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VIII

Nach Timusks Abgang erschienen bald zwei neue Lehrkräfte, ein Russe und ein Pole. Auch diese beiden nahmen im Schulgebäude Wohnung und speisten zusammen mit den Schülern. Der Russe Slopaschew war ein großer, kräftig gebauter Mensch mit einem tiefen Baß, dessen hohler Klang aus einem Fasse zu kommen schien. Seine im Verhältnis zum gewichtigen Oberkörper kurzen, dünnen Beine bewegten sich stets in einem kurzen Trippelschritt, als vermöchten sie nicht weiter auszuschreiten. Seinen Hut trug Herr Slopaschew stets entweder ein wenig schief, flott über ein Auge gedrückt oder in den Nacken geschoben, niemals gerade recht, denn Herr Slopaschew verachtete die goldene Mittelstraße, nicht nur im Huttragen, sondern auch sonst – auch im Essen und Trinken.

Anders sein Kollege und später unzertrennlicher Freund Woitinski. Jedesmal, wenn dieser seine Lehrermütze mit dem Samtrand aufsetzte, achtete er darauf, daß die Kopfbedeckung peinlich genau ausgerichtet ihren Zweck erfüllte. Keine Übertreibung, weder nach rechts noch nach links noch auch nach hinten. Auch er bewegte sich in kleinen Schritten vorwärts, aber nicht, weil sein Leib zu schwer gewesen wäre, denn er war dünn wie eine Hopfenstange, sondern weil seine Beine so schwach waren, daß sie sich in den Knien gegeneinander zu stützen und in den breiten Beinkleidern zu schlottern schienen. Das Gesicht runzlig und schmal, der Mund bleich und schlaff, die schwermütigen, matten Augen hinter Brillengläsern versteckt. Anfangs trug er, gleichsam um seine Person zu empfehlen, eine Lehreruniform mit Samtkragen, auf der Brust das Abzeichen der Universitätsabsolventen; bald indessen wurde dieser Uniformrock durch einen dicken, braunen Mantel ersetzt, denn Herr Woitinski fror stets. Von mittlerem Wuchse, wegen seiner großen Magerkeit indessen lang erscheinend, gemahnte er in seiner vorgebeugten Haltung sehr an eine Elster, und so erhielt er denn auch alsbald diesen Spitznamen, der ihm dann bis zum Schlusse verblieb. Auch seine piepsende, heisere Stimme erinnerte mehr an einen Vogel als an einen Menschen. Herr Slopaschew erhielt mehrere Spitznamen, von denen schließlich der Name Petz, als am besten passend, dauernd an ihm haftenblieb. Er war der Meister Petz, und sein Zimmer die Bärenhöhle. Er hatte nämlich Ollinos Zimmer erhalten, der wiederum Koovis Zimmer bezog, der seinerseits nach oben in Timusks Zimmer übersiedelte. Woitinski wurde unten im großen Zimmer untergebracht, von wo man einen Schüler nach Sibirien expedierte, um für den Lehrer ein Bett frei zu machen.

Mit der Unterbringung von zwei Lehrern fremder Nationalität mitten unter den Schülern hatte der Direktor pädagogische Zwecke im Auge. Es bestand nämlich die Vorschrift, daß die Schüler untereinander stets Russisch sprechen sollten, und Herr Maurus selbst betonte immer wieder, daß einer Lehranstalt erster Kategorie als Umgangssprache nur eine Fremdsprache anstünde. Daher war auch Deutsch gestattet, wenngleich nicht eigentlich sozusagen amtlich, und der Direktor selbst bediente sich fast immer dieser Sprache.

Wie sich indessen bald herausstellte, hegten die beiden Neuankömmlinge auch nicht das geringste Interesse für die Umgangssprache der Schüler, denn sie hatten durchaus ihre Spezialinteressen. Sie liebten es, zusammen Spaziergänge zu unternehmen, der eine den Bauch kühn vorgewölbt, der andere den Rücken zum Buckel gekrümmt. Und von diesen Spaziergängen pflegten sie stets in bester Laune heimzukehren, die noch eine weitere Aufbesserung erfuhr, wenn sie beide eine Weile in Slopaschews Zimmer geplaudert hatten.

Als Herr Woitinski eines schönen Tages das Zimmer seines Kollegen verließ, war er so wohlgelaunt, daß er fröhlich vor sich hinträllerte: »Lallala, lallala!« summte er, im großen Zimmer auf und ab schreitend, als gäbe er einem unsichtbaren Sängerchor den Ton an. Und bald begann er auch den Jungen von sich und den Polen überhaupt zu erzählen, wobei er unter anderem betonte, daß auch in Slopaschews Adern polnisches Blut fließe und daß wenigstens die Hälfte der Russen überhaupt keine Russen seien, sondern eigentlich Polen.

»Das sind Überläufer, Verräter, weil wir ein besiegtes, versklavtes Volk sind«, sagte er, hilflos schmatzend, während er sich furchtsam umblickte. »Aber davon darf man nicht reden«, fuhr er fort, »ihr Esten dürft auch nicht davon reden, daß ihr versklavt seid. Aber ihr habt es doch leichter als wir. Euch fehlt ja eigentlich gar nichts, denn ihr habt ja weder eine Sprache noch eine Kultur, aber wir Polen! Die erste Kultur Europas, der ganzen Welt! Und wißt ihr, was ich bin? Ein Pan! ... Pa...an!« Er reckte dieses Wort bedeutsam, indem er dem N gleichsam ein scharfes Tüpfelchen aufsetzte. »Pan! Panna! Wie das klingt! Aber das versteht ihr nicht, denn ihr habt keine Kultur.«

»Ich auch nicht?« fragte von Elbe und legte seine weiße, kleine Hand vor dem Alten auf den Tisch, gleichsam als Beweis seiner Kultur.

»Sie sind Deutscher, nicht wahr?« fragte Woitinski. »Oh, Sie haben schon Kultur! Ich bin in Wien gewesen. Strauß und Mozart! Oh, oh! Und als er dann selbst vortrat, Strauß nämlich, die Geige in der Hand, so, sehen Sie ...«

Und Herr Woitinski erhob sich, schwenkte seine mageren, welken Hände und tänzelte graziös auf seinen dünnen, schwachen Beinen auf und nieder, bestrebt, seinen Zuschauern möglichst anschaulich vor Augen zu führen, wie Strauß das Podium betreten und wie er gespielt habe. Und dazu summte er mit seiner piepsigen Stimme eine Walzermelodie. Die Jungen standen im Kreise um ihn her und lachten.

»Ihr lacht«, sagte Woitinski, indem er sich wieder setzte. »Aber wenn ihr ihn selbst gehört hättet, dann hättet ihr nicht gelacht. Ihr hättet nur getanzt, alles tanzte damals.«

Solche und ähnliche Szenen wiederholten sich oft, und auch Indrek war häufig ihr Zeuge, denn angesichts der veränderten Verhältnisse war er von oben, aus Sibirien, nach unten ins große Zimmer, in Herrn Woitinskis nächste Nähe versetzt worden. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß die eingezahlte Summe nur bis Weihnachten reichte und daß für eine neue Einzahlung keine Aussicht bestand. Die Schreiber-Mai, die ihm ihre Hilfe versprochen hatte, schickte ihm nur fünf Rubel, und auch diese nur mit blutendem Herzen, wie sie schrieb, denn wenn ihr Mann davon erfahren sollte – und das würde er unbedingt –, würde er sie sicherlich halbtot prügeln.

So hatte denn der Direktor eines schönen Tages Indrek zu sich beschieden und ihm gesagt:

»Das neue Semester hat schon begonnen. Wo bleibt das Geld?«

»Jemand hatte es mir in Aussicht gestellt, aber nun ist es ihm doch unmöglich«, erklärte Indrek.

»Sie hätten das Geld gleich nehmen sollen und es Herrn Maurus bringen, der hätte es ins Buch eingetragen. Geld muß man immer gleich nehmen, alles andere hat Zeit. Wer war denn dieser Jemand – ein Bekannter oder Verwandter, ein Mann oder eine Frau?«

»Eine Frau«, versetzte Indrek.

»Was!« rief der Direktor. »Ein Frauenzimmer hat Ihnen Geld versprochen, und mit diesem Versprechen kommen Sie zu Herrn Maurus in die Schule? Nun sagen Sie mir doch bitte selbst, was fängt Herr Maurus mit dem Versprechen einer Frau an? Wann hätte das Versprechen einer Frau je etwas gegolten? Von Frauen muß man immer alles gleich nehmen, sonst erhält man nichts von ihnen, denn Frauen bedenken sich stets. Eine Frau verspricht alles immer nur für dieses eine Mal, denn das nächste Mal will sie doch auch wieder etwas zu versprechen haben. Haben Sie denn faktisch gar kein Geld?«

»Fünf Rubel hat sie geschickt«, sagte Indrek nun, obgleich er diese Sendung eigentlich hatte verheimlichen wollen.

»Was?! Sie haben fünf Rubel in der Tasche und erklären, Sie hätten kein Geld!« rief der Direktor, und Indrek war im Zweifel darüber, ob es Ernst oder Scherz war. Und als Indrek ihm den Schein überreichte, knüllte er ihn in der Faust zusammen und schob die Hand in die Tasche. Dann wandte er sich zum Fenster, schaute über die Brille auf die Straße und murmelte vor sich hin: »Warten Sie, warten Sie. Ja, was ich sagen wollte: einem Frauenzimmer darf man nie vertrauen, von dem muß man immer alles gleich nehmen, sonst geht man leer aus ... Ist diese Frau alt oder jung?« wandte er sich dann plötzlich wieder an Indrek.

Dieser nannte Mais Alter.

»Dann ist sie ja alt!« rief der Direktor. »Und wir beiden Esel haben diesem alten Weibe geglaubt! Einem alten Weibe darf man nie glauben. Wäre sie noch einige Jahre älter, so hätte sie uns nicht einmal diese fünf Rubel geschickt. Und wie ist der Name dieser Frau? Mai? Nun, dann schreiben wir also ins Buch: von Mai fünf Rubel erhalten, um die volle Wahrheit zu sagen.«

Mit diesen Worten machte der Direktor seine Aufzeichnung, die er dann Indrek vorwies, damit dieser sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen könnte, daß Mais fünf Rubel tatsächlich eingetragen seien. Dann fuhr der Direktor fort:

»So, und nun wollen wir mal überlegen, ob Herr Maurus seine Schule schließt oder ob Sie aus der Schule austreten. Denn Herr Maurus müßte natürlich seine Schule schließen, wenn alle Schüler ihm nur fünf Rubel bringen würden. Aber warum gibt Ihr Vater Ihnen kein Geld?« fragte der Direktor plötzlich.

»Der Vater hat kein Geld«, versetzte Indrek.

»Wieso hat er kein Geld?« fragte der Direktor. »Hier in meinem Buch steht doch: der Vater besitzt einen großen Hof.«

»Aber der Hof bringt nichts ein«, erklärte Indrek.

»Was ist das nun für eine Geschichte, daß ein großer Hof nichts einbringen soll.«

»Schlechte Zeiten«, sagte Indrek entschuldigend, und fügte dann hinzu: »Und die älteren Schwestern haben geheiratet ...«

»Wieder diese Weiber«, unterbrach ihn der Direktor. »Immer die Weiber.«

»Der älteste Bruder wurde zum Militärdienst eingezogen, ich kam hierher, zu Hause sind nur mein alter Vater, meine Mutter und die kleinen Geschwister«, fuhr Indrek fort.

»Ja, das ist etwas anderes«, sagte der Direktor nun entgegenkommend, indem er sein Buch wieder aufschlug. »Warten Sie, warten Sie«, murmelte er dann vor sich hin.

Und dann machte er im Buche folgende Eintragung: »Die Töchter verheiratet, der Sohn im Militärdienst, die Geschwister minderjährig.«

»Wieviel Schwestern haben geheiratet?« fragte er.

»Zwei«, versetzte Indrek.

»Nun ja, natürlich, wenn zwei Schwestern geheiratet haben, dann natürlich«, bemerkte der Direktor nachsichtig. »Die Töchter bringen hinaus, die Söhne bringen herein, denn wer würde sonst eine Frau nehmen, wenn nicht daraufgezahlt würde. Zahl zu, weiter nichts. So daß also von zu Hause nichts zu erwarten ist?«

»Eben nicht«, sagte Indrek. »Aber wenn es sich nur bis zum Sommer irgendwie machen ließe, dann würde ich irgendwo Verdienst suchen«, setzte er hinzu. Und dabei zitterte ihm das Herz, als stünde sein ganzes Lebensglück auf dem Spiele.

»Was für einen Verdienst?« fragte der Direktor.

»Ich würde wieder zum Schreiber gehen, er bittet mich, zurückzukommen.«

»So, so, zum Schreiber«, murmelte der Direktor, als beruhige ihn das auch nicht im allergeringsten. »Der Sommer ist noch weit, und bis dahin wird noch viel Geld aufgehen, sehr viel Geld. Aber wie wäre es, wenn Sie mir ein wenig behilflich wären, so wie Kopfschneider oder sonst jemand? Wenn Sie an Kopfschneiders Stelle treten würden? Verstehen Sie? Aber dann müssen Sie leichte Füße haben und einen leichten Schlaf, sonst hören Sie des Nachts nicht, wenn geschellt wird. Herrn Maurus' Haustüre hat nicht so viele Schlüssel, daß alle Jungen und Lehrer, die nachts heimkehren, selbst öffnen könnten. Wo alle die Schlüssel lassen und wie viele würden dann verlorengehen! Die ganze Stadt wäre bald voll von Herrn Maurus' Schlüsseln. Pantoffel haben Sie nicht? Natürlich nicht. Was sollte man mit denen auch auf dem Lande anfangen. Am besten, Sie behalten zur Nacht die Socken an, dann haben Sie es wärmer, wenn Sie an die Türe gehen, um zu öffnen, denn im Vorhause ist es kalt, da wird von draußen an den Füßen Schnee hereingetragen. Und wenn Sie dann die Türe verschlossen haben, dann immer nachprüfen, ob sie auch wirklich verschlossen ist. Immer nachprüfen! Und dann wieder ins Bett und gleich einschlafen, denn sonst könnte inzwischen schon wieder jemand anders kommen, und Sie kämen überhaupt nicht zum Schlafen, müssen gleich wieder hinaus, um zu öffnen.«

»Und wie bleibt es mit dem Unterricht? Werde ich den fortsetzen können?« fragte Indrek.

»Aber natürlich, selbstverständlich, ohne den geht es doch nicht«, sagte der Direktor beruhigend. »Nur gelegentlich, im Falle dringender Notwendigkeit, wenn irgendein eiliger, wichtiger Gang zu machen ist oder sonst was, dann natürlich müssen Sie in der Stunde fehlen. Und dann muß manchmal unten im großen Zimmer jemand sein, wenn da sonst niemand ist, denn leer darf das Zimmer nicht sein, es könnte jemand kommen. Kommen und nach Herrn Maurus fragen, und wenn ich nicht da bin, dann vertreten Sie mich, empfangen den Menschen, reden mit ihm. Aber wenn mal dieser Einäugige kommen sollte oder der Pockennarbige, dann ist Herr Maurus nie zu Hause, verstehen Sie. Einfach – nicht zu Hause und weiter nichts. Und auf die Frage: Wann wird er kommen, antworten Sie: Ich weiß nicht, Herr Maurus hat viel zu tun, hat furchtbar viel zu tun. Dieser Einäugige will immer nur Geld, weiter nichts. Und der Pockennarbige, dieser Dicke mit der derben Nase und den Schlitzaugen, der immer keucht – Sie werden ihn gleich erkennen, sobald Sie ihn nur erblicken –, der will auch immer nur Geld. Solche verrückte Kerle sind die beiden, daß Sie immer nur von Herrn Maurus Geld haben wollen. Sie ziehen also von oben nach unten an Kopfschneiders Stelle. Und dem gibt Herr Maurus den Laufpaß.«

»Wenn Kopfschneider meinetwegen fort soll, dann will ich lieber gehen«, sagte Indrek.

»Nein, nein, nicht Sie!« rief der Direktor. »Der Lette muß gehen, denn der versteht nicht, mit den beiden zu reden, die nach Geld kommen. Und das muß man verstehen. Sie haben ein so ehrliches Gesicht, so ehrliche Augen, Ihnen werden sie glauben, immer wieder glauben, und so sind wir sie los: sie werden gleich gehen, wenn Sie erklären, Herr Maurus sei nicht zu Hause. Aber dem Letten glauben sie nicht mehr, der ist ihnen verdächtig geworden. Nein, der Lette muß gehen. Wozu den halten, wenn er nicht zahlen kann. Herr Maurus hat doch keine lettische Schule, sondern eine rein estnische. Darum mögen auch die Russen und die Deutschen Herrn Maurus nicht, sie mögen die Esten überhaupt nicht, können sie nicht leiden. Niemand liebt den Esten, nicht einmal er selbst. Der Russe liebt den Russen, der Deutsche den Deutschen, der Lette sogar ein wenig den Letten, aber der Este mag den Esten nicht, er liebt den Russen, den Deutschen, so ist es um den Esten bestellt. Aber der Este soll den Esten lieben, wie Herr Maurus ihn liebt. Und wenn wir zwei estnischen Männer die Sache in die Hand nehmen, dann muß sie gehen. Aber heute müssen Sie noch oben schlafen, heute noch oben ...«


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