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XV

Um den Begriff der Freiheit zu vereinheitlichen, wurde vom ersten Tage ihrer Verkündigung ab ununterbrochen eine Versammlung nach der andern abgehalten, denn alle waren der Ansicht, daß unter wahrer Freiheit alle dasselbe verstehen müßten. Und das ging denn so Tage und Nächte hindurch, und die Erläuterungen darüber, wie die wahre Freiheit beschaffen sein müsse, und wie sie unter keinen Umständen aussehen dürfe, wollten kein Ende nehmen. Es fanden sich Leute, die erklärten, mit der Freiheit sei es genau so wie etwa mit einem Landgut oder einem Stück Brot. Die können ruhig größer sein, als man ihrer im Augenblick bedürfe, später würde man den Überschuß schon immer mal verwerten können. Auch die Freiheit könne ruhig größer sein, als man im Augenblick davon brauchen könne, später würde sich schon Verwendung für sie finden. Das war eine klare, einfache Logik, und darum siegten auch eben diejenigen Redner, die die größten Freiheiten feilboten. Dieses ganze ermüdende Wortgefecht lief damit schließlich auf eine Art Versteigerung hinaus, auf welcher der eine den andern zu überbieten suchte. So groß war der allgemeine Freiheitshunger, daß die Leute eigentlich gar nicht recht wußten, was sie wollten. So schienen sie bei jedem Angebot mit gierigen Augen zu fragen: Ist das alles? Gibt es nicht mehr? Und wenn jemand mehr zu bieten hatte, dann war er der Rechte.

Die in der erstickend dumpfen Luft der engen Versammlungslokale sich drängende, schwitzende Menge schien schon vergessen zu haben, welchen Preis sie erst vor kurzem für die Freiheit gezahlt hatte. Anfangs hatte man gemeint, daß das Blut der Märtyrer für die ganze Freiheit geflossen sei, aber nun erklärte man, daß es sich hier nur um eine Freiheit in bestimmtem Sinne handele. Noch waren die Leiber der Gefallenen nicht auf den Friedhof hinausgetragen worden, als schon die, für deren Freiheit sie ihr Leben gelassen hatten, um diese Freiheit erbitterte Schlachten schlugen, sie meistbietend versteigerten, als handle es sich um die Ware eines Bankrotteurs.

Indrek hörte sich diese Wortgefechte einen ganzen Tag über an, dazu noch eine halbe Nacht und dann wiederum einen Tag, aber dann fiel es ihm plötzlich auf, daß er den alten Herrn Bystryi nirgends antraf, als habe dieser gar kein Interesse für die errungene Freiheit und für seinen Anteil an ihr. Wohl traf er Bystryis alten Freund Wiljasoo, aber auch der konnte über den Alten keine Auskunft geben.

»Wir reden hier von der Freiheit und erläutern sie«, sagte Wiljasoo, seine Nase rümpfend, »aber Herr Bystryi genießt sie vermutlich.«

Das leuchtete Indrek ein, und nun verspürte auch er plötzlich Lust, seine Freiheit zu genießen, überdies fiel ihm ein, daß er versprochen hatte, Herrn Bystryi Dienstag zu besuchen, und so verließ er denn die Versammlung und machte sich auf den Weg nach Herrn Bystryis Wohnung.

Unterwegs wandelte ihn indessen die Lust an, vorher noch ein wenig bei der Hundemammi vorzusprechen, um sich ein wenig zu stärken. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er die Tür des Speisehauses verschlossen fand und einen Zettel darauf, der meldete, das Speisehaus sei wegen Trauer bis auf weiteres geschlossen.

»Sonderbar«, überlegte Indrek für sich, seinen Weg nach Herrn Bystryis Wohnung fortsetzend, »um wen wird denn hier getrauert? Um irgendeinen Freiheitskämpfer vielleicht?« Aber wahrscheinlicher schien es ihm dann doch, daß vielleicht das keuchende asthmatische Hündchen der Hundemammi das Zeitliche gesegnet haben könnte, denn das war doch schon recht jämmerlich gewesen in der letzten Zeit, und ganz grau schon, viel grauer als Herr Bystryi, der überdies auch nicht asthmatisch war.

Bystryis Wohnung befand sich im Obergeschoß eines zweistöckigen Holzhauses. Ungeachtet seines heftigen wiederholten Pochens wurde Indrek nicht geöffnet. Schließlich öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung, und eine junge Frau trat auf die Schwelle heraus und fragte:

»Sie suchen Herrn Bystryi?«

»Er ist anscheinend nicht zu Hause«, sagte Indrek.

»Und wird auch nicht mehr kommen«, versetzte die Frau.

»Er ist doch gestorben«, sagte ein kleines flachsblondes Mädchen mit einem spitzen, altklugen Gesichtchen, das neben die Mutter auf die Schwelle getreten war, mit heller Stimme.

»Ja, er ist tot«, bestätigte nun auch die Frau.

Indrek konnte kein Wort hervorbringen.

»Wie es heißt, Sonntag abend, als die Schießerei war ...«, fuhr die Frau fort. Aber nicht auf dem Marktplatz, viel weiter ab, auf der Straße ist er getroffen worden.«

»Ja, und gleich tot«, ergänzte die Kleine, indem sie Indrek völlig gleichgültig anblickte, als begreife sie noch gar nicht recht, worum es sich handle.

»Halt du nun endlich mal deinen Mund«, wies die Frau die Kleine zurecht, als sei sie neidisch auf das Kind, das ihr die besten Trümpfe vor der Nase wegschnappte. Und dann, sich wieder zu Indrek wendend, fuhr sie fort: »Ja, wie man sagt, gleich tot, die Kugel hat ihn direkt ins Herz getroffen.«

»Ja, gerade ins Herz«, bestätigte das Kind.

»Und wo ist seine Leiche?« fragte Indrek.

»Irgendwo in einem kleinen Speisehause, in dem er ständig verkehrte, vielleicht wissen Sie Bescheid, eine alte Frau mit ihren zwei Töchtern führt die Wirtschaft.«

»Ich weiß, ich weiß, ich kenne das Lokal. Vielen Dank! Guten Abend!« sagte Indrek, schon die Treppe hinabsteigend.

Wieder vor dem Speisehause angelangt, klopfte Indrek mehrfach an die Tür, bis er endlich den Hund herbeikeuchen hörte, der hinter der Türe heftig zu bellen begann, von Zeit zu Zeit seine Schnauze an die Spalte pressend, um festzustellen, wer denn da draußen so lärme. Erst nach einer Weile näherten sich der Türe leichte schnelle Schritte, und eine junge Stimme fragte:

»Wer ist da? Was wünschen Sie? Heute gibt es kein Essen. Lesen Sie den Zettel an der Türe.«

»Den habe ich gelesen«, erwiderte Indrek, »aber ich hätte mit Frau Kuusik persönlich ein paar Worte zu sprechen.«

Nun wurde die Türe aufgeschlossen, vorsichtig und leise, wie Indrek merkte, und er sah sich einem jungen brünetten Mädchen gegenüber, das sagte:

»Ach Sie sind es! Einen Augenblick, ich werde es der Mutter gleich sagen.«

Bald erschien auch die Wirtin selbst, ganz in Schwarz, die Augen verweint.

»Habe ich es Ihnen nicht schon lange gesagt, daß das nicht mit rechten Dingen zugeht«, begann sie ohne längere Einleitung. »Tot! Mitten auf dem Bürgersteig erschossen. Direkt ins Herz. Und können Sie sich vorstellen, wie weit von der Schießerei! Einige Soldaten haben wohl noch Schüsse zu hoch abgegeben, als alles schon am Boden lag. Sie wollten wohl die, die sie sehen konnten, nicht töten und töteten auf diese Weise einen, den sie nicht sahen. Für die Schuldigen mußte ein Unschuldiger büßen, das war wohl so Gottes Ratschluß.«

Aber Indrek wußte nicht, ob es wirklich Gottes Ratschluß sein könne, wenn ein Unschuldiger für einen Schuldigen leiden muß. Indrek wußte überhaupt eigentlich nichts. Und darum hätte er so gerne manches erfahren und danach, wenn niemand anders, dann den Herrgott selbst gefragt, wenn er ihn irgendwo getroffen hätte. Ja, sonderbar genug, beim alten Maurus, da hatte er sich eingebildet, seine Rechnung mit Gott endgültig abgeschlossen zu haben, und damit er ganz sicher ginge, hatte Maurus ihm fünf Rubel Zehrgeld mit auf den Weg gegeben zum Kampfe mit dem alten estnischen Gott – fünf gute russische Papierrubel! Aber nun hatte Indrek manchmal die sonderbare Empfindung, wie es wohl sein würde, wenn der alte Herrgott, den er erst kürzlich niedergeknallt hatte, ihm plötzlich an irgendeiner Straßenecke im Dunkeln begegnen und ihn schweigend anblicken sollte, so daß er am ganzen Leibe zusammenfahren würde? Wenn das wirklich mal geschehen sollte, dann würde Indrek ihn unbedingt am Saum seines Gewandes fassen und ihn fragen, warum Unschuldige sterben müssen, während den Schuldigen auch nicht ein Haar gekrümmt wird?

Aber eines hatte Gott dennoch gut und gerecht eingerichtet: er hatte Herrn Bystryi einen schnellen, schmerzlosen Tod gesandt. Die Züge des in seinem Sarge daliegenden Toten atmeten tiefsten Frieden, ja sie schienen beinahe gutmütig zu lächeln. Vermutlich hatte er gerade in dem Augenblick, als die tödliche Kugel ihn traf, allerlei gute Gedanken gehabt. Der Schutzmann, der ihn aus der Ferne hatte hinstürzen sehen, wußte zu berichten, daß er so wie er niedergestürzt, auch liegengeblieben sei ohne ein Glied zu rühren. Von der Straße war der Leichnam in die Totenkammer geschafft worden, und von hier hatte ihn die Hundemammi zu sich abgeholt, als sie durch die Zeitung von dem Unglücksfall erfahren hatte. Herrn Bystryis geschwollene Aktenmappe, die seinem Arm im Tode entglitten war, wollte seine alte Freundin ihm mit in den Sarg geben, damit er es doch ein wenig geselliger haben möge da unten.

Am Sarge brannten leise knisternd die Kerzen, die Fenster zum Garten standen offen; im hinausfallenden Schein der Kerzen erblickte man die vom Winde sachte geschaukelten Zweige der Bäume, und weiter hinten aus der Finsternis ertönte bisweilen häßliches, durch Mark und Bein schneidendes Katzengeschrei.

»Die Biester stören die Ruhe des Toten«, sagte die Alte unmutig. »Freilich, der Verstorbene hörte sich dieses Katzengeschrei hier am Fenster gerne an und meinte scherzweise, nirgends sängen die Katzen so schön wie gerade hier, bei mir. Diese sonderbare Liebhaberei kam wohl daher, daß wir gerade hier am Fenster saßen, und die Katzen draußen schrien, als er mich vor vielen, vielen Jahren einmal fragte, ob ich die Seine werden wolle. Die Katzen erinnerten ihn an seine Jugend, darum. Ich konnte ihm damals nicht zu Willen sein, bat mir Bedenkzeit aus, aber er hat dann später nie mehr davon angefangen. Die Katzen schrien wohl so manches Mal später, während er hier am Fenster speiste, aber er kam nie mehr auf diese Sache zurück. So war er nun mal. Erst im letzten Sommer brachte er das Gespräch wieder darauf, denn, so meinte er, nun bricht bald die Freiheit an, und da könne man eben nun alles tun, was man früher nicht habe tun können. Und dann blieb er plötzlich mehrere Tage hindurch vom Mittagstisch fort, so daß ich mir keinen anderen Rat wußte, als die Todesanzeigen zu studieren. Was dabei herausgekommen ist, das sehen Sie ja nun.«

Als Indrek, ohne auf ihre Worte einzugehen, schweigend in die Kerzen starrte, fuhr die Frau fort: »Ich befolgte damals Ihren Rat und brachte ihm das Essen nach Hause. Ich dachte mir, wenn er nun nochmals von dieser Sache anfangen würde, so wollte ich ihm sagen, daß ich nun, wo meine Kinder erwachsen seien, in dieser Hinsicht ein freier Mensch wäre. Aber er verspeiste wohl sein Mittagessen, ja er fing sogar an wieder herzukommen, aber vom Katzengeschrei und diesen Dingen ließ er kein Wörtchen mehr verlauten. Nun weiß ich, warum er so beharrlich schwieg: er fühlte den Tod auf sich lauern, und gegen den Tod vermag natürlich niemand etwas, da hilft kein Mittagessen und kein Katzengeschrei, da hilft eben überhaupt gar nichts.«

Nun schien es Indrek angebracht, über sein letztes Gespräch mit Herrn Bhstryi und dessen seltsames Traumgesicht zu berichten.

»Ja, mit seiner Seelen Seligkeit machte der Arme sich in letzter Zeit so viel zu schaffen«, seufzte die Alte, »als hätte er irgendeine schwere Schuld auf sich geladen. Sogar seine Stelle verlor er deswegen.«

»Seine Stelle? Wieso?« fragte Indrek erstaunt.

»Jawohl«, sagte Frau Kuusik, »aber das wird ihn kaum allzusehr beunruhigt haben, denn er hatte sicherlich seine kleinen Ersparnisse. Ja, also, mit dem Direktor waren sie aneinander geraten, als dieser über die Schwierigkeiten klagte, mit denen der Betrieb in diesen Zeiten zu kämpfen habe. Darauf hat Herr Bystryi ihm empfohlen, sich lieber an die ewige Seligkeit zu halten, ein Wort hat das andere gegeben, bis er schließlich den Direktor zum Teufel gewünscht hat, und das schlug dem Faß natürlich den Boden aus. Denn wie dürfte das in einer großen Fabrik gestattet sein, daß irgendein Schreiber oder Ingenieur den Direktor einfach in die Hölle abschiebt, das darf doch nur der liebe Gott.«

»Ob er das darf?« meinte Indrek zweifelnd.

»Herr des Himmels, wer denn sonst!« rief Frau Kuusik entsetzt. »So seid ihr Männer nun, von Kind auf. Darum sage ich immer: Wenn es keine Frauen gäbe, dann kämen alle Männer in die Hölle.«

»Eher ist es vielleicht umgekehrt«, versetzte Indrek, »wenn es keine Frauen gäbe, dann gäbe es weder einen Himmel noch eine Hölle.«

»Nun ja, natürlich«, sagte Frau Kuusik resigniert, »die Männer glauben immer, die Frauen seien so boshaft und schlecht, daß Gott schon allein ihretwegen die Hölle erschaffen mußte.«

Sie schwieg und wischte sich die Augen. Draußen im dunkeln Garten setzten die Katzen ihr Konzert unermüdlich fort. Der Herbstwind fuhr über den Zaun und die Dächer und schüttelte die entlaubten Bäume. Indrek erhob sich.

»Sie wollen schon gehen, ohne ein Vaterunser gesprochen zu haben?« sagte Frau Kuusik vorwurfsvoll. »Ich bete nahezu ununterbrochen an seinem Sarge, obgleich er ja wohl weder vom Beten noch von sonst irgend etwas was hielt.«

Indrek blickte schweigend vor sich nieder, aber dann kam ihm plötzlich ein Wort in den Sinn, das der Verstorbene ihm erst kürzlich gesagt hatte: »Wenn Sie an andere denken, dann sind Sie auf dem rechten Wege.« So hatte er gesagt und dabei den Kosaken gelobt, der, anstatt ein Kreuz zu schlagen, Indrek einen Hieb mit seiner Knute versetzt, das heißt nicht an sich selbst, sondern an einen andern gedacht hatte. Wenn er, Indrek, nun ginge und ein Vaterunser an seinem Sarge spräche, so könne das doch nicht schlimmer sein, als der Knutenhieb des Kosaken, der seinen, Indreks, Hals getroffen hatte. Und Frau Kuusik würde er damit eine große Freude machen.

So trat er denn an den Sarg, senkte den Kopf auf die Brust, faltete die Hände und begann sein Gebet zu sprechen, als ihm plötzlich einfiel, daß er der trauernden Frau eine noch größere Freude bereiten könne, wenn er niederknien würde. Und das tat er denn auch und begann sein Gebet noch einmal von vorne. Aber das rührte die Hundemammi so tief, daß sie laut schluchzte, während Indrek still sein Gebet sprach. Sie weinte aus so tiefem aufrichtigem Herzen, daß auch Indrek seine Tränen kaum zurückhalten konnte, denn ihm schwebte plötzlich Wargamäe vor, mit all der Trauer, die dort getrauert, allen Tränen, die dort von seiner Kindheit an vergossen worden waren. Und als er dann durch die dunkeln Gassen heimwärts pilgerte, da wollte es ihm scheinen, als hätte sein Gebet um die Seligkeit des Toten auch ihn selbst ein wenig selig gemacht.


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