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XXXI

In der Vorderstube erwarteten Indrek der Vater und Tiiu; Liine hörte man nebenan mit der Hausarbeit beschäftigt. Bald blieb Indrek mit dem Vater allein, denn Tiiu schlüpfte wieder in die Hinterkammer, um gleich zur Hand zu sein, falls die Mutter etwas bedürfen sollte. Ants war schon in der Morgenfrühe, lange vor Indreks Eintreffen, zur Mühle gefahren und wurde erst zum Nachmittage zurückerwartet; Kadri und Saß waren in der Schule, wo sie, mit ihren Brotsäcken versehen, die ganze Woche über zu verbringen pflegten, nur zu den Ferien, Sonn- und Feiertagen heimkehrend. Kadri war freilich schon fünfzehn Jahre alt, so daß sie eigentlich gar nicht mehr zur Schule hätte zu gehen brauchen, aber die Mutter hatte gewünscht, daß sie wenigstens bis Weihnachten noch dem elfjährigen Saß Gesellschaft leisten möge, und diesem Wunsch war denn auch Rechnung getragen worden. Damals, als dieser Beschluß gefaßt wurde, war es um die Mutter noch nicht so schlimm bestellt gewesen, als daß es notwendig gewesen wäre, ständig, Tag und Nacht, an ihrem Bette zu wachen. Und daher war Kadri damals zu Hause gar nicht so dringend nötig gewesen wie jetzt. Nachdem der Vater Indrek das alles umständlich dargelegt hatte, schloß er mit den Worten:

»Und so leben wir denn nun von einem Tage zum anderen, um nur irgendwie dem Tode, dem Grabe näherzurücken. Und mit der Mutter steht die Sache so, daß über ihr Leben oder ihren Tod nichts Klares festzustellen ist. Den Doktor haben wir zweimal kommen lassen, aber der wußte auch nur so viel zu sagen, daß es in wenigen Tagen aus sein, aber vielleicht auch noch Monate und Jahre währen könnte. So daß alles in Gottes Hand steht. Wenn mal das Blut verdorben ist, dann ist da nichts mehr zu machen. Als der Doktor das letztemal hier war, da sagte ich ihm, Herr Doktor, sagte ich, hören Sie nicht auf mich alten, dummen Menschen, aber vielleicht ist es doch so, daß der Tod wegen der argen Schmerzen nicht kommen will. Als ich noch ein kleiner Junge war, da hatte eine Frau auch solche Schmerzen, daß drei Männer sie festhalten mußten, und zu der wollte der Tod auch nicht kommen, bevor die argen Schmerzen nachließen, dann starb sie. Vielleicht ließe es sich mit unserer Mutter auch so machen, daß sie diese furchtbaren Schmerzen nicht mehr hätte, vielleicht würde sie dann von ihren Leiden erlöst. So sagte ich damals dem Doktor. Und er versprach dann, Pulver zu verschreiben, die die Schmerzen vertreiben sollten, aber die halfen eigentlich nichts, betäubten die Kranke nur für kurze Zeit ein wenig, das war alles. Eines aber versicherte der Doktor mir das letztemal mit aller Bestimmtheit, daß die Kranke nie mehr gesund werden, das Bett nie mehr verlassen würde.«

»Ich fahre zurück zur Stadt«, erklärte Indrek, »ich will sehen, ob ich dort nicht irgend etwas gegen die Schmerzen finden kann.«

»Ja, in der Stadt haben sie vielleicht bessere Arzneien, und dir wird man sie vielleicht geben«, meinte der Vater. »Du verstehst besser mit den Ärzten und Apothekern zu sprechen. Mir einfachem Menschen wollen sie nichts Rechtes geben, versprechen es wohl, aber halten ihr Versprechen nicht.«

Während der Vater mit Indrek redete, drang aus dem Nebenzimmer ununterbrochen das eintönige Stöhnen der Mutter an ihre Ohren. Aber der Vater redete weiter, als höre er es überhaupt nicht. Diese stumpfe Gleichgültigkeit wirkte besonders drückend auf Indrek, der am liebsten davongelaufen wäre, um sich nur nicht schließlich am Ende auch noch an dieses Stöhnen, dieses ganze Elend zu gewöhnen. Er wanderte planlos durch die Küche, über den Hof, um dann schließlich im Stalle zu stranden, wo Liine gerade die Tiere fütterte. Hier war alles neu und fremd geworden. Von den Pferden war ihm nur noch eines bekannt, von den Kühen zwei, die er noch bei Namen kannte, die Schafe waren alle fremd, sogar ihr Meckern klang anders als früher.

»Wir haben oft darüber gesprochen«, sagte Liine, die den Tieren aus ihrer Schürze Spreu vorschüttete, »ob du wohl noch für die Tiere in Wargamäe Interesse haben würdest, wenn du mal aus der Stadt heimkommen solltest, oder nicht. Tiiu und ich meinten, du würdest dich noch interessieren, Ants meinte, nein, das würdest du nicht. Aber nun haben wir doch recht behalten, nicht Ants, denn du bist heute durch alle Ställe gegangen und hast dir die Tiere angesehen.«

»Alles hat sich verändert, die Menschen und die Tiere«, sagte Indrek.

»Ich auch?« fragte Liine.

»Du nicht mal so sehr«, versetzte Indrek.

»Nicht wahr!« rief Liine erfreut, als bedeute Unveränderlichkeit ein großes Gut oder eine Tugend, »ich habe dich sehr lieb, Indrek, fast noch lieber als früher. Und weißt du, seit wann das so ist? Seit wir damals dieses linnene Hemdenzeug unter uns teilten vor der Truhe, weißt du noch, und ich dich dann begleitete und dein Bündel auf dem Rücken trug?«

Indrek fiel es schwer, der Schwester aufmerksam zuzuhören, noch schwerer, etwas zu erwidern, denn in seinen Ohren klang immer noch das eintönige Stöhnen und die im Flüstertöne vorgebrachten Worte von einem Steine und dem Schmerzensherd in der Seite. Wenn das nicht wäre, dann würde er die Schwester offen anblicken und ihr sagen, daß auch er sie liebe, immer geliebt habe. Ich liebe euch alle, würde er sagen, weil das Leben ohne Liebe überhaupt keinen Sinn hat, und es ganz gleich ist, was man liebt und warum man liebt; die Hauptsache bleibt, daß man überhaupt liebt. So würde Indrek reden, wenn dieses Stöhnen nicht wäre, aber nun sagt er nichts Derartiges, sondern murmelt bloß:

»Wie sonderbar ist doch alles!«

»Ja, furchtbar sonderbar«, erklärt sich Liine sogleich mit ihm einverstanden, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, was denn eigentlich so sonderbar sei.

Als Ants von der Mühle zurückkehrte, brachte er die Nachricht mit, daß auf dem Gute eine Abteilung Kavallerie eingetroffen, aber bald wieder weitergeritten sei, um nach den Aufrührern und Mordbrennern zu fahnden.

»Die Angelegenheit mit unserem Gute wird man ja wohl auch nicht so ohne weiteres auf sich beruhen lassen«, meinte der Vater. »Die werden hier auch herumschnüffeln und herumhorchen. Sieh du dich nur vor, daß man dich nicht schließlich auch noch erwischt.«

»Was sollten sie denn von mir wollen«, protestierte Ants, »ich kam ja erst aufs Gut, als schon alles in Flammen stand und demoliert war. Ich habe mir mit den andern zusammen ja nur den Feuerschaden angesehen.«

»Wer fragt danach, ob du etwas losgeschossen hast oder nicht«, meinte der Vater, »die Hauptsache ist, daß du dort gesehen worden bist. Ich habe dich genügend gewarnt, aber du willst ja nicht hören.«

»So wie die Dinge liegen, ist es wohl besser, wenn ich zu Fuß zur Bahnstation gehe«, meinte Indrek, »es ist dann leichter sich zu verstecken, wenn das erforderlich sein sollte.«

»Was solltest du denn zu fürchten haben?« fragte der Vater erstaunt.

»Eigentlich wohl nichts, Vater«, sagte Indrek, »aber da es nun überall heißt, daß es städtische Banden sind, die auf dem Lande umherziehen, sengen und brennen, so kann natürlich jeder Städter leicht Verdacht erregen.«

»Aber deine Mutter liegt doch im Sterben, du bist doch nur gekommen, um sie noch einmal zu sehen«, protestierte der Vater.

»Ach, Vater, wer fragt in solchen Zeiten nach Vater und Mutter«, sagte Indrek.

»Ach ja, du hast nur zu recht«, seufzte der alte Andres, »es gibt kein Recht mehr auf der Welt. Ich habe mich hier auf Wargamäe mein ganzes Leben lang mit meinem Nachbar herumstreiten müssen, und nun geht es auf der ganzen Welt ganz ebenso zu, noch schlimmer sogar. Hier auf Wargamäe hat doch wenigstens keiner seinem Gegner den roten Hahn aufs Dach gesetzt, aber nun ist von weiter nichts als von Brandstiftungen zu hören, mag es sich nun um Heufeimen oder Scheunen handeln, um Ställe oder Wohnhäuser. Und nun sind schließlich auch die Güter darangekommen. Früher betete man zu Gott, er möge einen vor Feuer bewahren, aber wie soll man jetzt noch so beten, wenn der Mensch, dieses boshafte Vieh, absichtlich selbst Feuer anlegt? Da kann kein Gebet mehr helfen.«

»Gebet hat nie geholfen«, erklärte Ants mit Überzeugung, »früher waren die Menschen nur dümmer und glaubten, daß Gebete helfen könnten.«

»Du hast die Weisheit natürlich mit Löffeln gefressen«, sagte der Vater ironisch.

»Beten werde ich jedenfalls nie, mag kommen, was da wolle«, erklärte Ants bestimmt.

»Indrek, du hast nun jahrelang in der Stadt die Schule besucht und all dieses kluge Zeug gelernt«, sagte der Vater, »zieht die Jugend dort die Lehren der Alten auch so ins Lächerliche? Ich darf hier auf Wargamäe überhaupt kein Wort mehr sagen, ohne daß mir von allen Seiten widersprochen wird.«

»Ach, Vater, in der Jugend sind wir alle furchtbar klug«, sagte Indrek nahezu wehmütig.

»So daß solche alten Leute wie ich weiter nichts zu tun haben, als auf den Tod zu warten«, murmelte der Vater gleichfalls in wehmütigem Tone.

»Nein, Vater, aber du mußt dich gedulden, bis die Jungen älter werden«, sagte Indrek.

Der Vater blickte Indrek an, und als er sein Lächeln bemerkte, lächelte er ihn ebenfalls versöhnt an. Nun hielt Ants die Zeit für eine praktische Bemerkung gekommen.

»Weißt du was, Indrek«, sagte er, »wenn du zu Fuß zur Bahn willst, dann begleite ich dich. Die Agrarbank hat hier einen neuen Magistralgraben ziehen lassen, und längs diesem Graben läßt sich die Strecke bedeutend abkürzen. So machen wir etwa den halben Weg durch Wald und Moor, wo wir keinem Kosaken oder Polizisten begegnen. Und wenn du den Weg mal kennst, dann kannst du ihn auch bei der Rückkehr benutzen.«

Der Vater meinte wohl, der Weg sei im Dunkeln nicht zu empfehlen, aber die Söhne blieben bei ihrem Plan. Mit dem Nachtzuge war Indrek gekommen, und mit dem Nachtzuge wollte er auch wieder zurück zur Stadt.

Als Ants sich erbot, Indrek zu führen, hatte er seine besonderen Absichten und Gedanken, und mit denen kam er auch alsbald heraus, als sie beide alleingeblieben waren. Vor allem: was Indrek glaube, ob es schließlich zu der allgemeinen Freiheit kommen werde, von welcher der Schreiber rede, so nämlich, daß es keinen Kaiser mehr geben würde, keinen Gouverneur, kein Militär und keine Polizei, sondern nur noch Miliz, das heißt eben das Volk selbst? Ob es nun mit den Gutsbesitzern und den Gütern endgültig aus sei, wenn man sie nämlich alle angesteckt haben würde, und ob es nun zu einer allgemeinen Aufteilung der Güter kommen und ein jeder sein Teil erhalten würde? Ob man den das Land durchziehenden Kavallerieabteilungen Widerstand entgegensetzen solle? Ob es stimme, daß die Revolutionäre in der Stadt über genügend Waffen verfügten, so daß einem jeden zur rechten Zeit ein Gewehr und eine Bombe in die Hand gedrückt werden würden? Ob die Revolutionäre aus der Stadt ihren Brüdern auf dem Lande zu Hilfe kommen würden, wenn die Sache hier am Ende schief gehen sollte, und was Indrek überhaupt von der ganzen Geschichte halte? Solche und ähnliche Fragen prasselten wie ein Regen auf Indrek nieder, denn Ants war der Ansicht, daß ihre Beantwortung dem klugen Bruder aus der Stadt auch nicht die geringsten Schwierigkeiten bereiten könne. Sogar der Schreiber wisse auf jede Frage eine passende Antwort zu geben, und Indrek müßte von diesen Dingen doch viel mehr verstehen und wissen als er, denn er komme doch direkt aus der Stadt, der eigentlichen Wiege der ganzen Revolution, wo all die wichtigen Beschlüsse gefaßt würden, die sie hier auf dem Lande nur einfach auszuführen hätten.

Aber Indrek mußte dem Bruder eine große Enttäuschung bereiten. Seine Antworten befriedigten Ants so wenig, daß er auf keine Weise begreifen konnte, was Indrek wohl eigentlich da in der Stadt lerne und tue, wenn er auch von den einfachsten Dingen nichts wisse. Und wozu hatte er ihnen dann die vielen Zeitungen und Bücher geschickt und überdies noch so lange Briefe geschrieben, wenn er doch selbst von der ganzen Sache nichts verstand? Indrek zweifelt, Indrek mäkelt. Mäkeln, das schien Ants gerade das rechte Wort für Indreks Einstellung. Der Schreiber hat doch eine viel klarere Einsicht in die Lage, wenn er sagt: Feuer drunter und weiter nichts. Aber Indrek dagegen: wozu die Brandstiftungen, wir brauchen doch nur Geld und Waffen. Hol's der Teufel, wozu denn Waffen, wenn die Revolutionäre davon ohnehin genug haben? Der Schreiber weiß es genau, daß sie genügend Waffen haben. Oder ist überhaupt alles ein Unsinn – die ganze Freiheit und Revolution, die Brandstiftungen und der ganze Aufruhr ein Irrsinn? Wird das Volk am Ende nur an der Nase herumgeführt mit diesen Zeitungen und Broschüren, Versammlungen, Beschlüssen, Resolutionen, Losungen, Manifesten? War das alles am Ende wirklich nur ein hohler Spuk?

Während Ants diese Gedanken auf seinem Heimwege beschäftigten, war Indrek glücklich auf der Bahnstation angelangt und wartete auf den Zug, der sich aber arg verspätete, warum, wußte niemand zu sagen. Die Beamten, an die man sich wandte, antworteten ausweichend und zuckten die Achseln, sei es weil sie selbst nichts wußten oder es für vernünftiger hielten zu schweigen, denn nach Lage der Dinge schien es geraten, in jeder Hinsicht äußerste Vorsicht zu üben. Wo aber einige Bekannte zusammentrafen, da steckte man die Nasen zusammen, und es wurde von einem Eisenbahnunglück gemunkelt, von Beschädigung des Schienenstrangs, Sprengung einer Brücke, Kämpfen der Kavallerie mit den Mordbrennern. Es sollte Tote und Verwundete gegeben haben, aber wer Sieger geblieben sei, darüber gingen die Meinungen auseinander. Eins schien unter allen Umständen klar: daß es nun tatsächlich aufs Ganze ging und die Entscheidung nahe bevorstand.

Der Morgen graute, aber der Zug kam noch immer nicht. Von einem ihm von früher her bekannten Weichensteller erfuhr Indrek unter der Hand, daß sich tatsächlich ein Eisenbahnunglück ereignet habe und der Zug vor dem Abend nicht zu erwarten sei. Aber auch am Abend traf er nicht ein; erst um die Mittagszeit des nächsten Tages konnte Indrek seine Reise fortsetzen und traf erst gegen Abend in der Stadt ein.

In seiner Wohnung angekommen, klopfte Indrek, doch es wurde nicht geöffnet, und von einer Nachbarin, die den Kopf neugierig aus ihrer Tür steckte, erfuhr Indrek, daß das Ehepaar Lohk zum Hafen gegangen sei, die Tochter begleiten, die heute nach Amerika hatte abreisen sollen. Nun machte sich auch Indrek dorthin auf, hörte aber schon lange, bevor er dort eingetroffen war, unterwegs die Sirene eines großen Dampfers dreimal heulen. Indrek setzte sich in Trab, obgleich er sich sagen mußte, daß seine Eile vergeblich sei, da er sich ja nun zum Abgang des Dampfers unter allen Umständen verspätet habe, wenn es sich um die Sirene des Dampfers handelte, mit dem Kristi ihre Reise antrat. Ganz außer Atem traf er schließlich am Hafen ein und erblickte gerade noch die Lichter eines großen, die Hafeneinfahrt verlassenden Dampfers. Indrek mischte sich unter die den Hafenkai umsäumende Menge, die erregt flüsternd aufs Wasser niederblickte, auf dem einige Boote ihre Kreise zogen.

»Was geht hier vor?« fragte er betroffen.

»Jemand ist über Bord gesprungen«, bemerkte ein Mann, »das Schiff hat sich deswegen sogar verspätet. Und nun suchen sie nach der Leiche, aber bei dem starken Wellengang ist das eine schwierige Sache.«

»Wer ist denn da ins Wasser gesprungen?« fragte Indrek, sich äußerlich zur Ruhe zwingend, während er fühlte, wie sein Herz zu zittern begann.

»Ein junges Mädchen«, erwiderte der Mann leise, als handle es sich um ein Geheimnis. »Die Eltern begleiteten sie zum Schiff, da stehen sie; nahezu unter ihren Augen. Schrecklich!«

Indrek drängte sich durch die Menge zu einer weinenden Frau hin, an deren Seite ein starker, gewichtiger Mann stand.

»Was dem unglücklichen Kinde doch bloß eingefallen ist, so etwas zu tun«, sagte die Frau schluchzend zu einer neben ihr stehenden Person. »Wenn wir sie noch irgendwie gezwungen hätten zu fahren, aber sie wollte es ja selbst, der Onkel hatte sie doch eingeladen, ihr eine gute Stelle in Aussicht gestellt. Wir hatten sogar gute Reisegesellschaft für sie gefunden, und darum war mein Herz ganz ruhig, und ich ließ sie ruhig ziehen. Und nun ...«

Indrek wagte es nicht, sich den unglücklichen Eltern bemerkbar zu wachen, aber er stand ganz in ihrer Nähe und hörte ihre Klagen. Der Vater schwieg meistens, oder wenn er die Lippen öffnete, so geschah es mehr, um die fassungslos weinende Frau zu trösten und zu beruhigen, als um zu klagen und zu jammern. Ihm wagte es Indrek denn auch schließlich sich zu nähern, um ihn bei der Hand zu fassen und diese stumm zu drücken. Lohk schien anfangs gar nicht zu begreifen, was man eigentlich von ihm wolle, aber dann erkannte er Indrek und legte den Finger warnend auf die Lippen, Indrek bedeutend, zu schweigen. Dann entfernte er sich langsam mit Indrek ein wenig von der Frau und sagte leise:

»Verstehen Sie, direkt unter unseren Augen, zwischen unseren Händen sozusagen. Und ich sagte ihr noch kurz vorher, als sie so heftig weinte, wenn du vielleicht lieber nicht reisen willst, dann bleib zu Hause, aber sie antwortete mir, nein, ich reise, daheim will ich nicht bleiben. Gut, sagte ich, so ist es vielleicht auch besser, denn ich dachte daran, daß sie doch immer auf all diese Versammlungen gerannt war und doch vielleicht von den Spitzeln bemerkt worden sein könnte und schließlich am Ende noch verhaftet werden würde. Dann doch schon lieber nach Amerika, aus diesem ganzen Revolutionsrummel heraus. Aber etwas sonderbar war dieses Kind ja immer, so daß ...«

Lohks Rede wurde unterbrochen, denn in der Menge machte sich plötzlich eine lebhafte Bewegung bemerkbar, und man hörte Stimmen rufen:

»Gefunden! Man hat sie herausgezogen! Tot! Fertig! Natürlich! Bei dieser Kälte!«

Lohk eilte zu seiner Frau, die in ein sinnloses hysterisches Geschrei ausgebrochen war, während Indrek sich still zur Seite stahl und aus der Ferne den fruchtlosen Belebungsversuchen an der Ertrunkenen folgte. Wie er diese mühevollen, anstrengenden Versuche, an denen sich auch der Vater des Mädchens beteiligte, beobachtete, kam es Indrek in den Sinn, wie eigensinnig doch Kristi immer gewesen war. Die Eltern hatten es wirklich oft schwer genug mit ihr gehabt, schwer, als sie noch lebte, schwerer noch jetzt, nachdem sie gestorben.


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