Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX

Immer wieder mußte Indrek daran denken, wie das Mädchen sich unter seinem Kinn an seiner Brust zusammengekauert hatte, wie ein Küchlein unter den Flügeln der Henne, und wie dieses Mädchen dann später die Hände flehend erhoben hatte, als er auf das Fensterbrett kletterte und hinaussprang. Aber das Lächeln dieses Mädchens vor wenigen Jahren, damals an der Tür des Gasthauses, das war plötzlich vergessen und ausgelöscht, oder wenn es gelegentlich doch noch mal in seinem Gedächtnis auftauchte, so ließ es ihn kalt und gleichgültig, und es wollte ihm scheinen, als sei die Welt dadurch um ein Stück ärmer geworden, eine helle, warme Freude gestorben.

Diese Gedanken und Empfindungen beschäftigten ihn Tag und Nacht. Des Nachts warf er sich unruhig auf seinem Lager hin und her, und am Tage suchte er Gelegenheit, allein zu sein. Und seltsamerweise empfand er die Einsamkeit nirgends so tief wie in dem alten Schauer, in dem er sich auf dem Stroh seinen bunten Jugendtraum aus dem Herzen geschlafen hatte. Und es mochte wohl darum sein, daß er sich immer häufiger gerade hierher schlich, als zögen ihn die Kindererinnerungen dorthin.

Das Stroh, auf dem Indrek im Schauer zu sitzen liebte, hatte hier schon jahrelang gelegen. Es stammte noch aus der Zeit, als Herrn Maurus' Lehranstalt noch mit Volldampf arbeitete, wie Tigapuu und Ollino sich auszudrücken pflegten, wenn auf die alte gute Zeit die Rede kam. Damals hatte das Stroh zum Auffüllen der Schlafsäcke der Jungen gedient, denn Herr Maurus mochte Matratzen nicht leiden, weil diese schwer zu säubern waren, wenn mit ihnen etwas passierte, und es passierte eigentlich immer etwas. Aber das Stroh konnte jedes Semester erneuert, und die Säcke gewaschen und ausgekocht werden.

Ja, wenn die Rede auf die alte gute Zeit kam, dann konnten Tigapuu und Ollino in Eifer geraten. Dann berichteten sie von Ausflügen und Picknicks, Konzerten und Tanzabenden, und dabei leuchteten ihre Augen im Gedenken dieser fröhlichen, glücklichen Zeiten.

»Die Zeiten kehren niemals wieder«, versichern sie dabei immer aus neue, »es sind nicht mehr die Jungen wie damals, nicht mehr die Lehrer.«

»Und die Hauptsache – der Alte selbst ist nicht mehr der alte, das ist die Geschichte«, murmelt Ollino, während er mit gesenktem Haupt durch die Zimmer auf und ab spaziert, die erloschene Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Hosentaschen.

Unzählige Male hat Indrek diesen Gesprächen gelauscht, und er muß sich wieder mal darüber wundern, wie seltsam es doch ist, daß immer und überall, wohin er auch kommt, die gute alte Zeit vorüber ist. Nun gut, hierher war er verhältnismäßig spät gekommen, als Erwachsener nahezu, und da war es denn vielleicht kein Wunder, daß von den guten alten Zeiten nur noch diese paar Bund Stroh im alten Schauer drüben übriggeblieben waren. Aber wie war es denn mit Wargamäe? War er denn nicht rechtzeitig geboren, wie alle anderen? Und doch waren auch dort die schönsten Zeiten vorüber, als er auf dem Schauplatz erschien. Es gab nicht mehr so viele und große Schlangen, nicht mehr so viel Entennester im Röhricht unten am Fluß, und in diesem nicht mehr so viel Fische und Krebse, und die Birken im Brühl waren nicht mehr so schlank und biegsam wie einst. Es war, als würde die Welt von Jahr zu Jahr immer ärmer und leerer.

Und so erschien Indrek sich gewiß mit Recht recht eigentlich als Bettler, wenn er dort auf dem Stroh im alten Schauer Stunden und Stunden verträumte, wo ihn manchmal eine scheckige Katze besuchte, um auf die Mäuse zu lauern, die unter dem Stroh raschelten. Ein Glück für die Katze, dachte Indrek, daß sie nicht auf Wargamäe zur Welt gekommen ist, wo sie schon als blindes Junges ersäuft worden wäre, denn nach Ansicht des alten Andres fängt eine scheckige Katze weder Mäuse noch Spatzen, sondern hält sich an den Fleischtopf und die Milchbütten.

Einmal, als Indrek den Schauer gerade betreten wollte, hörte er drinnen reden. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber der Ton der Stimme klang ermahnend. Leise schlich er näher, und erblickte nun auf dem Stroh ein sieben- bis achtjähriges Mädchen, das die Katze auf dem Schoße hielt, damit beschäftigt, ihr korrekte Manieren beizubringen. Aber sobald das Kind Indrek erblickte, ließ es die Katze fahren und flüchtete selbst in die Ecke des an den Nachbargarten grenzenden Schauers, aber nicht aufrecht laufend, sondern geschwinde längs dem Boden dahinkriechend. In der Ecke des Raumes schob das Kind einige lose Bretter auseinander und verschwand durch den schmalen Spalt. Indrek blickte der Kleinen erstaunt nach, während die verlassene Katze sich sanft schnurrend um seine Füße schmiegte.

»Jagen Sie sie weg, sie haart«, hörte er das Kind hinter der Wand des Schauers rufen, während zwei große braune Augen durch die Spalte lugten.

»Komm zurück«, lockte Indrek die Kleine.

»Ich darf nicht, ich komme doch nur heimlich hierher, das gehört doch nicht uns«, erklärte das Kind. »Früher bin ich häufiger gekommen, aber nun geht das nicht mehr, du bist ja immer da.«

»Kennst du mich denn?« fragte Indrek.

»Aber gewiß doch. Du bist der Lange. Molli hat dir zuerst diesen Namen gegeben, und nun nennen dich alle so.«

»Welche alle?« verwunderte sich Indrek.

»Wir alle, die Mutter, ich, Molli, Wanda, Paula, alle.«

»Wer ist Molli?« forschte Indrek weiter.

»Molli ist meine Schwester. Sie ist groß und gesund, sie ist Näherin. Arno ist nicht zu Hause, der kommt nur selten. Wenn ich gesund sein werde, dann werde ich auch fortziehen, denn was sollte ich dann wohl hier anfangen, wenn ich gesund bin.«

»Was fehlt dir denn?« fragte Indrek, näher an den Spalt, durch den die Kleine guckte, herantretend.

»Weißt du das denn nicht?« fragte die Kleine verwundert. »Meine Beine gehorchen mir nicht, ich habe Krücken, da, am Busch liegen sie.« Indrek hockte sich zum Kinde auf der anderen Seite der Wand nieder, bestrebt, durch die Spalte zu gucken. »Wenn ich größer werde, dann wird der liebe Gott meine Beine gesund machen, wird einen Engel herbeirufen und ihm sagen: Tiinas Beine sind krank, geh und mach sie gesund. Und wenn dieser Engel es nicht verstehen sollte, dann wird er einen anderen Engel schicken, der es besser kann, so lange, bis einer kommt, der es versteht und meine Beine gesund macht. Heimlich wird der Engel kommen, wenn alles schläft. Wird kommen, anklopfen und die Mutter fragen: Wo ist die kleine Tiina, deren Beine krank sind? Und die Mutter wird auf mich weisen und sagen: dort, hinter dem Ofen, da schläft sie auf ihrem Sack. Aber es kann auch so kommen, daß der Engel überhaupt gar nicht anklopft oder fragt, sondern einfach durch eine Spalte im Fenster oder in der Tür hereinkommt, nachdem der liebe Gott ihm vorher alles genau erklärt hat, einfach hereinkommt, denn er kann seine Flügel so schmal zusammenfalten, daß er überall durchkommt, daß er kommt, ein Vaterunser betet und mich gesund macht. Das tut er einmal bestimmt, denn ich kann doch nicht immerzu so herumkriechen, wenn ich erwachsen bin. Mama sagt, das schicke sich nicht für große Mädchen.«

»Versteht sich, das geht nicht«, beeilte sich Indrek ihr beizupflichten.

»Nicht wahr«, fuhr Tiina fort. »Mutter hat versprochen, den lieben Gott so lange zu bitten, bis er seinen Engel schickt. Und ich bitte ihn auch, wir beten beide darum, Molli ist zu faul dazu. Sie sagt immer: wer kann so viel beten, daß er wirklich erhört wird. Arno betet auch nicht, denn er lernt jetzt Schlosser, hat keine Zeit zum Beten. So beten wir beide, Mutter und ich, allein, ich im Bett und die Mutter neben dem Bette kniend, jeden Morgen und jeden Abend. Ich würde es manchmal wohl vielleicht vergessen, aber die Mutter denkt immer daran. Sie sagt immer: wie sollen deine Beine denn gesund werden, wenn du nicht betest. Und wir werden beide nicht früher nachlassen, Gott soll merken, daß es uns wirklich ernst ist, meint die Mutter. Und die Tante betet auch. Die lebt da hinten bei der roten Kirche, in der Nähe des Friedhofs, wo so viele Kreuze stehen. Da ist auch Vaters Grab, Mutter bringt immer Blumen hin ... so daß wir also zu dreien beten: die Mutter, ich und die Tante. Wenn Mutter mal reich wird, dann wird sie viel Geld haben, und dann kann sie auch den Pastor für mich beten lassen, das hilft noch besser. Aber jetzt sind wir noch arm und müssen schon selbst beten. Und die Tante hilft uns dabei, der gibt die Mutter kein Geld, sie betet umsonst, denn sie ist meine Taufpatin.«

»Wo wohnst du denn?« fragte Indrek.

»Da drüben, im Hause mit dem roten Dach, man sieht es durch den Garten. Das ist unser Garten. Wie leben im Kellergeschoß, über uns wohnen unsere eigenen Herrschaften, auf der anderen Seite über den Kellern Fremde. Die Mutter wartet bei ihnen auf.«

Solchergestalt war Indreks neue Bekanntschaft, die sich bald zu einer warmen Freundschaft auswuchs. Die Phantasien des Kindes verdrängten aus seinem Kopfe die quälenden, bohrenden Gedanken an die Ereignisse der letzten Zeit. Und es berührte ihn wunderlich lieb, einem so festen Glauben an Gott zu begegnen, nachdem er von Zweifeln an ihn schon übergenug gehört hatte.

Als sie einmal wieder im Schauer zusammensaßen und plauderten, es war gegen Abend, stieg am Horizont eine dunkle Wolke herauf, aus der alsbald die ersten Blitze zuckten, während sich aus der Ferne leises Donnergrollen hören ließ. Obgleich die Sonne noch hoch stand, wurde es so dunkel als sei die Nacht schon hereingebrochen; über die Stadt lagerte sich eine schwüle Stille, und der Wind legte sich. Selbst die ihre Jungen atzenden, fleißig ab und zu fliegenden Schwalben schienen nur noch gleichsam mit halber Stimme zu zwitschern. Im Schauer herrschte eine drückende, erstickende Schwüle.

Indrek und Tiina saßen an der offenen Pforte des Gebäudes und beobachteten das aufziehende Wetter. Je lauter der Donner grollte und je heller die Blitze zuckten, desto näher rückte das Mädchen an Indrek heran.

»Ich fürchte mich«, flüsterte das Kind. »Aber Arno fürchtet sich gar nicht. Und darum flüchten wir uns immer zu ihm, wenn es gewittert. Und wenn er nicht da ist, dann zur Mutter. Die Mutter sagt wohl, daß sie sich nicht fürchtet, aber ich glaube es nicht. Das sagt sie nur unseretwegen, denn Molli und ich, wir fürchten uns. Wenn wir uns im Bett verkriechen und den Kopf unters Kissen stecken wollen, dann ruft sie uns immer zu sich. ›Kommt lieber zu mir‹, sagt sie, ›wenn es einschlägt, dann sterben wir doch wenigstens alle zusammen.‹ Aber warum sagt sie das, wenn sie sich nicht fürchtet? Sie fürchtet sich also doch. Nicht wahr? Fürchtest du dich?«

»Nein«, versetzte Indrek.

»Ganz wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Dann komme ich auf deinen Schoß, wenn es so arg blitzt. Weißt du auch, warum ich mich so vor den Blitzen fürchte? Ich fürchte, ich werde erschlagen, bevor noch meine Beine gesund geworden sind. Wären meine Beine schon gesund, dann würde es mir nichts ausmachen, aber so geht das nicht, denn dann würde ich mit kranken Beinen in den Himmel kommen. Erst muß der liebe Gott meine Beine gesund machen, dann mag der Blitz einschlagen. Aber warum erschreckt Gott uns so mit den Blitzen, wenn er es doch nicht einschlagen läßt? Die Mutter sagt, wegen unserer Sünden. Ist das wahr? Was meinst du?«

»Es wird wohl schon so sein«, meinte Indrek.

»Dann sind meine Beine wohl auch meiner Sünden wegen so krank?« fragte Tiina.

Bevor Indrek noch antworten konnte, rauschte ein Windstoß auf, fuhr durch die Bäume und sprang in die offene Pforte. Gleichzeitig fuhr ein heller Blitz nieder, von einem prasselnden Donnerschlag gefolgt, der die ersten großen Tropfen aus den Wolken schüttelte. Die Schwalben kreischten erschrocken auf. Im selben Augenblick war Tiina auch schon auf Indreks Schoß geklettert. Aber gleich darauf ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen, die Tiina beim Namen rief.

»Tiina, wo bist du, warum antwortest du nicht?« fragte die Stimme, und durch den Spalt in der Ecke guckten zwei Augen herüber. »Komm nach Hause, es fängt an zu regnen, komm schnell!«

Im selben Augenblick fuhr ein neuer Blitz nieder, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag, und dann öffneten sich die Schleusen des Himmels, und der Regen strömte nieder wie aus der Traufe.

Indrek erhob sich mit dem Kinde auf den Armen und ging zu der Wand hinüber, hinter welcher die Stimme sich hören ließ.

»Entschuldigen Sie, Fräulein«, sagte er, »aber Sie sollten hierher in den Regenschutz kommen, sonst werden Sie bald bis auf die Haut naß sein.«

Das Mädchen zögerte anfangs ein wenig, schob sich dann aber doch durch die Spalte, die Indrek verbreitern half, und so warteten sie denn alle drei zusammen auf das Vorübergehen des Regens.

»Setz dich nur recht nahe an uns beide heran«, sagte die auf Indreks Knien sitzende Kleine zur Schwester, »wir beide fürchten uns nicht.«

»In der Tat, Fräulein, rücken Sie näher heran, wenn Sie sich fürchten«, sagte Indrek.

So rückten die drei bei jedem Donnerschlage immer näher zusammen, als wünschten sie auch zusammen zu sterben, wenn der Blitz einschlagen sollte. Aber an den Tod dachte wohl keiner von ihnen, wenigstens Indrek nicht. Er dachte nur an das neben ihm sitzende Mädchen, das so runde Formen hatte. Runde schwarze Augen, ein rundes Gesicht, dessen einzelne Teile auch rund waren, die Stirn, die Wangen, ja sogar die Nase, runder Kopf, runder Hals, runde Schultern, runde Arme, runde Hüften. Ja, selbst ihr Gang und ihre Stimme erschienen irgendwie rundlich. Indrek muß sich direkt darüber wundern, daß etwas so Rundes neben ihm auf dem Strohbund sitzen kann, ohne davonzurollen. Wie ganz anders fühlt sich die Last an, die er auf dem Schoß hält, dieser magere eckige Leib, namentlich die dünnen, langen Beine, die nicht gehen wollen.

»Wir kennen Sie schon lange«, sagte das Mädchen, das inzwischen dicht an Indrek herangerückt war und die Füße der Schwester auf den Schoß genommen hatte, um sich auf diese Weise gewissermaßen fester mit Indrek zu verbinden.

»Ja, an den Stiefeln und Hosen«, fügte Tiina erklärend hinzu.

»So, an den Stiefeln und Hosen?« verwunderte sich Indrek.

»Ja, sonst bekommen wir ja aus unseren Fenstern nichts zu sehen«, fuhr Tiina fort.

»Ja, wir leben doch im Kellergeschoß und haben so kleine niedrige Fenster«, nahm Molli wieder das Wort. »Wenn jemand unsere Fenster passiert, so sehen wir nichts als seine Beine. Nur wenn jemand drüben auf der anderen Seite der Straße vorübergeht, ist er in ganzer Gestalt zu sehen.«

»Ich krieche aufs Fensterbrett und guck von da, dann sieht man besser«, mischte Tiina sich ins Gespräch, von Indreks Schoß emporblickend, als säße sie auch eben auf dem Fensterbrett.

»Aber alle sind nicht solche Schwalbenjungen wie du«, sagte Molli zur Schwester gewandt, um dann fortzufahren: »Ja, man kann also nur die Beine der Leute sehen, bis zum Knie etwa oder etwas höher, mehr nicht. Und so haben wir es gelernt, die Passanten an ihren Füßen zu erkennen, ihren Stiefeln, Hosen, Mantelschößen, Kleidern, Stöcken, Schirmen, an ihrem Gang. Anfangs war das wohl sehr wunderlich, denn als Vater noch lebte, hatten wir eine Wohnung im zweiten Stock. Aber nun haben wir uns schon daran gewöhnt, und es ist sogar sehr interessant. Du siehst dir die Beine an und denkst darüber nach, was wohl für ein Gesicht zu ihnen gehören könnte. Du siehst die Stiefel und versuchst zu erraten, wie Mütze oder Hut aussehen könnten. Du schätzt die Länge der Beine und Schritte ab und kannst sogleich sagen, wie der Mensch wohl aussehen mag. Manchmal gehen die Füße paarweise vorüber, dann versuchst du zu ergründen, ob es junge oder alte Beine sind. Sind es alte, dann mögen sie gehen, weit kommen sie dann doch wohl nicht mehr. Aber sind es junge, dann beginnt man darüber nachzudenken, wohin wohl diese beiden Paare junger Beine gegangen sein können. Man sieht ja sofort, ob es sich um ein Ehepaar handelt oder bloß um ein Liebespärchen, denn die setzen die Füße ganz anders. Und wenn man dann noch gelegentlich ein Lachen oder ein Wort hört, dann weiß man alles. Die Gelben und die Lack gingen heute vorüber, berichte ich zuweilen der Mutter, und die Gelben sagten leise zu den Lack: ›Also morgen‹, und diese antworteten: ›Ja, um acht.‹ Aber mich machen diese Beobachtungen oft traurig. Oft spazieren diese Beine lange Zeit nebeneinander her, scherzen und lachen, und dann hört das plötzlich auf, und sie spazieren wieder einzeln und getrennt voneinander vorüber. Manchmal verschwinden beide Paare und kommen nie mehr an unseren Fenstern vorüber, und man fragt sich, wo sie wohl geblieben sein mögen. Sind sie umgezogen, ausgewandert, vielleicht auf den Friedhof? Jedenfalls kehren sie nie mehr wieder. Ist das nicht traurig?«

»Ja, natürlich ist das traurig, wenn bekannte Beine nie mehr vorübergehen«, pflichtete Indrek dem Mädchen bei, und dabei bemerkte er, daß der Kopf des Kindes schwer an seine Brust gesunken war. »Sie schläft«, flüsterte er der Schwester zu, die die Füße des Kindes im Schoße hielt.

»Ja, auf Ihren Knien hat sie es schön warm«, meinte das Mädchen und fügte dann eine Bemerkung hinzu, die Indrek zusammenfahren ließ: »Fräulein Maurus ging nie an unserem Fenster vorüber, immer drüben auf der anderen Seite. Wenn sie aus Deutschland zurückkehrt, vielleicht wird sie dann bei uns vorbeikommen.«

»Sie kennen sie also?« fragte Indrek und empfand es plötzlich als sonderbar, daß er hier sitze, das fremde Kind auf den Knien und dem Geschwätz dieses rundlichen Mädchens lausche.

»Oh, wir kennen sie schon lange«, versetzte Molli. »Sie ist ja so hübsch, nicht? Alle mögen sie ja. Die Jungen sind ja wie verrückt hinter ihr her.«

»Wie wissen Sie das?« verwunderte sich Indrek, ohne zu bedenken, daß diese Frage gewissermaßen bestätigte, auch er sei wie verrückt hinter dem Fräulein her gewesen.

»Ach, wir wissen alles«, fuhr das Mädchen fort. »Durch Jürka, der erzählt uns alles. Nicht direkt uns, aber jemand anderes, und der berichtet es dann uns. Aber auch schon damals, als wir noch nichts gehört hatten, pflegte die Mutter immer zu sagen: Muß dieses Fräulein Maurus aber geliebt werden. Warum meinst du das? fragte ich. Aber sieh doch mal bloß, wie sie geht, wie sie die Füße setzt, sagte die Mutter. Wie auf Federn, und den Kopf immer so stolz im Nacken. Daraus kann man schon sehen, daß sie geliebt wird. Ich versuchte dann auch so zu gehen und die Füße zu setzen wie Fräulein Maurus, damit man glauben solle, alles sei in mich verliebt. Aber es wollte mir nicht gelingen. Die Mutter meinte damals, laß das nur hübsch bleiben, dabei kommt doch nichts heraus. Erst muß die Liebe kommen, alles andere kommt dann schon von selbst.«

»Der Regen beginnt schon nachzulassen«, bemerkte Indrek.

»Ja, und das Gewitter zieht ab«, versetzte das Mädchen und fügte dann hinzu: »Denken Sie auch noch zuweilen an Fräulein Maurus?«

»Ich?« fragte Indrek gleichsam erschrocken.

»Ja, Sie und die anderen«, sagte das Mädchen.

Indrek atmete erleichtert auf, aber gleichzeitig mußte er sich selbst darüber verwundern, wie wenig er in der letzten Zeit Ramildas Namen hatte nennen hören. Es war gegangen, wie es nun mal zu gehen pflegt: »Aus den Augen, aus dem Sinn.«

Der Regen hatte inzwischen gänzlich aufgehört. Nur im Garten hinter der Wand hörte man gelegentlich die Tropfen von den Bäumen niederrauschen, wenn ein Windstoß durch die Wipfel fuhr.

Das Mädchen erhob sich und fragte, auf das schlafende Kind deutend: »Was mache ich mit ihr? Auf der Mutter Schoß schläft sie bei Gewitter auch immer ein.«

»Ich könnte sie nach Hause tragen, aber ich komme hier ja nicht durch«, meinte Indrek.

»Das ließe sich schon machen«, meinte das Mädchen, »die Bretter lassen sich weiter beiseiteschieben. Und unsere Herrschaften sind auch gar nicht zu Hause, alle in der Sommerfrische.«

So drängte sich denn Indrek, das schlummernde Kind auf den Armen, mit Hilfe des Mädchens durch die Lücke in der Wand, um unter den tropfenden Apfelbäumen hindurch nach dem Hause hinüberzugehen. Als aber von den Bäumen einige kühle Tropfen auf die nackten Beine des Kindes fielen, erwachte es.

»Wo bin ich?« fragte Tiina, die Augen öffnend.

»Auf den Armen des Langen«, erwiderte Indrek lächelnd.

»Gewittert es nun nicht mehr?«

»Nein, das Gewitter ist vorüber«, sagte Indrek beruhigend.

»Bitte sehr, hier herunter«, sagte das voraufschreitende Mädchen. »Sehen Sie sich vor, daß Sie nicht stolpern und sich nicht den Kopf stoßen, hier ist es so niedrig und dunkel.«

Das Wohnzimmer war durch eine Zwischenwand in zwei Räume geteilt, vor der Türöffnung hing ein rötlichbrauner Vorhang. Im ersten Raum stand ein Ofen, dessen rote Ziegel hier und da unter der abgesprungenen grauen Bemalung hervorguckten, mit einem Herd davor.

Indrek suchte mit den Augen eine Stelle, wo er das Kind hätte niederlegen können.

»Vielleicht kommen Sie ins Hinterzimmer«, sagte das Mädchen, den Vorhang beiseiteschiebend, um diesen aber sogleich wieder fallen zu lassen und mit ausgebreiteten Händen lachend vor dem Durchgang Posto zu fassen, indem es sagte: »Mutters Arche Noah ist wieder mal bis an die Decke gefüllt. Da kann man nicht hin. Setzen Sie sie nur hier nieder.«

Indrek setzte das Kind auf einen Stuhl mit Strohboden neben dem Ofen.

»Bitte, nehmen Sie auch Platz«, sagte das Mädchen, einen weichen Stuhl, den sie aus dem Hinterzimmer geholt hatte, herbeischiebend. »Der Stolz unseres Hauses«, sagte sie lachend auf den Stuhl weisend, »auf dem sitzen nur unsere liebsten Ehrengäste.«

»Das war Papas Stuhl, als er noch lebte«, erklärte Tiina, »Mama hatte auch solch einen, aber der ist kaputt gegangen, der Holzwurm hat ihm die Beine abgefressen, nun liegt er im Schauer.«

In diesem Augenblick trat die Mutter unter die Türe.

»Da ist nun der Lange, du kennst ihn ja«, rief Tiina ihr entgegen, bevor noch jemand die Vermittlung der Bekanntschaft hatte in die Wege leiten können. »Er hat mich auf den Armen heimgebracht, aber ich wachte unterwegs auf, die Regentropfen weckten mich.«

»Sie, Herr Paas, kennen wir schon lange«, sagte Madam Waarmann und lächelte dabei so, daß jeder vernünftige Mensch sogleich erkennen mußte, daß weder sie selbst noch ihre Kinder eigentlich hierher gehörten, sondern ganz woanders hin, wo es viel feiner und besser zuging. »Wir haben so viel von Ihnen gehört, von Ihnen und von Fräulein Maurus.«

»Sonderbar«, murmelte Indrek betreten; er war nur froh, daß im Zimmer Dämmerung herrschte, denn sonst hätte man sein Erröten sicherlich bemerken müssen.

»Warum habt ihr den Gast denn nicht ins Hinterzimmer gebeten?« fragte Madam Waarmann vorwurfsvoll.

»Ich wollte ihn ja dahin bitten, aber die Arche Noah war ja wieder bis an die Decke gefüllt«, erklärte Molli.

»Ach Gott, diese Arche Noah!« jammerte die Mutter, um sich dann entschuldigend an Indrek zu wenden: »Wenn Sie nur wüßten, was für eine liebe Not ich mit den beiden habe. Alles lassen sie liegen. Und wenn es mir an Zeit gebricht, richtig aufzuräumen, so schiebe ich den Kram fürs erste ins Hinterzimmer ab, um doch wenigstens hier im Vorderzimmer für mich und die Leute, die uns gelegentlich besuchen, Raum zu schaffen. Und es ist unglaublich, was sich so mit der Zeit alles an Lumpen und Kram aller Art ansammelt. Nichts Rechtes anzuziehen hat man, aber das Kramen und Aufräumen will kein Ende nehmen.«

»Herr Paas«, begann Molli, »wenn Sie meine Mutter kennen würden, dann wäre Ihnen alles klar. Sie kann sich nämlich nicht entschließen, irgend etwas fortzuwerfen oder dem Hausierer zu verkaufen, sammelt vielmehr alles, denn sie ist der Meinung, in einem kinderreichen Hause findet sich für alles immer noch irgendeine Verwendung.«

»Aber gewiß doch«, versicherte die Mutter, während die Tochter fortfuhr:

»Ich könnte Ihnen alle Kleidchen, Schürzen, Strümpfe und Schuhe, die ich als Kind getragen habe, vorweisen. Alle diese Lumpen werden noch irgendwo aufbewahrt. Und wenn es Tiina mal einfällt, so kramt sie all dieses Zeug aus Säcken und Körben hervor und breitet es auf dem Fußboden aus.«

»Aber glauben Sie deswegen nur nicht, Herr Paas, daß es bei uns schlampig zugeht«, erklärte Madam Waarmann. »Nein, wir sind saubere, ordentliche Leute. Wenn wir mal die Sache in die Hand nehmen und von Grund auf aufräumen, dann wird auch ganze Arbeit gemacht, so daß alles nur so blitzt und glänzt. Aber dann geht natürlich wieder alles nach dem alten, bis dann wieder solch eine Generalreinigung vorgenommen wird. Wie es schon ist bei armen Leuten. Früher, als mein Mann noch lebte, ja ...«

Und dann kam das, worauf jedes Gespräch der guten Madam Waarmann letzten Endes hinauslief: der Bericht über das frühere Leben, das keine Not und Sorge gekannt hatte, keinen Wunsch, den man sich nicht hätte erfüllen können. Der Mann war Kunsttischler gewesen und hatte ein hübsches Geld verdient. Und ihre Bekannten, das waren alles feine Leute gewesen, keine Schwarzarbeiter oder Tagelöhner, sondern durchweg Handwerker: Schuster, Tischler, Sattler, Schneider und ein Droschkenkutscher, der selbst eine zweispännige Droschke lenkte, und ein Knecht eine einspännige. Aber dann hatte der Tod des Mannes dieser Herrlichkeit ein Ende gemacht und ihr ganzes Leben sich traurig verändert.

Indreks erstem Besuch folgten bald weitere. Wenn er mit dieser Bekanntschaft auch nicht gerade prahlen konnte, so war es ihm doch sehr lieb, außerhalb der Schule irgendeinen Ort zu haben, wo man gelegentlich mal vorsprechen konnte. Die meisten Schüler hatten nicht einmal das.

Und diese Bekanntschaft hatte merkwürdige. Folgen. Bisher hatte Indrek sich auf den gepflasterten Straßen stets fremd gefühlt und nur außerhalb der Stadt inmitten der Felder oder im Walde etwas Heimatliches empfunden. Aber nun wurden ihm auch die beleuchteten Straßen mit ihren Häuserfronten vertraut, wenn er sich des Abends heimlich aus der Pforte schlich, um sich mit der runden Molli zu treffen. Nun verbanden sich mit den Straßen und Winkeln, der Laterne vor dem Hause, irgendeiner abgelegenen Vorstadtallee, diesem oder jenem Ausblick auf die Stadt, den Stundenschlägen der Rathausuhr, den erleuchteten Schaufenstern und vielem, vielem anderen allerlei mehr oder weniger tiefe, andauernde Eindrücke und Erinnerungen. Und dann kam da noch etwas hinzu, was Indreks Beziehungen zur Stadt vertiefte. Manchmal wenn er bei Waarmanns eintrat, um Molli zu einem gemeinsamen Spaziergang abzuholen, fand er sie gerade dabei, sich sorgfältig und emsig zu putzen und zu schmücken.

»Anders geht es in der Stadt schon mal nicht«, erklärte Madam Waarmann, gleichsam die Tochter entschuldigend, gleichzeitig aber wohl auch Indrek zur Belehrung. »In der Stadt muß die Jugend für ihr Äußeres Sorge tragen, mögen es nun Männer oder Frauen sein, das gehört sich zur Bildung.«

Und bei diesen Worten ließ sie ihren Blick über Indreks hausgewebten Anzug gleiten, seine abgetragenen Stiefel und Kragen, neben denen Molli direkt festlich gekleidet erschien, denn das Mädchen verstand die große Kunst, aus nichts etwas zu machen: eine Schleife, ein Band, ein paar Locken oder Blumen, und schon sah Molli so artig geputzt und niedlich aus, daß Indrek neben ihr erröten mußte, denn der Gute wußte nichts aus sich zu machen, so heiß er sich das auch gewünscht hätte. Aber dann kam ihm Molli mit ihrer weiblichen Gewandtheit und Findigkeit zu Hilfe. Hier und da blieb sie gleichsam zufällig an irgendeinem Schaufenster stehen, in welchem in langen Reihen Vorhemdchen, Kragen und Krawatten prangten, Hosenträger und Handschuhe, Taschentücher und andere Kurzwaren, lenkte die Aufmerksamkeit des Jungen auf diese oder jene Kleinigkeit, indem sie versicherte, das koste nicht alle Welt und ließe sich lange tragen. Und es versteht sich, daß Indrek dann so manchmal eine dieser Kleinigkeiten, die nicht alle Welt kosteten und sich so gut tragen ließen, erstand. Manchmal überkam ihn das direkte Verlangen, alles, was an Wargamäe erinnerte, von sich zu werfen und ein ganz neuer Mensch zu werden, auch äußerlich, wie er es sich innerlich von Tag zu Tag immer mehr werden fühlte.

Der Zusammenhang mit dem Heimathof lockerte sich immer mehr, er schrieb immer seltener nach Hause und erhielt von dort auch kaum mehr Briefe, als hätte man sich gar nichts mehr zu sagen. Im Herbst traf ein Brief von Bruder Andres ein, in welchem er berichtete, daß auch er den in Aussicht gestellten Besuch daheim aufgegeben hatte. Also auch er entfremdete sich der Heimat allmählich, dachte Indrek gewissermaßen erleichtert. Andres hatte seine Reise deswegen aufgegeben, weil er fürchtete, zu Hause darüber ausgefragt zu werden, ob er nach Beendigung des Militärdienstes wieder heimkommen werde oder nicht. Aber er will eben nicht wieder heim, denn nun hat er die Welt kennengelernt, dort in Nordpolen, wo es die schönsten Mädchen auf der Welt gibt. »Aber das schreibe ich nur Dir allein, lieber Bruder«, schrieb Andres, »denn Du hast nun auch die Welt kennengelernt und weißt, wie es daheim ist in Wargamäe, wo wir zusammen aufgewachsen sind und in die Hütung gingen und stramm haben arbeiten müssen, Du weniger, ich mehr, und wo unser Vater und unsere Mutter und kleinen Geschwister sich immer noch schinden und plagen müssen. Ich habe meine eigenen Pläne, und wenn die auskommen, dann ade Wargamäe; aber wenn sie nicht auskommen, dann weiß ich wohl nicht, was beginnen. Und das schreibe ich nur Dir, niemand anderem, damit Du nicht verzweifelst, sondern weißt, daß auch ich, Dein älterer Bruder, nicht gerade auf Rosen gebettet bin. Aber ich will der Welt beweisen, daß aus Wargamäe Männer kommen, die alle Welt mit ihrer Kraft in Erstaunen setzen. Und wenn Dich jemand fragt, ob ich Dir geschrieben habe, dann sag: ja, ich hätte geschrieben und berichtet, daß ich nicht kommen könne wegen der Manöver und sonstiger Geschichten, denn wir essen hier unser Brot im Schweiße unseres Angesichts. So schreib ihnen, lieber Bruder. Und von der Kassiaru Maali haben sie mir geschrieben, sie wolle Hochzeit machen und hätte unsere Liine als Brautjungfer aufgefordert, und Liine hätte abgelehnt, denn sie und alle die anderen meinen natürlich, ich müßte mit Maali Hochzeit machen. Aber sie wissen nicht, daß ich nun die Welt gesehen habe und weit herumgekommen bin, was kann mir da die Kassiaru Maali noch bedeuten. Hier gibt es ganze Pflaumenwälder, wie bei uns daheim das Erlengehölz in der Schweinekoppel. Stopf Dir nur den Mund so voll von dem Zeugs, wie Du willst. Du hast nicht einmal Zeit, die Steine auszuspucken. Und darum lebe nun wohl und bleib gesund, bis wir uns widersehen und uns die Bruderhand reichen können wie zwei richtige Brüder, denn das bist Du mir, denn Deine Mutter gilt mir auch als die meine, denn sie hat mich mit ihrer Brust aufgesäugt, als meine eigene Mutter gestorben war, deren ich mich gar nicht mehr erinnern kann, so daß ich nur eine Mutter habe, die ich kenne, und das ist eben Deine Mutter. Und ich habe ihr auch mal geschrieben und ihr gesagt: ach, liebste Mutter, sorg Dich doch nicht so sehr, da in der Ferne, auf unserem lieben Wargamäe, es werden auch schon für uns alle einmal bessere Tage kommen, wenn nur erst meine Pläne auskommen, und meine Hoffnungen in Erfüllung gehen, die eben noch unter dem Scheffel stehen wie ein Licht, denn ich will eben noch nicht von ihnen sprechen, das wäre zu früh. Aber eins sollst Du wissen, lieber Bruder, die Kassiaru Maali mag Hochzeit halten mit wem sie will, was ich aber nicht glaube, vielmehr glaube ich, daß sie nur drohen will, und darum hat sie auch Liine aufgefordert, denn ich kann sie ja hier im fernen Polen ohnehin nicht heiraten, wo es die schönsten Mädchen gibt, und von wo Dir einen herzlichen Gruß und Segen schickt Dein lieber Bruder Andres.«

Der Brief des Bruders, den Indrek mehrmals durchlas, hinterließ in ihm ein peinlich drückendes Gefühl: mochte der Bruder nun von den polnischen Pflaumenwäldern berichten oder den schönen Mädchen, von der Kassiaru Maali schreiben und ihrer Hochzeit, von der Stiefmutter oder seinen Plänen, immer tauchten vor Indreks innerem Blick die verkrümmten Hände des Vaters auf, wie sie ihm im vergangenen Sommer auf dem Heuboden aufgefallen waren. Und jetzt erst glaubte er, ganz erfassen zu können, was es für den Vater, die Mutter, ganz Wargamäe bedeuten würde, wenn der Bruder nach Ableistung der Wehrpflicht nicht mehr nach Hause zurückkehren würde. Die Schwestern waren gegangen, er selbst war gegangen, Andres geht, und auch Ants denkt nicht daran zu bleiben, als sei das Glück überall sonst in der Welt zu finden, nur nicht daheim. Und dann noch diese Kassiaru Maali, die Hochzeit machen wollte. Indrek kannte sie kaum, aber ihr Name berührte ihn irgendwie schmerzlich. Andres und sie schienen wie füreinander geschaffen. Und nun, nach wenigen Jahren, interessierte Andres weder der schöne Kassiaruhof noch seine einzige Erbin, denn er hatte nun die Welt gesehen und lebte im fernen Polen, wie er schrieb, wo es die schönsten Mädchen der Welt gab. Es wollte Indrek scheinen, als ginge in der großen Welt alles gar zu leicht und schnell zu, nicht so schwerfällig und langsam wie daheim, dort hinter den endlosen Sümpfen und Mooren. Es wollte ihm scheinen, als ob die Menschen nur dort die Ewigkeit in sich fühlten und als ob sie auch dementsprechend handelten.


 << zurück weiter >>