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XXV

Überall waren eifrige Vorbereitungen zu einem allgemeinen Landeskongreß im Gange, der in nächster Zukunft stattfinden sollte. Insbesondere war auch Wiljasoo an diesem Kongreß interessiert, insofern er aus diesem Anlaß ein besonderes Flugblatt herauszugeben gedachte. Auch Krösus und Josua trafen ihre Vorbereitungen, indem sie eifrig darüber Rats pflogen, wie es anzustellen wäre, um die Führung des Kongresses in die Hände zu bekommen. Vor allem kam es darauf an, daß möglichst radikale Delegierte gewählt würden, und hierfür schienen die Aussichten günstig, denn inzwischen waren sogar solche von Natur friedliche Leute, wie der Krämer Wesiroos, ins Lager der Radikalen abgeschwenkt und schwärmten für Streiks, Umsturz, Boykott und Konfiskation.

Madam Lohk dahingegen brachte all diesen weltlichen Dingen fortgesetzt immer weniger Interesse entgegen. Hatte es einen Sinn sich wegen dieser Dinge aufzuregen, wo doch der Jüngste Tag ohnehin vor der Türe stand, wie fromme, vom Geiste erleuchtete Gottesmänner das auf Grund der Heiligen Schrift unwiderleglich verkündeten? Nur eine weltliche Sorge machte ihr noch zu schaffen: ob es sich nämlich lohne, ihr Kind, sozusagen am Vorabend des Jüngsten Tages, noch auf die Reise zu schicken, obgleich der Onkel aus Amerika das Reisegeld nun in nahe Aussicht gestellt hatte. Ja, wenn sich ein frommer Knecht Gottes finden würde, der den himmlischen Vater darum bäte, den Jüngsten Tag noch ein wenig hinauszuschieben, aber freilich, nicht für allzulange, denn dann würde ja auch die Erlösung der Welt durch Christus hinausgeschoben. Und die Erlösung war Madam Lohks größte Sorge in dieser unruhigen Revolutionszeit.

In diesem Dilemma zwischen dem Paradiese auf Erden und dem Jüngsten Tage ging Indrek gedrückt umher und ließ den Kopf hängen, denn seine peinliche Geldaffäre hatte ihn aus der revolutionären Front beiseite gedrängt. Niemand interessierte sich eigentlich mehr für ihn. Selbst Kristi verurteilte ihn im stillen, wenn auch mehr aus dem Verstande der anderen heraus, als aus dem eigenen Herzen, denn im Grunde interessierte sie sich brennend für Indreks Erlebnis mit dem Soldaten und suchte nun eine passende Gelegenheit, Indrek über alle Einzelheiten dieser rührenden Geschichte zu befragen.

Hierbei kam ihr der Zufall zu Hilfe. Als sie eines Abends nach einer englischen Stunde heimeilte, holte sie Indrek auf der Straße ein, wollte anfangs an ihm vorüber, zögerte dann aber doch und schloß sich ihm an. Anfangs schien diese Begegnung beiden gleichsam ein wenig peinlich, aber dann kamen sie allgemach doch ins Gespräch, als sei inzwischen nichts Besonderes vorgefallen. Schließlich holte Indrek sogar den Brief des Soldaten hervor und zeigte ihn Kristi im Schein eines Schaufensters.

»Glauben Sie an die ewige Seligkeit?« fragte Kristi, nachdem sie den Schluß des Briefes mehrfach durchgelesen hatte.

»Warum fragen Sie mich das?« versetzte Indrek überrascht.

»Im Briefe steht doch, daß sie für Ihrer Seele Seligkeit beten wollten«, erklärte Kristi, »und die Mutter ist so sehr um mein Seelenheil besorgt.«

»Die Mutter meint doch die Seligkeit nach dem Tode«, sagte Indrek, »aber ich meine die Seligkeit im Leben.«

»Und wozu tragen Sie denn diesen Brief immer bei sich?« fragte Kristi.

»Zur Erinnerung daran, daß ich einmal im Leben selig gewesen bin«, sagte Indrek, die beiden letzten Worte betonend.

»Und nun sind Sie es nicht mehr?« fragte Kristi.

»Nein«, versetzte Indrek. »Der Mensch ist im Leben überhaupt nie lange selig, sondern bloß für kurze Augenblicke.«

»Aber nach dem Tode?« fragte Kristi neugierig.

»Das kann ich nicht wissen«, sagte Indrek, »denn tot bin ich noch nicht gewesen.«

»Aber alle glauben doch, daß der Mensch erst nach dem Tode selig wird«, meinte Kristi nachdenklich.

»Möglich«, sagte Indrek, »aber ich bin schon vor dem Tode mehrfach selig gewesen und hoffe das auch noch in Zukunft zuweilen zu sein.«

»Ich rede im Ernst, aber Sie machen sich immer über alles lustig«, schmollte Kristi.

»Durchaus nicht«, verteidigte sich Indrek. »Ich kann Ihnen sogar die Male aufzählen, die ich selig gewesen bin. Es begann schon, als ich noch klein war, aber damals wußte ich noch nicht, was das eigentlich bedeutet. Das erstemal ahnte ich es in einem großen Zimmer, in dem unter dem Fenster ein großer schwarzer Tisch stand, und vor dem Tisch auf dem weiß abgescheuerten Fußboden ein junges Mädchen, das mich fragte, ob ich bereit wäre, ihr mein Blut zu geben, wenn sie seiner bedürfen sollte. Und ich empfand, daß ich ihr all mein Blut würde opfern können, wenn sie es nötig haben sollte, und indem ich ihr dieses bekannte, wurde mir klar, daß ich in diesem Augenblick selig sei.«

»Und wo ist dieses Mädchen nun?« fragte Kristi erregt.

»Sie ist nicht mehr«, sagte Indrek und fuhr dann fort: »Und das zweitemal überkam mich die Seligkeit in einer niedrigen Kellerwohnung, in der mitten auf dem Fußboden auf einem Haufen alter Lumpen ein schluchzendes Kind lag, das verkümmerte Beine hatte, die es nicht tragen wollten. Und dieses Kind hatte den Glauben daran verloren, daß seine Beine noch jemals gesund werden könnten, und ich wollte ihm diesen Glauben wiedergeben. Und als mir das gelang, da spürte ich zum zweiten Male die Seligkeit.«

»Und das drittemal war jetzt, nicht?« fragte Kristi.

»Nein, nun war es schon das viertemal. Als ich die Treppe hinabging und auf der letzten Stufe den Soldaten hocken fand, da erkannte ich, in sein Gesicht blickend, daß die Tage dieses Menschen gezählt seien. Aber ich wollte ihm sein Leben um jeden Preis wiedergeben, denn er erzählte mir, daß er zu Hause fünf kleine Kinder habe, und so vergriff ich mich denn an der Revolutionskasse, an der Revolution selbst, wie Krösus sagte, und gerade als ich das tat, empfand ich wieder einen tiefen Schauer der Seligkeit, denn die Revolution war mir das Höchste und Heiligste, und doch konnte ich sie um der Kinder dieses unbekannten Soldaten willen vergessen.«

Sie gingen schweigend eine Weile nebeneinander her. Dann fragte Kristi:

»Und das drittemal?«

»Das war mitten in der Nacht. Draußen war es kalt und sternklar. Ich saß in einem großen, hohen Zimmer voller schwarzer Schultische, davor ein Katheder und daneben eine schwarze Tafel und zwei Notenpulte. Gerade dieser beiden Notenpulte erinnere ich mich besonders deutlich, das eine war schwarz, das andere braun. Ich saß an einem Tisch, vor mir ein Lichtstümpfchen, denn in der Deckenlampe war kein Öl mehr. Ich schrieb und kam dabei immer mehr in Schwung, der in eine seltsame Ekstase ausmündete: den Mord Gottes – in Worten natürlich – und in diesem Augenblick empfand ich Seligkeit.«

»Kann man denn Gott überhaupt töten?« fragte Kristi unsicher und gleichsam entsetzt.

»Damals, in dieser Nacht, glaubte ich, daß es möglich sei«, erwiderte Indrek.

Wieder schritten sie eine längere Weile stumm nebeneinander her. Endlich sagte Kristi:

»Das müßte die Mutter hören, auf welche Weise Sie selig werden.«

»Warum«, meinte Indrek. »Jeder Mensch wird auf seine Weise selig. Ihnen habe ich das nur darum erzählt, damit Sie mich nur ein wenig verstehen möchten und mir nicht gleich allen andern mißtrauen.«

»Ich habe Ihnen nie mißtraut, aber wenn die andern ...«

»Ja, gerade, wenn die andern ...«, pflichtete Indrek ihr bei. »Den andern gehört die Welt, daran hat die Revolution nichts geändert. Wir selbst sind gleichsam überhaupt nicht vorhanden, es gibt immer nur andere, und wenn einer auch nur einen Augenblick wagt, er selbst zu sein, dann wird er sogleich der Gegenstand des Mißtrauens – bis zum Verrat an der Revolution. Es begann schon damals im Sommer auf der Versammlung im Walde. Und dann später verdächtigte Ihr Vater mich, und nun bin ich sozusagen erledigt. Aber wissen Sie, was ich Ihnen sagen will: ebenso wie man mich verdächtigt, könnte ich auch gegen die anderen Mißtrauen hegen.«

»Auch gegen meinen Vater?« fragte Kristi.

»Auch gegen Ihren Vater«, sagte Indrek. »Denn sagen Sie mir doch bitte selbst, was wissen Sie denn, genau genommen, eigentlich von ihm? Wissen Sie, wo er hingeht, was er tut und treibt, mit wem er verkehrt?«

»Er besucht Versammlungen und ...«

»Wie wissen Sie das?« fragte Indrek unerbittlich.

»Aber er sagt es doch selbst«, erklärte Kristi naiv.

»Und Ihnen genügt das?« fragte Indrek. »Aber in Wirklichkeit genügt das natürlich keineswegs, vielmehr müßten Sie mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, was er tut und treibt, mit wem er verkehrt; erst dann könnten Sie behaupten, wirklich Bescheid zu wissen. Und das müßte Wochen hindurch geschehen, bevor Sie darüber schlüssig werden könnten, ob er nicht doch zuweilen etwas tut, was Verdacht erregen könnte.«

»Sie mißtrauen also meinem Vater?« fragte Kristi erregt.

»Nein«, versetzte Indrek, »ich mißtraue ihm durchaus nicht, ich führe ihn nur als Beispiel dafür an, daß man jedem Menschen mißtrauen kann, wenn man nur will, wie etwa Ihr Vater das mir gegenüber tat.«

»Aber er verkehrt doch nicht mit der Polizei«, widersprach Kristi.

»Wie wissen Sie das?« fragte Indrek ungerührt.

»Sie können einem wirklich Furcht einjagen«, sagte Kristi schaudernd. »Sie reden so, als wüßten Sie etwas Bestimmtes.«

»Nein, Kristi, glauben Sie mir, ich weiß nichts, und ich denke auch nicht daran, Sie zu erschrecken. Ich will Ihnen bloß verständlich machen, wie schrecklich es doch ist, daß es gerade bei einer Revolution so viel Mißtrauen gibt, ja, daß ohnedes eine Revolution gar nicht recht denkbar ist.«

Inzwischen waren sie bei ihrem Hause angelangt, und um nicht zusammen einzutreten, reichten sie sich zum Abschied die Hand und trennten sich, Kristi, um durch die Hofpforte zu verschwinden, Indrek, um noch eine kleine Runde zu machen, bevor er ihr folgte.


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