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XXVI

Vom allgemeinen Landeskongreß kehrten die Leute heiser oder gar vollkommen stimmlos zurück, mit rot verschwollenen Augen und blassen, ermatteten Gesichtern. Aber die Stimmung war gut, das Selbstvertrauen bedeutend gehoben, hatte man sich doch sozusagen vor dem ganzen Lande hören lassen können.

»Wenn es nun nicht losgeht, dann geht es überhaupt nicht los«, krächzte Josua, als man sich bei ihm nach den Ergebnissen des Kongresses erkundigte. »Die Beschlüsse sind gefaßt, die erforderlichen Anweisungen gegeben, die Leute sind auseinandergefahren und haben sich über das ganze Land verteilt. Nun heißt es abwarten.«

»Womit wird denn nun der Anfang gemacht, mit Feuer oder mit Schwert?« fragte Sillamäe.

Diese Frage wirkte auf Josua wie das rote Tuch auf den Stier, und wenn es dessenungeachtet nicht zu einem erregten Wortwechsel kam, so nur deswegen, weil Josua seine Stimme auf dem Kongreß gelassen hatte. So konnte er nicht mehr tun, als die Hände verzweifelt gen Himmel werfen, als erwarte er von dort Hilfe. Als Wiljasoo sah, welche Folgen der Kongreß für Josuas Stimmbänder gehabt hatte, schmunzelte er; rümpfte die Nase und sagte:

»Gottlob, reden kann nun anscheinend niemand mehr, vielleicht geht man infolgedessen nun allmählich zu Taten über.«

Gewiß, schließlich hatte man ja auch bis heute die Hände nicht einfach in den Schoß gelegt, aber Wiljasoo meinte etwas anderes. Ihm und vielen anderen genügten die Streiks und Boykotte nicht mehr, die Sabotagen und einzelnen planlosen Gewaltakte. Diese Mittelchen hatten sich verbraucht und damit totgelaufen: Fabriken und Werke, Institutionen und Behörden, Rekruten und weiß Gott wer und was noch alles hatten im ersten Freiheitsrausche schon so oft, so plan- und sinnlos gestreikt, daß dieses niemandem mehr imponierte, am allerwenigsten der Regierung. Im Anfang war der Streik eine Art heiliger Handlung gewesen, an den man mit Reden und Gesang heranging, nun war es zu einer Spielerei dummer Jungen ausgeartet, mit der sogar Schulkinder kokettierten.

Aus diesem Grunde war eine Geheimversammlung angesagt worden, auf welcher ein engerer Kreis Auserwählter darüber beraten sollte, was denn nun eigentlich zu geschehen habe. Diese Versammlung fand in einer stürmischen Nacht statt, die – gleichsam als warnendes Vorzeichen – einen orkanartigen Gewittersturm mit schwerem Hagelschlag brachte, als sei es nicht Spätherbst, sondern Hochsommer.

Übrigens brachte auch diese Geheimversammlung keinerlei klare, feste Beschlüsse. Man redete viel von Waffen und Bomben, von Pyroxilin und Dynamit, von Widersetzlichkeit und Terror, aber es blieb eben bei Worten, ohne daß man zu Taten oder auch nur Vorbereitungen zu irgendeiner wirklichen Aktion übergegangen wäre.

Als Indrek sich auf den Heimweg begab, war der Orkan auf seinem Höhepunkt angelangt: in der Luft flogen große Fetzen Dachpappe und Dachblech herum, die mit ohrenbetäubendem Geprassel auf das Pflaster stürzten und vom Sturme längs der Erde weitergetragen wurden, bis sie, an irgendeine Wand oder einen Zaun prallend, liegenblieben.

Indrek hielt sich vorsichtig inmitten der schmutzigen Straße, um nicht unversehens irgend etwas auf den Kopf zu bekommen, indem er gleichzeitig bestrebt war, sein Gesicht mit den Händen gegen den wütenden Sturmwind zu schützen und seine Mütze festzuhalten. Als er gerade eine enge Gasse passierte, riß der Sturm einen hohen Bretterzaun mit einem solchen Schwung nieder, daß es Indrek kaum gelang, noch im letzten Augenblick zur Seite zu springen. Im selben Moment flog ihm etwas auf den Kopf, und vermutlich wäre das Schicksal seines linken Auges besiegelt gewesen, wenn nicht die dicke, weiche, tief über den Kopf gezogene Reisemütze mit ihrem Schirm ihn geschützt hätte. Aber der Schlag war doch so heftig, daß Indrek rückwärts taumelte, dabei über den umgestürzten Zaun stolperte und sich rücklings auf diesen niedersetzte. »Wie gut«, ging es ihm durch seinen betäubten Schädel, »daß der Sturm den Zaun umgerissen hat, sonst hätte ich mich direkt in den Straßenkot gesetzt.« Er richtete sich auf und setzte seinen Weg fort, um dann schließlich ohne weitere Unfälle zu Hause anzulangen.

»Der Sturm hat mich in der Nacht mehrfach geweckt, und ich dachte mir, was das wohl zu bedeuten haben könne«, sagte Frau Lohk am nächsten Morgen. »Und da haben wir es nun – Ihr Auge ist ganz blau, Gott schütze nur, daß Sie das Auge nicht noch am Ende ganz verlieren.«

Aber das fürchtete Indrek denn doch nicht. Nur das Zimmer mußte er einige Tage hüten, und das fiel ihm schwer genug, angesichts der inneren Unruhe, in welche die allgemeine Erregung auch ihn versetzte.

»So können Sie sich doch mal auch ein wenig erholen«, meinte Frau Lohk, »kommen ja sonst Tag und Nacht nicht zur Ruhe, ganz wie mein Alter. Er ist ja noch später heimgekommen als Sie.«

»Richtig«, dachte Indrek bei sich. »Lohk ist nach mir nach Hause gekommen, obgleich wir doch die Versammlung alle gleichzeitig verließen. Wo mag er denn noch gewesen sein?«

Und dann fiel Indrek plötzlich ein, daß es nicht das erstemal sei, daß sie, von derselben Versammlung kommend, zu verschiedenen Zeiten zu Hause eingetroffen seien, er früher, Lohk später. Das hatte er bis heute gar nicht beachtet. Sollte der Schlag auf den Kopf, von dem ihm heute noch der ganze Schädel brummte, die Ursache dieser sonderbaren Gedanken sein? Selbst seine Träume waren wunderlich gewesen und setzten sich gleichsam ins Wachen fort, jeden Gedanken seltsam scharf und geheimnisvoll beleuchtend, jede Beobachtung bedenklich und bedeutsam vertiefend. Sollte Lohk für den eigenartigen Zauber solcher stürmischen Nächte etwas übrig haben? Und Indrek sieht den gedrungenen kräftigen Körper seines Hauswirts vor sich, seine lockigen dichten Haare, und es will ihm scheinen, als könnten gerade Leute mit solchen Haaren den Sturm mögen. Ja, gewiß, das könnte sein, wenn nur diese kleinen, schlauen Blinzelaugen nicht wären, wenn die bloß nicht wären.

Aber Indrek konnte sich seinen Gedanken nicht allzulange ungestört hingeben, denn Kristi kam aus der Stadt mit der Nachricht, daß in der letzten stürmischen Nacht die ersten Verhaftungen stattgefunden hätten.

»So«, meinte Indrek, »der Tanz geht also von neuem los.«

»Ich habe es ja immer gesagt«, meinte nun Lohk, »gehen wir doch still und klug vor und überlassen wir die Revolution größeren Völkern, wie das ›Vaterland‹ das empfiehlt, oder aber – schlagen wir los. Aber tatenlos und feige abwarten, bis die Regierung ihre Polypen und Gendarmen auf uns losläßt, das ist sinnlos. Predigt man den Kampf, dann soll man auch kämpfen und sich nicht im Gefängnis verstecken, das ist meine Meinung. Man muß Farbe bekennen, sonst verliert das Volk den Glauben an die gute Sache.«

Aber mit dem Glauben der Leute war es in dieser Zeit ein eigen Ding. Er wurde erbarmungslos heruntergemacht, wenn er sich auf Gott richtete, und er sollte Berge versetzen, wenn es um irgendein Parteiprogramm, eine Losung, ein Schlagwort ging. Handelte es sich um Gott, dann wurden Beweise verlangt, reale, schlagende Beweise, nicht etwa die Heilige Schrift. Aber wenn man sich in politischen Träumereien erging, so wurden als Beweise bestenfalls Bücher angeführt, die der Redner vielfach selbst nicht einmal gelesen oder doch nicht begriffen hatte, in der Regel aber dem Zweifler irgendeine Broschüre in die Hand gedrückt, die das ganze Gesetz und die Propheten enthalten sollte. Und da der Mensch in bezug auf Beweise nun mal nicht sehr anspruchsvoll zu sein pflegt, so verzichtete man nur zu leicht auf den durch Generationen erworbenen Glauben und nahm leichten Herzens den neuen Glauben an, der anstatt des himmlischen Paradieses zur Abwechslung mal das irdische Paradies in Aussicht stellte.

In diesem neuen Glauben waren viele so weit gediehen, daß sie versicherten – je schlimmer es komme, um so besser. Josua erläuterte diesen Standpunkt in einer Diskussion mit Sillamäe etwa folgendermaßen: »Je schwerer und hoffnungsloser die Lage des Volkes ist, desto leichter ist es zu revolutionieren, das heißt, es zum Sturz der bestehenden Ordnung aufzuwiegeln. Folglich ist es die erste Aufgabe des Revolutionärs, das Volk glauben zu machen, daß seine rechtliche und wirtschaftliche Lage so schlimm ist, wie sie sich schlimmer überhaupt nicht mehr denken läßt. Sitzt das nur einmal beim Menschen fest, dann schlägt er bald alles kurz und klein, in der Meinung, daß er nichts zu verlieren habe, weil es ja schlimmer eben doch nicht kommen könne. Und in diesem Sinne läßt sich mit Recht behaupten – je schlimmer, desto besser, denn je schlimmer, desto schneller gibt es Revolution, und das wird ja doch eben angestrebt.«

Aber wie dieses erstrebenswerte Ziel erreicht werden sollte, darüber gingen die Meinungen nach wie vor stark auseinander. Die einen waren der Ansicht, die rote Fahne sei auf dem Gouverneursschloß auf dem Dom aufzuziehen, oder auf dem Gefängnis, die anderen aber, wie beispielsweise der Krämer Wesiroos, erklärten, der rechte Ort für die rote Fahne sei das Ritterhaus, denn die Deutschen hätten uns den christlichen Glauben gebracht und sollten dafür nun mit der roten Fahne beglückt werden, und die Deutschen hätten uns das Land und alles genommen, und wir würden nun eben bloß unser Eigentum wieder an uns nehmen. »Denn wie steht es mit unserer Wirtschaft?« fragte Wesiroos. »Der Deutsche ist unsere Wirtschaft. Und was ist unser Ideal? Der Deutsche ist unser Ideal. Aber wozu dann überhaupt Wirtschaft und Ideale? Der Teufel mag sie holen! Nicht wahr? Und das habe ich auch dem Chefredakteur des ›Volksfreund‹ gesagt, denn ich rede überhaupt nur mit ihm, nicht mit diesen Grünschnäbeln da. Aber er meinte, das ginge heutzutage nicht mehr an, heute stünden wir im Zeichen der Bildung und Kultur. Aber ich frage, was zum Teufel ist das für eine Bildung oder Kultur, wenn der Gutsbesitzer oben auf dem Ritterhause sitzt, und wir unten in der Stadt? Das frage ich. Wenn schon Kultur, dann wollen wir auch auf dem Ritterhause sitzen, wenn aber nicht, dann ist es eben keine Kultur, sondern Politik, und dann treiben wir eben auch Politik und machen mit dem Gutsbesitzer und dem Deutschen den Anfang. Denn Konfiskation ist ja eben Politik und nicht Kultur. Schon die Apostel trieben keine Kulturarbeit, sondern machten Politik, als sie sagten; bringt alles herbei und legt es zu unsern Füßen. Und so wie die seligen Apostel wollen wir es jetzt auch machen, und da hat uns niemand was dreinzureden. Richtig, nicht? ...«

Das war die Ansicht des Krämers Wesiroos, und andere Meinungen ließ er überhaupt nicht gelten. Und so sonderbar das auch scheinen mag, schließlich handelte Indrek, handelten auch viele andere genau so, wie der Krämer Wesiroos das in seiner Unfehlbarkeit gepredigt. Auf einer Geheimversammlung nämlich erklärte der Arbeiter Meigas zum Schluß seiner Rede unter allgemeinem Beifall, den Kriegszustand und alles übrige habe man niemand anderem zu verdanken als den Gutsbesitzern, und darauf müsse man reagieren, koste es, was es wolle.

»Wenn ihr Männer seid, dann laßt uns aufs Land hinausziehen und dort einen kleinen Zauber inszenieren«, rief Meigas herausfordernd, »laß die Kerle dann hier in der Stadt auf ihrem Kriegszustand sitzen, bis sie schwarz werden.«

So redete Meigas, und wer hätte in diesen Tagen nicht ein Mann sein wollen? Selbst Indrek wollte das, er besonders, denn er lechzte nach Taten, die seinen schwerbelasteten revolutionären Kredit wiederherstellen sollten. Nur ein kleines Hindernis gab es: ihm fehlte es an einer passenden Fußbekleidung für diesen Ausflug aufs Land, und darum wandte er sich an Lohk mit der Bitte, ihm seine Schaftstiefel zu leihen, unter dem Vorwande, heimreisen zu müssen, um dort nach der Mutter zu sehen, deren schwere Krankheit er im Taumel der letzten Ereignisse nahezu vergessen hatte, jetzt aber in düsteren Farben ausmalte, um seine Reise plausibler erscheinen zu lassen. Denn die wahren Gründe dieses Unternehmens sollten über einen engeren Kreis von Auserwählten hinaus nicht ruchbar werden.

»Meine Stiefel mögen Sie gerne haben«, sagte Lohk, »aber im übrigen würde ich Ihnen doch raten, jetzt lieber zu Hause zu bleiben, denn nun scheint es in der Tat loszugehen. Und auch auf dem Lande kann es ungemütlich werden.«

»Was sollte da wohl passieren«, meinte Indrek gelassen, »ich kenne da alle Wege und Stege. Ich schlag mich einfach in die Büsche, wenn ich etwas Verdächtiges bemerken sollte.«

»Ich würde an Ihrer Stelle lieber doch nicht reisen, aber die Stiefel mögen Sie gerne haben. Ich muß da nur noch eine Naht ein wenig in Ordnung bringen, und dann können Sie sie meinetwegen auf der Beerdigung Ihrer Mutter tragen. Geschmiert sind sie erst kürzlich.«

»Was redest du da von Beerdigung«, ermahnte Frau Lohk ihren Mann, »Krankheit und Tod sind doch kein Scherz.«

Diese Worte gingen Indrek irgendwie schmerzlich zu Herzen. Er ging auf sein Zimmer und mußte dort lange über seine letzte Lüge nachdenken. Und plötzlich wollte es ihm scheinen, als habe er gar nicht gelogen, als sei die Mutter vielmehr schon wirklich gestorben, bevor er mit seiner Arznei hatte zur Stelle sein können. Mit unheimlicher Deutlichkeit sah er den Tod der Mutter, sein Elternhaus vor sich. Und darum beschloß er, sich nicht den andern anzuschließen, sondern direkt nach Wargamäe zu gehen.

Und doch gelang es ihm nicht, die anderen abzuschütteln, denn eine Gruppe Männer sollte sich gerade in die Gegend von Wargamäe begeben, und für diese war Indrek natürlich der gegebene Führer. Und überdies zog ihn irgend etwas zu den andern, obgleich ihn eine düstere Ahnung quälte, als stünde ihm irgendein Verhängnis bevor. War es bloß Abenteuerlust, Groll wegen der Geldaffäre, Tatendrang, Vergeltungswille oder der Rausch seiner aufs äußerste angespannten Nerven, was ihn zu den andern trieb? Darauf hätte weder er noch sonst jemand Antwort geben können.

»Haben Sie auch etwas Dickeres an die Füße zu ziehen?« fragte Frau Lohk besorgt, als Indrek sich zur Reise zu rüsten begann, »sonst dürften die Stiefel Ihnen zu groß sein.« Und da Indrek nichts Passendes anzulegen hatte, so empfahl sie ihm die Fußlappen des Mannes.

»Ich hätte Ihnen sonst auch gute feste Socken zu geben«, meinte sie, »aber Lappen sind besser, denn wenn die unten feucht werden – die Stiefel sind doch nie vollkommen wasserdicht – dann kann man sie umkehren und die oberen trockenen Enden um den Fuß wickeln, das ist viel praktischer als Socken.«

Indrek befolgte Mutter Lohks Rat, aber dabei zitterte ihm fortgesetzt das Herz, als treffe er Vorbereitungen zu einem Verbrechen. Kristi beobachtete ihn unausgesetzt, so daß es ihm schließlich direkt peinlich wurde. Darum machte er, daß er auf sein Zimmer kam, wo er angeblich noch Reisevorbereitungen zu treffen hatte. Es fiel ihm schwer zu reden, denn jedes Wort wäre eine neue Lüge gewesen, und die Wahrheit bekennen, kam ja nicht in Frage, nicht einmal Kristi konnte er reinen Wein einschenken. Als es Zeit war aufzubrechen, verschloß er seine Türe und übergab Frau Lohk den Schlüssel.

»Sie kommen doch bald wieder?« fragte diese.

»So bald als möglich«, erwiderte Indrek, verlegen zur Seite blickend.

»Kristi reist nun doch bald ab, versuchen Sie doch bis dahin zurück zu sein«, mahnte Frau Lohk, und damit trennte man sich.

Das Wetter war diesig, und ein feiner Nebelregen ging nieder; der Himmel schien tief herabzuhängen, als ruhe er auf den Firsten der höheren Häuser. Die Kirchtürme reichen heute zur Hälfte in den Himmel, dachte Indrek, und ihm fiel plötzlich ein, wie sie als Kinder in Wargamäe über die Höhe und Entfernung des Himmels Vermutungen angestellt hatten. Er brauchte sich nicht zu beeilen, denn bis zur verabredeten Stunde war noch reichlich Zeit. Plötzlich hörte er jemanden hinter sich herlaufen. Das schien ihm aus irgendeinem Grunde verdächtig, und er sprang daher mit einigen Sätzen an die Außentreppe eines nahegelegenen Hauses heran, hinter der er sich im Schatten niederkauerte. Gleich darauf sah er eine Gestalt an sich vorbeilaufen, dann aber an der nächsten Ecke haltmachen, dort anscheinend jemanden etwas fragen, um dann wieder umzukehren. Nun erhob Indrek sich und trat aus seinem Versteck hervor.

»Kristi, Sie sind es!« rief er. »Wen suchen Sie?«

»Oh, wie ich fürchtete, Sie nicht mehr zu erreichen«, keuchte das Mädchen. »Fühlen Sie doch mal bloß, wie mein Herz hämmert.« Und mit diesen Worten ergriff sie Indreks Hand und drückte sie auf ihren fliegenden Busen. »Spüren Sie es? Ich hörte Schritte, und dann war es plötzlich still. Oh, war ich verzweifelt!«

»Und ich habe Sie zuerst gar nicht erkannt, erst jetzt, als Sie zurückgelaufen kamen.«

»Dann werde ich also reich werden, wenn Sie mich nicht erkannt haben«, versetzte Kristi. »Die Mutter pflegt immer so zu sagen.«

»Ja, was kann Ihnen in Amerika nicht alles passieren«, meinte Indrek.

Kristi stand dicht vor Indrek und blickte zu ihm auf, als suche sie im Dunkeln seine Augen.

»Wissen Sie, ich glaube nicht, daß Sie nach Hause reisen«, sagte sie nach einer Weile. »Das wollte ich Ihnen bloß sagen. Habe ich recht?«

»Nein, ich gehe nach Hause«, sagte Indrek.

»Es ist so schrecklich, daß ich Ihnen nicht glauben kann, aber ich kann es eben einfach nicht, machen Sie, was Sie wollen. Ihre Augen sind irgendwie anders, und auch Ihre Stimme klingt anders, wenn Sie die Wahrheit sprechen. Und darum fürchte ich, Sie kommen überhaupt nicht mehr zurück, und ich sehe Sie niemals mehr wieder. Sagen Sie mir doch bitte ganz ehrlich und offen, liegt Ihre Mutter wirklich im Sterben?«

»In meinem Zimmer ist ein Brief liegengeblieben, der das bestätigt«, versetzte Indrek. »Ich habe ihn leider in meinem Koffer verschlossen, aber hier haben Sie den Schlüssel, suchen Sie sich den Brief hervor, und lesen Sie ihn, wenn Ihnen das eine Beruhigung bedeutet.«

»Nein, nein, das tue ich auf keinen Fall, ich werde doch nicht an Ihren Koffer gehen«, rief Kristi, »wenn Sie zurückkommen, dann können Sie mir den Brief selbst zeigen, nicht?«

»Gewiß!« versicherte Indrek, »und nun glauben Sie mir doch?«

»Ja, nun glaube ich Ihnen«, versetzte Kristi. »Aber das Herz ist mir nach wie vor so schwer, so schwer, als wolle es brechen. Und darum muß ich dann doch immer wieder zweifeln, denn ich frage mich unwillkürlich: warum ist mir denn das Herz so schwer, wenn doch alles in Ordnung ist? Ach, wissen Sie, am liebsten käme ich mit Ihnen.«

»Das ist ja unmöglich«, sagte Indrek, dem dabei einfiel, daß auch ihn bei der Vorbereitung zu dieser Reise ein seltsames Unbehagen beschlichen hatte. Sollte es sich nicht doch vielleicht um irgendeine unheildrohende Vorbedeutung handeln?

»Das weiß ich ja sehr gut, daß es unmöglich ist, aber ich meinte bloß so. Das kam wahrscheinlich daher, weil ich nach Ihrem Beispiel angefangen habe, mir allerlei unmögliche Dinge vorzustellen, als seien sie möglich. Und wenn man so etwas denkt, so ist das irgendwie leichter als gar nichts zu denken. Und darum stelle ich mir auch eben vor, daß ich Sie begleite, und werde mir das auch die ganze Zeit über vorstellen, während Sie allein auf der Reise sind und ich allein daheimsitze.«

»Und wenn Sie mal nach Amerika reisen, dann stellen Sie sich vor, daß ich mit Ihnen reiste, wollen Sie das?«

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Kristi bestimmt, »ich habe das schon versucht, aber es ging nicht. Anstatt dessen denke ich mir nun, daß ich überhaupt nicht nach Amerika reisen werde. Ich weiß ja natürlich, daß ich dahin reisen werde, denn der Onkel hat ja schon das Reisegeld geschickt, aber in Gedanken bleibe ich hier, in Gedanken fährt jemand anderes, nicht ich. Und in Gedanken werde ich diesen andern sogar begleiten und ihn bedauern. Bedauern Sie manchmal sich selbst?«

»Bisher ist mir das wohl noch nicht passiert«, versetzte Indrek.

»Aber mir schon oft«, bekannte Kristi. »Noch heute sogar, als ich da an der Straßenecke stand und dann kehrtmachte.«

»Sie sollten sich nicht so gehen lassen«, mahnte Indrek und wollte Kristis Hand fassen, aber plötzlich fühlte er, daß sie sich anstatt dessen, mitten auf dem Bürgersteig stehend, fest umschlungen hielten.

»Ich fürchte mich immer«, flüsterte Kristi, wie im Traume, »denken hilft da nichts.«

»Nun müssen Sie nach Hause gehen«, sagte Indrek.

»Da fürchte ich mich auch, ganz gleich, was ich denken mag.«

»Das ist völlig unnütz. Nach einigen Tagen bin ich wieder zurück. Ich begleite Sie bis zur Pforte.«

»Nein, nein«, widersprach Kristi, »lieber begleite ich Sie bis dort zur Ecke, wo ich haltmachte und lauschte. Kommen Sie, ich begleite Sie, es ist so schön, jemanden zu begleiten.«

»Wissen Sie, wann wir so zusammen gegangen sind?« fragte Kristi, als sie, sich immer noch eng umschlungen haltend, nebeneinander herschritten, und fuhr dann, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Damals war es so hell, so hell, denn das deutsche Theater brannte. Und als wir so dastanden und das Feuer betrachteten, da meinten Sie, das müsse ein böser Mensch gewesen sein, der das getan hätte. Und wissen Sie, was Sie noch sagten? Daß daheim bei Ihnen der Vater immer gebetet habe, wenn am Himmel ein Feuerschein zu sehen war, und wenn man solch einen Schein an mehreren Stellen erblickte, dann sprach er entsprechend viele Gebete.«

Sehr richtig, Indrek fiel es nun auch ein, daß er damals etwas Ähnliches erzählt hatte.

Als sie an der Straßenecke angelangt waren, umfaßte Kristi Indrek fester, sich eng an ihn drängend, und sagte:

»Gehen Sie nun! Gehen Sie schnell! Ich werde Ihren Schritten lauschen.«

Und ohne weiter ein Wort zu verlieren, machte Indrek sich schnellen Schrittes auf den Weg. Aber er war noch nicht weit gegangen, als er wieder jemanden hinter sich herlaufen hörte; er wandte sich um und ging Kristi entgegen, die atemlos vor ihm haltmachte.

»Ich konnte nicht anders, ich mußte Sie noch einmal sehen, verzeihen Sie mir«, bat sie.

»Es ist so dunkel«, murmelte Indrek, das Mädchen umfassend und nahezu auf seine Arme hebend, »sehen Sie wohl, daß ich Sie begleiten muß, und nicht Sie mich«, fügte er hinzu, mit ihr den durchmessenen Weg wieder zurückschreitend.

Aber als sie wieder an der ersten Straßenecke angelangt waren, riß Kristi sich plötzlich los und rief:

»Bleiben Sie hier stehen, und ich laufe! Oder nein! Besser wollen wir beide laufen, jeder nach seiner Seite. Eins, zwei ...«

Aber bevor sie noch drei sagen konnte, hatte Indrek sie nochmals umfaßt und so fest an sich gedrückt, daß ihr die Knochen im Leibe krachten.

»Oh, oh!« schrie Kristi, »Sie tun mir weh, Sie zerbrechen mich ja.« Und wie in panischem Schreck riß sie sich aus Indreks Umarmung und war bald in der Dunkelheit verschwunden. Auch Indrek nahm nun seinen Weg nahezu im Laufschritt wieder auf, so schnell die schweren Stiefel es nur gestatten wollten. Erst als er schon ganz außer Atem war, machte er einen Augenblick halt, um zu lauschen, und setzte dann seinen Weg in gemessenerem Schritte fort.


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