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XXVII

Der Sammelpunkt der Bande befand sich an der Peripherie der Stadt, an einer einsamen, kürzlich neuangelegten Straße, deren eine Seite einzelne Häuser säumten, während sich an der andern Seite ein von einem Plankenzaun umgebenes Holzlager hinzog. Längs dem Zaun lagen in regelmäßig aufgeschichteten Haufen Pflastersteine, der Verwendung harrend. Hier eben bei diesen Steinhaufen sollte man sich treffen, um dann von hier gemeinsam aufs Land hinauszuziehen.

Als Indrek am Treffpunkt eintraf, fand er hier Meigas schon vor, und in seiner Gesellschaft noch drei andere Männer, anscheinend ebenfalls Fabrikarbeiter, die Indrek nicht kannte. Wie abgemacht, wurde noch eine Weile gewartet, in deren Verlauf noch zwei weitere Männer eintrafen, so daß es nun im ganzen sieben waren, die sich auf den Weg machten, der gleich anfangs über eine größere, belebte, schon gepflasterte Straße führte. Doch bevor sie diese noch erreicht hatten, ließ sich in der Ferne das Klappern von Hufen hören.

»Kosaken! Lassen wir sie vorüber.«

Aber als sie eine Weile gewartet hatten, und das Hufgeklapper schon am Ende ihrer Straße zu hören war, verstummte es plötzlich.

»Sie sind hierher eingebogen«, flüsterte Meigas. »Zurück!«

Bald war man wieder am alten Sammelpunkt angelangt, »über den Zaun!« befahl Meigas, dem die Rolle des Führers zufiel, und kletterte auf den ersten Steinhaufen, um sich von hier über den Zaun zu schwingen. Die anderen schickten sich an, seinem Beispiel zu folgen, als Meigas, der inzwischen glücklich jenseits des Zaunes gelandet war, von einem Nachtwächter am Kragen gepackt wurde. Der Hilferuf des alten Wächters blieb ihm in der Kehle stecken, denn Meigas drückte ihm den Revolver an die Stirn und drohte sofort zu schießen, wenn er nicht schweigen würde.

»Esel«, zischte Meigas, »wir sind doch keine Diebe. Du hörst doch, daß dort Kosaken kommen; wenn du auch nur muckst, bist du des Todes. Aber wart nur ein wenig, laß die Kosaken passieren, dann verschwinden wir, wie wir gekommen sind. Setz dich!«

Der Alte ließ sich auf einen Klotz nieder, und auch die anderen setzten sich, wo und wie es sich gerade machen ließ, und warteten stumm das Passieren der Kosaken ab, um dann wieder über den Zaun auf die Straße zu klettern.

»Also kein Wort, Alter, darüber, was du hier erlebt hast, wenn dir dein Leben lieb ist«, flüsterte Meigas dem Nachtwächter über den Zaun zu, bevor man sich wieder in Bewegung setzte.

»Was erschreckst du den armen alten Mann unnütz«, meinte einer.

»Besser ist besser«, versetzte Meigas, »so wird er doch vielleicht eine kleine Weile wenigstens den Mund halten.«

Nun gelangte man ohne weitere Störungen aus der Stadt hinaus auf die Landstraße. Dort wurde haltgemacht, und Meigas stieß einen Pfiff aus, der alsbald mit eben solch einem Pfiff beantwortet wurde, worauf einige Gestalten auf die Straße heraustraten, die in der Dunkelheit nicht deutlich zu erkennen waren, doch wollte es Indrek scheinen, daß es sich hier sowohl um Städter als auch um Bauern handelte – vermutlich aus der Zahl derer, die in der Stadt zum Kongreß zusammengekommen und dort den letzten Verhaftungen entgangen waren.

Nun stapfte man in einer schon ganz stattlichen Anzahl mitten auf der schmutzigen Landstraße vorwärts, während die Lichter der Stadt immer weiter hinter ihnen zurückblieben, bis sie allgemach zu einem einzigen matten, allgemeinen Feuerschein am Horizont zusammenstoßen, und dann endlich auch dieser Schein erlosch, und der düstere, feuchte Herbstabend die dahinmarschierende Kolonne umfing.

Gesprochen wurde wenig, als wären alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, oder hegten irgendeinen Groll gegeneinander. Aber das Marschtempo wurde fortgesetzt beschleunigt, so daß es Indrek bald so warm wurde, daß er den Mantel öffnete und die Mütze in den Nacken schob.

So war man etwa zwei Stunden nahezu stumm dahinmarschiert, denn allen war ja ohnehin bekannt, wohin und wozu man hinausgezogen war. Alle waren überzeugt davon, daß man es früher sowohl als auch namentlich gerade jetzt in erster Linie nicht sowohl mit der russischen Regierung, als mit den eigenen Gutsbesitzern zu tun habe: die waren die Wurzel allen Übels für Land und Volk. Diese Ansicht hatte man von Geschlecht zu Geschlecht mit der Muttermilch eingesogen, so daß jemand, der nun etwa gewagt hätte, das Gegenteil beweisen zu wollen, nichts erreicht hätte, als sich selbst verdächtig zu machen. »Von den Deutschen gekauft!« hätte man ihn angeschrien und hinzugefügt: »Nieder! Nieder!«, und wäre dann einfach zur Tagesordnung übergegangen.

Auch Indrek tat in dieser Herbstnacht nichts anderes, als zur Tagesordnung übergehen. Den Deutschen hatte das Volk den Kriegszustand und alle anderen übel zu verdanken, den Deutschen mußte also der Krieg erklärt werden. Das war einfach und logisch genug. Und weiter – zum Kampfe brauchte man Geld und Waffen, viel Geld und gute Waffen. Der einzige Ort, wo sich sowohl diese als jenes finden sollten, waren die Güter, die warmen Nester des Erbfeindes. Daher galt es sich zu beeilen, um eine möglichst große Anzahl von Gütern auf Geld und Waffen hin zu durchsuchen, bevor die aufs Land abkommandierten Truppen imstande sein würden, störend einzugreifen. Zu diesem Zwecke wurden einzelne Banden gebildet, die sich auf gesonderten Wegen, jede für sich, aufs Land hinausbegaben. Unter Indreks Genossen fanden sich einige, die schon vor einigen Wochen einen kleineren Zug aufs Land hinaus mitgemacht hatten, wie Indrek aus dieser oder jener hingeworfenen Bemerkung entnehmen konnte.

Nach Verlauf von etwa zwei Stunden erblickte man links am Horizont einen Feuerschein, der sich hoch in den dunklen Himmel aufreckte. Die Männer machten einen Augenblick halt.

»Seht mal, da sind uns die Genossen schon zuvorgekommen«, sagte einer.

»Meinst du wirklich?« zweifelte ein anderer.

»Sicherlich, was sollte das sonst sein«, sagte der erste. »Ein Gut steht in Flammen.«

Hierauf erwiderte niemand weiter etwas, und man wandte sich wieder zum Gehen, den Schritt noch mehr beschleunigend, als fürchte man sich zu verspäten. Indrek fuhr es wie ein kühler Hauch übers Herz. Was hat das zu bedeuten? dachte er. Hat es einen Kampf gegeben? Konnte man sich anders nicht in Geltung setzen? War man an Geld und Waffen nicht herangekommen? Und als er nach einer Weile neben Meigas geraten war, fragte er:

»Wozu wird Feuer angelegt?«

»Wir wissen ja gar nicht, was das für ein Feuer ist«, versetzte Meigas, »vielleicht handelt es sich einfach um ein Unglück.«

»Ja, das ist wohl anzunehmen«, meinte nun auch Indrek, »denn was hätte es für einen Sinn, es absichtlich zu tun. Es sind doch Werte, die dort in Rauch aufgehen, und wenn man überhaupt an den Sieg glaubt, so handelt es sich doch letzten Endes um Volksvermögen. Und wenn man nicht an den Sieg glaubt, was hätte das alles dann überhaupt für einen Sinn?«

»Sinnvoll wäre es immerhin auch dann, wenn man den Kerlen auch nur einen Possen spielen wollte«, ließ sich aus der Dunkelheit eine heisere Stimme vernehmen, die klang, als gehöre sie einem Abgeordneten des Landeskongresses an.

»Und wenn es auch nur wäre, um ihnen einen Schreck einzujagen«, meinte ein anderer. »Anfangs schreckten wir die Regierung mit Streiks, aber das zieht nun nicht mehr, nun muß man schon Feuer und Schwert zu Hilfe nehmen. Um den Genossen in der Stadt die Hände frei zu machen, müssen die Truppen aufs Land hinausgelockt werden. Und wie sollte man das sonst machen als mit Feuer? Mit Blut etwa? Was meint ihr, Genossen, was ist einfacher?«

»Mit Feuer natürlich«, erwiderte jemand, »das leuchtet weit.«

»Und menschlicher ist es auch als mit Blut«, meinte ein anderer.

»Das stimmt schon, Genossen«, mischte sich nun Meigas ins Gespräch, »aber auf der Versammlung wurde doch ein anderer Beschluß gefaßt, nämlich bloß Waffen und Geld zu beschaffen. Wir übernahmen diese Aufgabe und haben uns zu diesem Zweck auf den Weg gemacht. Dieser Beschluß muß ausgeführt werden, meine ich.«

»Das meine ich auch«, pflichtete einer der Männer Meigas bei.

»Auch ich bin nur zu diesem Zwecke mitgekommen«, sagte Indrek.

Damit fand der Meinungsaustausch über diese Frage für dieses Mal seinen Abschluß. Keiner widersprach mehr dagegen, daß der gemeinsam gefaßte Beschluß nun auch tatsächlich durchzuführen sei. Und dennoch hatte Indrek die Empfindung, daß sich in der Bande zahlreiche Männer fänden, die sich innerlich nicht im geringsten an den gefaßten Beschluß kehrten, vielmehr durchaus ihre eigene Auffassung von der Sache und ihre eigenen Pläne und Absichten hegten.

Den ersten längeren Aufenthalt machte man bei einem staatlichen Branntweinladen an der Straße, der eingekreist wurde. Es wurde beschlossen, den Verkäufer zu wecken und ihm die Kasse abzunehmen. Aber kaum waren ein paar Männer gegangen, diesen Beschluß auszuführen, als andere sich schon daran machten, die Läden an den Ladenfenstern aufzubrechen, wozu man die erforderlichen Werkzeuge anscheinend mitgebracht hatte, und dann die Fenster einzuschlagen, worauf man in den Laden kletterte, die Deckenlampe ansteckte und sich dann an die Demolierung der Waren machte. Ganze Regale und Kisten voller Flaschen stürzten prasselnd und klirrend auf den Fußboden, wo die Flaschen in tausend Stücke zerschellten, so daß die Männer in reinem Branntwein herumplanschten. Was nicht in Massen vernichtet worden war, wurde mit Stöcken zerschlagen oder aus dem Fenster geworfen. Nicht einmal leere Flaschen wurden geschont. Die Männer gerieten bei ihrem Zerstörungswerk in eine Art Raserei und hätten am liebsten alles vernichtet – nicht nur die vollen und leeren Flaschen, sondern auch die Kisten, Regale, Tische, Stühle, Türen und Fenster.

Was Indrek bei diesem ganzen Auftritt am meisten erschütterte, war der Umstand, daß auch ihn beim bloßen Zusehen eine seltsame Erregung packte, ein Drang, sich an dieser rohen Ausschreitung zu beteiligen. Wären nicht einige Bauern und Meigas die ganze Zeit über unbeteiligte Zuschauer dieses Auftritts geblieben, wäre Indrek vermutlich auch durch das Fenster in den Laden gesprungen, um sich hier am Zerstörungswerk der anderen zu beteiligen, solch einen seltsamen Drang verspürte er im ganzen Leibe beim Klirren der zerbrechenden Flaschen.

Und noch eines fiel Indrek sonderbar auf: die Männer waren zwar mit vollem Eifer bei der Arbeit, aber immer wieder fand sich unter den zerbrochenen Flaschen wieder eine heile, die sogar den Sturz vom hohen Regal herab überstanden hatte. Wie war das nur möglich? Es schien völlig unerklärlich, es sei denn, daß man den Zufall oder Gottes Willen ins Feld führen wollte. Gerade an diesen letzteren mußte Indrek denken, wenn er die Leute immer aufs neue über solche der allgemeinen Zerstörung entgangene Flaschen fluchen hörte und beobachtete, wie ihr Grimm über diese durch Gottes Willen unversehrten Flaschen ständig wuchs. Schließlich hatte es den Anschein, als hätten die Männer die Hoffnung, wirklich alle Flaschen bis auf die letzte zu zerschlagen, aufgegeben, denn einer rief plötzlich:

»Den roten Hahn darauf setzen, weiter nichts!«

»Richtig, Feuer dran!« riefen nun auch die andern.

»Aber zuerst hinaus, Jungens, und den Kasten von außen angesteckt, sonst schmoren wir mit, die Stiefel fangen sofort Feuer.«

Und einer nach dem andern sprang durch die zerbrochenen Fenster ins Freie. In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung des Verkäufers ein Kind weinen, nein – zwei Kinder sogar, ein größeres und ein kleineres, ganz kleines. Das wirkte irgendwie ernüchternd und brachte die Leute aus dem Zerstörungsrausch wieder in den Alltag zurück.

»Laßt das Feuer, Genossen«, mahnte Meigas, »ihr hört doch die Kinder weinen.«

An der Tür der Wohnung erschienen die Männer, die nach der Kasse geschickt worden waren.

»Der Verkäufer war nicht daheim, nur die Frau mit zwei Kindern und irgendein alter Mensch«, berichteten sie.

»Und die Kadde?« fragte Meigas.

»Nur einige zehn Rubel«, erhielt er zur Antwort.

»Na, immerhin«, meinte Meigas, und dann machte man sich wieder auf den Weg. Aber dann plötzlich erblickte man schon in zwei Richtungen riesige Feuersäulen am Horizont. Alle machten einen Augenblick halt.

»Eigentlich müßten doch auch wir ein Lebenszeichen von uns geben, damit man nicht denkt, wir schliefen«, meinte einer.

»Laßt Weiber und Kinder in Frieden«, mahnte Meigas erneut, und dieser Mahnung schlossen sich mehrere andere an.

So setzte man denn seinen Weg fort. Aber nun herrschte nicht mehr die Stille wie zuvor. Es war, als hätte die Demolierung des Branntweinladens auf alle anregend gewirkt, als sei man plötzlich besserer Laune wegen der einigen zehn Rubel, die sich in der Kasse gefunden hatten. Aber wie sich später erwies, war auch hier wieder der Zufall oder Gottes Willen im Spiele: von den Flaschen, die man mit Schwung aus den Fenstern auf die Straße hinausgeschleudert hatte, waren einige unversehrt geblieben und ungeachtet des Befehls, alles zu zerstören, im Dunkel der Nacht in die Taschen der Männer geglitten; man hatte schon im Laden einen guten Schluck getan und setzte das nun auch auf dem Wege fort. Nur Meigas und einige andere schritten nach wie vor ernst und schweigend dahin, mit forschenden Augen in die umgebende Dunkelheit spähend. Plötzlich machte Meigas einen Satz vorwärts, und gleich darauf hörte man etwas klirrend gegen einen Stein fliegen.

»Zum Teufel noch eins, was soll denn das heißen?« hörte man eine heisere Stimme fragen.

»Das soll heißen, daß man sich nicht besäuft, wenn es um eine ernste Sache geht«, versetzte Meigas.

»Das mögen Sie Ihren Stadtmenschen predigen, aber nicht mir«, hörte man die heisere Stimme aus der Dunkelheit erwidern.

Aber nun begannen mehrere Stimmen auf den Heiseren einzureden, ihn zur Ruhe mahnend, mit der Erklärung, Meigas habe ganz recht. Und gleichsam zum Trost wurde dann noch hinzugefügt:

»Einen guten Schluck haben wir ja nun gehabt, und nun ist es auch genug, sonst wird es wirklich zu viel.«

»Einerlei«, hörte man die heisere Stimme erwidern, »aber mit welchem Recht wird mir die Flasche aus der Hand geschlagen? Ich hätte sie ja selbst fortwerfen können, wenn alle so sehr dafür sind.«

»Ich konnte ja im Dunkeln nicht gut unterscheiden, um wen es sich handelte und glaubte, es sei einer von meinen Leuten«, entschuldigte sich Meigas nun, um dem ganzen Streit einen versöhnlichen Abschluß zu geben.

Wie sich alsbald herausstellte, war die zerschellte Flasche die letzte gewesen, denn als man in der Morgendämmerung beim ersten Gute anlangte, war der ohnehin nur leichte Rausch schon bei allen verflogen, und der Gesprächsstoff ebenso knapp geworden wie beim Abmarsch aus der Stadt.

Ganz zuerst sprach man beim Verwalter vor, der noch zu Bett lag. Es solle augenblicklich geöffnet werden, sonst würde man die Türe einschlagen. Als diesem Befehl Folge geleistet worden war, wurde vom Verwalter die Herausgabe sämtlicher vorhandenen Waffen sowie der Gutskasse verlangt. Der Verwalter war ein wohlbeleibter Deutscher mit einem aufgezwirbelten Schnurrbart à la Kaiser Wilhelm, der indessen augenblicklich traurig herabhing und zusammen mit den Kiefern des Mannes heftig zitterte, als fröstele ihn. Hier erfuhren die Männer, daß das Gutsgebäude leer sei, da die Herrschaften in die Stadt gezogen wären. Vom Verwalter erfuhren sie auch, wo die Wohnung des Försters gelegen sei, die vom Gute etwa einen halben Kilometer entfernt am Rande des Waldes lag. Fünf Mann machten sich sogleich dahin auf, während die übrigen sich nach dem Gutsgebäude begaben, wo die Außentür ohne weitere Debatten kurzerhand eingeschlagen wurde.

Die Männer durchwanderten das ganze geräumige, zweistöckige Herrenhaus von Zimmer zu Zimmer, die geladenen Revolver für alle Fälle in der Faust. Alles war leer, keine Seele zu finden. Aber als sie wieder ins Erdgeschoß hinabkamen, fanden sie hier schon Gutsknechte und andere Arbeiter vor, die durch die geöffnete Tür ins Haus gedrungen waren, denn die Nachricht von der Ankunft der Aufrührer und Freiheitsverkünder war schon wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus gegangen. Und auch diese Leute begannen nun mit ihren schmutzigen Stiefeln und Sandalen über das spiegelnde Parkett und die dicken Teppiche durch die Zimmerflucht zu spazieren.

»Ei der Tausend, sieh doch mal an, wie hier gelebt wird«, sagte ein stämmiger alter Mann, dessen zerwühlten Bart schon eine stattliche Anzahl Silberfäden zierten, was er erst heute, hier in dem großen Stehspiegel im Rotholzrahmen zu bemerken schien. »Und als ich mal den Verwalter um ein paar Bretterenden bat, um meinen Stubenfußboden auszubessern, da hieß es – ganz unmöglich, denn dann kommen die andern natürlich auch gleich mit ähnlichen Wünschen.«

So mit sich selber redend, und sein gleichsam tierisch behaartes Gesicht im Spiegel betrachtend, kam der Alte sich in seinem abgerissenen, zerlumpten Aufzuge hier inmitten dieser glänzenden, eleganten Umgebung plötzlich irgendwie bemitleidenswert vor, und in ihm stieg ein heißer Grimm gegen die ihm aus dem Spiegel entgegenglänzende Pracht auf. Ohne sich rechte Rechenschaft darüber abzugeben, hob er seine rechte Hand und seinen schmutzigen Fuß, als wolle er den Spiegel gleichzeitig oben und unten treffen. So stand er einen Augenblick da, dann sank seine Faust langsam herab, und der erhobene Fuß suchte am andern Fuß eine Stütze. Er erinnerte in dieser Stellung irgendwie an einen Hühnerhund, der das Wild plötzlich gespürt hat und nun besorgt scheint, es könne auffliegen, bevor der Schütze herangekommen sei.

In dieser Stellung entdeckte ihn einer der Städter, trat an den alten Mann heran und fragte lachend:

»Hast es mit der Angst bekommen, was? Keine rechte Courage, he? Sieh mal, wie das gemacht wird.«

Der junge Mann, der blaue Augen hatte, hohe Schultern und dichtes, schwarzes Haar, näherte sich von der Seite dem Spiegel und versetzte ihm plötzlich und unerwartet einen heftigen Stoß, so daß er prasselnd umstürzte, in tausend Stücke zerschellend. Der junge Mann ging lachend weiter, als gehöre dieses Stückchen zu den gewöhnlichsten, alltäglichsten Dingen auf der Welt. Der alte Mann blickte ihm dämlich nach, aber in seinen Augen glomm ein seltsames Feuer auf. Und eben dasselbe ließ sich nun auch bei den übrigen Leuten beobachten, als hätte der Spiegel zerschellend zahllose Funken um sich gesprüht. Es war wie ein Wahnsinnsrausch, der latent schon früher in den Leuten geschlummert hatte und nun durch das Klirren des zerspringenden Spiegels geweckt worden war, zu sinnloser Zerstörungs- und Vernichtungswut ausartend. Da halfen keine Ermahnungen und Verbote, alles hatte vollkommen Verstand und Urteilsvermögen eingebüßt. Eine Leidenschaft raste sich aus, die sich bis zum Rausch, zur Ekstase steigerte. Meigas kommandierte seine Leute in die Branntweinbrennerei und die Keller, in der Hoffnung, sie auf diese Weise abzulenken, aber er schrie sich vergeblich heiser, keiner hörte auf ihn, denn alles wollte diesen Zerstörungsrausch mitmachen, sei es auch nur als Zuschauer, als liege der ganze Sinn der Revolution eben in der Zerstörung und Vernichtung beschlossen.

Im Saal fand sich ein schwerer, ovaler Rotholztisch, unter den ein persischer Teppich gebreitet war. Derselbe alte Mann, der vorhin seinem Ebenbilde im Spiegel mit erhobener Faust gegenübergestanden hatte, gab sich nun blutige Mühe, diesen Tisch zu zerschlagen. Vergeblich sah er sich nach irgendeinem hierfür geeigneten Werkzeug um. Dann versuchte er, den Tisch mit den Händen zu zerbrechen, aber hierzu wollten seine Kräfte nicht langen. Dann packte er der Reihe nach drei, vier Lehnstühle und schmetterte sie auf den Tisch, aber der Tisch hielt den Stühlen stand: hier und da splitterte wohl ein Spänchen von ihm ab, aber im übrigen blieb er heil. Mit großer Mühe hob der Alte den Tisch dann empor, um ihn prasselnd auf den Fußboden zu schleudern, aber auch das tat keine Wirkung. Man konnte den Alten geradezu wegen seiner fruchtlosen Bemühungen bedauern. Er hätte sich ja wohl ein Beil besorgen können, aber anscheinend hätte ihm das zu lange gedauert, er wollte sein Ziel möglichst schnell erreichen. Und so setzte er seinen Kampf mit dem Tisch fort, bis ihm dicke Schweißtropfen von der Stirn perlten. Dann ließ er den Tisch plötzlich stehen und stürzte sich auf den Teppich, indem er den Versuch machte, ihn zu zerreißen, aber auch das wollte nicht gelingen. Endlich fielen ihm die Vasen und Nippes auf dem Kaminsims in die Augen, und er stürmte auf sie ein, um sie mit einem abgebrochenen Stuhlbein kurz und klein zu schlagen. Im Nebenzimmer entdeckte er einen Bücherschrank, den er mit Donnergepolter umstürzte. Die Fenstervorhänge riß er mit einigen wenigen Griffen herab, so daß nur noch Fetzen an den Scheiben niederhingen.

Ähnlich waren auch alle übrigen beschäftigt, von Zimmer zu Zimmer, von Saal zu Saal eilend, zerbrechend, zerreißend, was ihnen unter die Hände kam, mit Messern schneidend, mit einem alten Degen, den sie irgendwo gefunden hatten, drauflos hauend, umstoßend, was sich umstoßen ließ, alle Schlösser aufbrechend und den Inhalt der Schränke und Kommoden verstreuend. Man übergoß sich mit kostbaren Parfüms, die man in den Schlafzimmern gefunden, was viele später bitter zu bereuen hatten, indem dieser fest an ihnen haftende Duft sie verriet. Die Bettdecken wurden zerrissen und zertrampelt, die Kissen zerschnitten, so daß die Federn umherflogen, sich in den Kleidern, Haaren und Bärten, ja selbst den Nasen, Mündern und Augen der Leute verfangend, und als dann die Fenster eingeschlagen wurden, trug der Wind sie hinaus, wo sie über dem Hofe, zwischen den Bäumen des Parks, ja sogar draußen über den Feldern in der Luft herumwirbelten.

Ein alter Mann hatte eine derbe Alte umfaßt und auf eine weiche Federmatratze herabgezogen, wo sie beide auf und nieder schaukelten. Zwei junge Leute sprangen auf das Bett und machten den Versuch, die Federn zu knicken, indem sie wie Gummibälle auf und nieder hüpften. Endlich gaben sie dieses furchtlose Spiel auf, sprangen von der Matratze hinab und stürzten das ganze Bett zusamt dem alten Paare um, so daß die beiden plötzlich lachend auf dem Fußboden saßen, gerade als der Alte fragte:

»Was meinst du dazu, Alte, wenn ich dir wenigstens ein Kind auf solch einem Lager hätte andrechseln können?«

Aber unterdessen waren sie schon auf dem Fußboden angelangt, so daß die Alte mit Recht erwidern konnte:

»Wir haben zu Hause ein viel besseres Lager, unseren alten Strohsack unter dem Hinteren.«

Aber allgemach begannen die Leute doch wieder zur Vernunft zu kommen, aber nun stieg in ihnen eine Art Grimm darüber auf, daß man nicht auf einen Schlag dieser ganzen Herrlichkeit ein Ende machen könne, einfach alles verschwinden machen, denn alles was hier zu sehen war, rief das ins Gedächtnis, was bis heute bestanden hatte, und gab gewissermaßen zu verstehen, daß es auch in Zukunft so bleiben würde, wenn man nicht radikal mit allem Schluß machte. Und diesen Schluß konnte doch wohl nur eins bringen – das Feuer, das allen im Sinne lag. Und so wußte man schließlich nicht, wer eigentlich an die Ausführung dieses allen gemeinsamen Gedankens geschritten war, als man plötzlich Rauchgeruch verspürte.

»Irgendwo brennt es!« rief Meigas Indrek zu, und sie machten sich beide auf die Suche nach dem Feuer. Als sie den Feuerherd gefunden, warf Meigas den Rock ab, um mit ihm die Flamme zu ersticken, und Indrek folgte seinem Beispiele. Aber bevor sie noch des Feuers hatten Herr werden können, flog Indrek etwas Schweres, Hartes gegen die Seite, so daß es ihm den Atem verschlug. Meigas bekam eins über den Kopf, so daß er taumelte.

»Schweinebande!« knirschte er durch die Zähne und wandte sich um. Vor ihm standen die Gutsknechte.

»Das ist unser Feuer, das geht euch den Teufel was an!« sagte einer von ihnen.

»Das ist unser Gut, und wir können damit machen, was wir wollen, ihr laßt nur eure Finger hübsch davon«, sagte ein anderer.

Aber Meigas zog den Revolver und sagte:

»Den ersten, der die Löscharbeiten behindert, schieße ich nieder wie einen tollen Hund, das merkt euch!« Und den Revolver in die Tasche schiebend, wandte er sich wieder dem Feuer zu. Bald kamen ihnen einige Städter zu Hilfe, und so gelang es denn, das Feuer glücklich mit vereinten Kräften zu löschen.

Das Herrenhaus war nun von einem Ende bis ans andere, vom Dachboden bis zum Keller durchstöbert worden. Geld wurde fast gar keines gefunden und an Waffen nur ein paar Jagdgewehre und einige Revolver. Einen von diesen erhielt nunmehr Indrek, der bis jetzt waffenlos gewesen war.

Inzwischen wurde es auch Zeit aufzubrechen, denn draußen war es schon vollkommen hell. Ein Teil der Gutspferde wurde vor die besten Fuhrwerke gespannt, die übrigen gesattelt, und so hoffte man, alle befördern zu können. Indrek wurde ein Pferd zugewiesen, während Meigas mit seinem Stabe ein Fuhrwerk bestieg, in welches auch einige gefüllte Säcke geschafft wurden. Indrek hätte am liebsten den Sattel fortgeworfen und sich mit einer Pferdedecke beholfen, denn im Sattel hatte er bisher noch nie gesessen. Aber das ging nun mal nicht an, das schickte sich sozusagen nicht, denn Indrek empfand plötzlich deutlich, daß er, gleichwie auch die in der Kutsche sitzenden Genossen in den Augen der Zuschauer wichtige Persönlichkeiten wären – Aufrührer und Freiheitskämpfer, die doch nicht gut wie schlichte Arbeiter und Bauern durchs Land zuckeln konnten.

Man brach vom Gute in viel größerer Gesellschaft auf, als man gekommen war. Manche Leute kamen aus freien Stücken mit, andere wieder mußten an ihre heiligen Pflichten der Revolution gegenüber gemahnt werden. Und wer hätte es damals wohl wagen dürfen, sich als Gegner der Revolution und des Volkes zu bekennen?

»Jungens, gehen wir mit, das gibt sicher einen Heidenspaß!« hörte Indrek ein blutjunges Bürschchen seinen Nachbar auffordern, und eben aus diesem Grunde, weil sie sich einen guten Spaß versprachen, zogen viele mit, als sei alles, was in dieser Zeit geschah und noch geschehen würde, nur läppische Albernheiten und dumme Komödie.

Als man einige Kilometer weit gefahren war, machte die Straße eine Biegung, so daß das verlassene Gut sich nun zur Rechten der Bande befand. Als Indrek den Kopf wandte und zurückblickte, erschrak er und hielt sein Pferd zurück; über dem Herrenhause des Gutes stieg der Rauch in einer schnell sich verdunkelnden dicken Säule gen Himmel. Indrek jagte den Wagen nach und schrie, so laut er vermochte:

»Das Gut brennt!«

»Laß brennen!« rief jemand lachend zur Antwort.

Indrek sprengte an die Seite des Wagens, in welchem Meigas Platz genommen hatte, und wiederholte seine Worte, als erwarte er von ihm Bescheid darüber zu erhalten, ob man umkehren solle, um zu löschen, oder die Fahrt fortsetzen. Aber Meigas gab überhaupt keine Antwort, sondern machte bloß eine hoffnungslose Handbewegung. Als Indrek das sah, fühlte er plötzlich sein Herz gleichsam zu Eis erstarren. Er hielt sein Pferd ein wenig zurück, um mit seinen Gedanken allein zu sein, und es fehlte nicht viel, so wäre er umgekehrt und aufs brennende Gut zurückgeritten, denn ihm wollte es scheinen, daß es sinnlos sei, den Weg fortzusetzen, während hinter einem ein menschliches Heim brenne, mit allen seinen in Jahrzehnten, ja vielleicht in Jahrhunderten gesammelten Schätzen. Ja, erst jetzt erfaßte er es eigentlich ganz, daß es Vermögenswerte waren, die unter seinen Augen so sinnlos vernichtet wurden. Und gleichzeitig stieg vor seinem inneren Auge wieder jener alte Mann vor dem hohen Spiegel mit seinem zerwühlten Bart und grauen Haaren auf. Und auch den jungen Mann mit den blauen Augen, der den Spiegel umstieß und damit die Leidenschaften der Masse entfesselte, sah er wieder vor sich. Dieser junge Mann schien den einzigen Wunsch zu haben, alles umzustürzen, als habe dieses in den revolutionären Büchern und Broschüren bis zum Überdruß wiederholte Wort es ihm so angetan, daß er es immer und überall zu verwirklichen bestrebt wäre. Indrek sah diesen jungen Mann von Zimmer zu Zimmer gehen und sich suchend nach Gegenständen umblicken, die er hätte umstürzen können. In der Bibliothek hätte er dieser seiner Leidenschaft beinahe sein Leben zum Opfer bringen müssen, denn es fehlte nur wenig, so hätte ihn ein schwerer, hoher, bis oben mit Büchern vollgepfropfter Bücherschrank unter sich begraben. Aber dann auf die daliegenden Schränke springen und sie eintreten und die schweren, kostbar gebundenen Bücherbände zum Einschlagen der Fenster benutzen, das taten schon andere, das machte der junge Mann nicht mit; er stürzte bloß um, ein Donnergepolter hervorrufend, das bisweilen das ganze Haus in seinen Grundfesten erzittern ließ.


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