die meine«, beeilte sich der Direktor zu versichern, als bereite ihm das eine gewisse Freude. »Aber wer hat Ihnen diese Antwort gegeben? Welche Schüler?«

»Alle.«

»Zum Beispiel, wer? Nennen Sie mir den Namen eines solchen Gauners, alle kann man doch nicht gleichzeitig fragen.«

»Einen Augenblick, Herr Direktor, ich muß in meinem Notizbuch nachschlagen, da habe ich sie mir angemerkt. Da habe ich alles angemerkt. Da, da habe ich es, zum Beispiel Lible.« Der Lehrer betonte in der Aussprache die letzte Silbe des Namens, so daß aus Lible Liblé wurde.

»Ach du, kleiner Lible, bist also der Hauptgalgenstrick in der Klasse!« rief der Direktor. »Darum hast du dich ja wohl auch da hinten auf der letzten Bank verkrochen. Aber nun komm mal da heraus, komm mal her, hier auf die erste Bank, und stell dich hier neben diesen Langen, wenn der Lehrer dich fragt.«

Lible trat auf den Befehl des Direktors neben Indrek, der in der ersten Reihe saß.

»So, nun fragen Sie mal diesen Kleinen hier«, forderte der Direktor den Lehrer auf.

Aber dessen Gedanken waren augenscheinlich irgendwohin abgeirrt, und so stellte er dem Jungen unversehens eine Frage, auf welche dieser nur mit Kopula antworten konnte, wollte er nicht eine falsche Antwort geben. Und kaum war das verhängnisvolle Wort von Libles Lippen gefallen, als der Direktor ihn auch schon bei den Ohren hatte, während er ihn anschrie:

»Ach, du kleiner Schinder!«

»Herr Direktor, Herr Direktor!« jammerte der Lehrer, »nun hat er ja richtig geantwortet, ich habe ihm eine falsche Frage gestellt.«

Erst jetzt erfaßte Herr Maurus, was er getan, und sich zur Klasse wendend sagte er auf estnisch, die Jungen über die Brille musternd:

»Nun seht ihr, wie dämlich dieser Deutsche ist. So ist er siebenhundert Jahre lang gewesen.«

Und wenig fehlte, so hätte er mit den gespreizten Fingern der Rechten vor den Augen gefuchtelt, damit bedeutend: der Mensch hat einen Vogel. Aber im letzten Moment ließ er die Hand sinken, schüttelte bloß sein graues Haupt und sagte:

»Und mein braver, kleiner Junge mußte wegen dieses Deutschen leiden. Aber wir haben immer wegen des Deutschen leiden müssen, immer seinetwegen. Schande! Nehmt das als Lehre.«

Und sich zum Lehrer wendend, sagte er auf Deutsch:

»Nun können Sie fortfahren, ich habe es ihnen gesagt.«

Und damit ging er. Aber Herr Schulz wagte es nun nicht mehr, den Schülern überhaupt irgendeine grammatikalische Frage vorzulegen, in der Befürchtung, das Wort Kopula zur Antwort zu erhalten. Am nächsten Tage, als er keine einzige Stunde zu geben hatte, übergab Herr Maurus Indrek einen Brief und befahl, ihn Herrn Schulz zu überbringen.

»Geben Sie acht auf das Schreiben«, sagte er, »da ist Geld drin. Geben Sie den Brief ab und kommen Sie gleich zurück. Nicht bleiben und schwatzen, diesen alten Narren nicht anhören, denn der liebt zu schwatzen, wenn nur jemand ihm zuhört.«

Die Adresse des Briefes wies Indrek in die äußerste Vorstadt, wo die Fuhrleute im Frühling manchmal mit Pferd und Wagen im Schmutz steckenblieben. Dort, in einem kleinen Hofhause, wohnte Herr Schulz. Draußen vor der Türe auf einem Holzstapel saß ein zitteriger Greis in der blanken Märzsonne. Indrek fragte ihn nach Herrn Schulz, aber der Alte antwortete nicht, als sei er tief in Gedanken versunken. Die Türe öffnete Indrek Herr Schulz selbst.

»Ah, das sind Sie!« rief er, als sei er über Indreks Besuch hocherfreut. »Seien Sie so gut, bitte treten Sie näher. Ich bekomme so selten Besuch, daß ...«

»Ich habe Ihnen nur einen Brief zu übergeben«, sagte Indrek.

»Aber so treten Sie doch bitte ein«, bettelte Herr Schulz. »Für einen Augenblick doch wenigstens. Oder bin ich wirklich so schlecht, daß man bei mir nicht einmal auf einen Moment eintreten kann?«

Indrek trat ein und überreichte den Brief.

»Von wem ist der?« fragte Herr Schulz. »Von Herrn Maurus? Was könnte Herr Maurus mir wohl mitzuteilen haben, wir haben uns doch erst gestern gesehen.«

Er erbrach mit seinen nervösen Fingern das Schreiben und überflog den Inhalt.

»Wissen Sie, was das für ein Brief ist?« fragte er dann. »Herr Maurus kündigt mir, und sehen Sie, hier, das ist mein letztes Gehalt. Aber wissen Sie, Herr ... Herr ... entschuldigen Sie, wie war doch Ihr werter Name? Für Namen habe ich kein Gedächtnis, nie eins gehabt. Sogar meine Braut verließ mich, weil ich nach dreimonatiger Verlobung ihren Namen nicht behalten konnte. Ja, also wie war doch Ihr Name? Paas, jawohl, ganz recht, also Herr Paas, wissen Sie, was in diesem Briefe steht, den Herr Maurus mir durch Sie übersandt hat?«

»Sie sagten es mir schon«, versetzte Indrek.

»Ach, ich sagte es Ihnen schon! Sehr gut, sehr gut, dann wissen Sie Bescheid. Aber wissen Sie auch, was das für mich zu bedeuten hat, daß Herr Maurus mir kündigt? Nein, das wissen Sie natürlich nicht, dazu sind Sie zu jung, Herr ... Herr ..., ganz recht, Herr Paas, dazu sind Sie viel zu jung. Das waren eigentlich meine letzten Stunden, verstehen Sie? Sie haben vielleicht den alten Herren da an der Tür in der Sonne gesehen? Das ist mein Vater, er ist stocktaub, mit ihm lohnt es nicht zu sprechen, er hört nichts, will auch nichts hören – so alt ist er. Er wartet auf den Tod und hat nur den einen Wunsch, in der Heimat begraben zu werden – am Rhein, denn dort ist unsere Heimat. Aber wie soll ich ihn an den Rhein bringen, wenn Herr Maurus mir kündigt, wenn alle mir kündigen! Sie verstehen vielleicht gar nicht, was das Wort Heimat bedeutet, denn Sie haben ja selbst eigentlich gar keine rechte Heimat. Nicht? Sie leben in einem fremden Lande, in einem deutschen Lande, das zu Rußland gehört. Sie reden sogar eine fremde Sprache, denn Sie selbst haben keine Sprache, die man sprechen könnte. Wir bedienen uns beide einer fremden Sprache, denn wir haben keine gemeinsame. Aber so viel Deutsch werden Sie doch verstehen, um zu begreifen, was es heißt: Die wahre Menschheit kann nur auf dem Boden der Heimat gedeihen. Ohne Heimat kann auch die Menschheit, die wahre Menschheit nicht gedeihen. Denn wie sagt Kant: Handle stets so, daß die Maxime deines Handelns allgemeine Richtschnur sein könnte. Das heißt – ehre dich selbst im andern. Wer den andern nicht ehrt, der kann sich auch selbst nicht ehren. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, ich verstehe«, sagte Indrek.

»Dann will ich deutsch fortfahren, denn der Mensch soll sich nach Möglichkeit seiner Muttersprache bedienen. Lieben Sie Ihre Muttersprache, dann werden Sie auch die anderen Sprachen lieben lernen. Vor allem soll man sich selbst ehren und lieben, alles andere kommt dann schon von selbst. Denn wie sagt doch Sokrates: Erkenne dich selbst. Aber wie soll man jemanden kennen, den man nicht liebt? Und liebt man etwa jemanden, dessen Namen man nicht einmal behalten kann? Und ich konnte doch Ihre Namen nicht behalten. Das heißt, ich, der Lehrer liebte Sie, meine Schüler, nicht. Wie sollten Sie dann wohl mich lieben? Das verstehe ich erst jetzt. Ein Lehrer muß vor allem ein Mensch sein, ein wirklicher, ganzer Mensch. Und ein Mensch muß lieben. Und darum vergessen Sie nie den Namen des Menschen, den Sie lieben, niemals. Ja, wenn Sie eine Heimat hätten, die Sie lieben könnten, dann würden Sie vielleicht auch Rußland lieben lernen. Auch Deutschland würden Sie dann vielleicht ein wenig lieben können, Deutschland und das deutsche Volk, den Deutschen, auch mich. Gerade auch mich könnten Sie dann vielleicht ein wenig lieben und ehren, denn auch ich bin ein Deutscher. Ich bin freilich kein Gutsbesitzer, denn mein Vater war gleich mir Lehrer, aber wenn Sie mich lieben lernen würden, dann könnten Sie vielleicht auch sogar den Gutsbesitzer ein wenig lieben. Verstehen Sie? Selbst Ihre Gutsbesitzer könnten Sie ein wenig ehren und lieben, wenn Sie eine eigene Sprache, eine eigene Heimat hätten. Aber die haben Sie nicht. Sie leben in einem fremden Lande und sprechen eine fremde Sprache, wie sollten Sie mich da lieben und ehren. Ja, ich glaube. Sie können nicht einmal sich selbst richtig lieben und ehren, das ist meine Meinung. Die Menschheit! Die wahre Menschheit! Was fängt der Mensch mit der Menschheit an, wenn er nichts hat, was er lieben könnte, keine Sprache, keine Heimat. Und darum, lieber junger Mann, vergessen Sie nie den Namen dessen, den Sie lieben. Den Rhein und Frankfurt werde ich nie vergessen. Wäre ich reicher und ein wenig jünger, und mein Vater wartete nicht da draußen auf den Tod, so würde ich Sie auffordern, mit mir zu kommen an den Rhein und würde Ihnen zeigen, was die Heimat bedeutet. Ich selbst, ich habe es erst an der Wolga begriffen. Merken Sie auf: erst an der Wolga! Und wenn Sie an den Rhein kämen, dann würden auch Sie verstehen, was die Heimat bedeutet, lieber junger Mann, glauben Sie mir altem Manne. Nur auf dem Boden der Heimat gedeiht die wahre Menschheit, nur auf dem Boden der Heimat ...«

Indrek hatte sich schon längst vom Stuhle erhoben und sich an die Türe zurückgezogen, bis es ihm schließlich gelang, die Hand rückwärts streckend, sie zu öffnen. Rückwärts trat er ins dunkle, enge Vorhaus, wohin Herr Schulz ihm, ständig auf ihn einredend, nachfolgte. Die letzten Worte rief er ihm schon von der Schwelle der Außentür in die Frühlingssonne nach, in welcher der taube Alte immer noch dasaß, den Tod erwartend.

Daheim fragte Herr Maurus Indrek:

»Nun, sagte er irgend etwas?«

»Nein, er nahm bloß in der Tür den Brief entgegen«, versetzte Indrek.

»Dieser alte Narr wird schon auch noch mal Vernunft annehmen«, sagte Herr Maurus.

Allein geblieben, wiederholte Indrek halb unbewußt immer wieder Herrn Schulzes Worte vor sich hin: »Vergiß nie den Namen dessen, den du liebst«, denen sich nach einer Weile die Frage gesellte: »Aber wen liebe ich denn? Liebe ich überhaupt jemand?« Nein, er liebte niemand, ja, es wollte ihm scheinen, daß er auch nicht einmal seine Eltern, seine Geschwister eigentlich richtig liebte. Liebte er vielleicht Wargamäe? Im Augenblick wollte es ihm scheinen, als ob er nicht einmal dieses liebte, so daß es sich eigentlich gar nicht lohnte, seinen Namen im Gedächtnis zu behalten. Alles erschien ihm plötzlich fern und gleichgültig. Aber alle diese Namen trug er doch im Gedächtnis, als liebte er sie alle. Und gleichzeitig schob er die Hand in die Tasche und zog aus dieser zwei Tassenhenkel hervor und betrachtete sie nachdenklich. Zwei neue Tassenhenkel! Eigentlich hätten es ja Wohl drei sein sollen, aber den einen, den letzten, den hatte er fortgeworfen. Der hatte ihm nicht gefallen. Und überhaupt – wozu drei, wenn zwei genug waren. Zwei waren unbedingt genug. Genug!

»Welchen hat sie, welchen habe ich abgebrochen?« fragte er sich.

Aber diese Frage konnte er sich nicht beantworten, weder heute noch später jemals. Zwei namenlose Henkel, Tassenhenkel! »Vergiß nie den Namen dessen, den du liebst!« wiederholte er aufs neue. Wie aber, wenn es da viele Namen gab, unzählige Namen? Ramilda, Rimalda, Miralda, Marilda? ... Ja, wenn es unzählige sind, ist es dann möglich, sie alle im Gedächtnis zu behalten, wenn man liebt? Ridalma, Radilma, Diralma, Darilma, Ramaldi, Maraldi ... Und Wargamäe? War an diesem Namen etwas, was sich lohnte im Gedächtnis zu behalten? Bedeutete er irgend etwas Liebenswertes? Madilra, Dimalra, Midalra, Damilra ... Indrek begann, die Tassenhenkel in ein Papier zu wickeln, aber sie klapperten auch dann noch sachte aneinander, wie vorhin in der Tasche. »Tassenhenkel darf man nie zusammen in ein Papier wickeln, niemals«, murmelte er vor sich hin. »Warum wohl nicht?« fragte er dann, denn plötzlich fiel ihm ein, wie sinnlose Worte er da vor sich hin murmelte. Und dann plötzlich wollte es ihm scheinen, als ob die beiden Henkel nackt wären, nackt, wie zwei Menschenkinder nebeneinander, dicht nebeneinander. Und er empfand plötzlich Scham vor den nackten Tassenhenkeln und wickelte sie schnell, erst einen jeden für sich, dann beide zusammen in ein gemeinsames Papier. »Fürs erste«, murmelte er vor sich hin, »später kaufe ich euch besseres, weiches, seidenweiches Papier. Tassenhenkel müssen in Seidenpapier eingewickelt sein, wenn sie zu zweien sind. Damirla, Madirla, Dimalra, Midarla ... Die wahre Menschheit gedeiht nur in Seide, die wahre Seide gedeiht nur im Menschen, mit dem Menschen. Wenn es keine Menschen gäbe, gäbe es keine Seide, und wenn es keine Seide gäbe ... Dummheit! Maldari, Dalmari, Raldami, amavi ... amatur! Amo, amas, amat ... Die wahre Menschheit gedeiht in der Liebe. Der Mensch ist die Liebe. ›Ist‹ ist eine Kopula ... Die Liebe ist eine Kopula ... Ich liebe, bin geliebt, verliebt, Midli-Madli, Kidli-Kadli ...«

Die Tassenhenkel versteckte Indrek auf dem Boden seiner Kiste. Dort würde niemand sie finden. Niemand. Er allein wußte, wo sie beide waren.


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