Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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1. Band.

Erstes Buch.

Jugendidyll.

Erstes Kapitel.

Wie meine Mutter strickte und mein Vater einen wunderlichen Heiligen anrief. – Vom alten Hylas, ferner von einem Reinettenbaum und endlich von einem aus der Klasse gejagten Michel.

»Nun?« fragte meine Mutter, indem sie meinen neben ihr sitzenden Vater von der Seite ansah und ihr Strickzeug mit einer Tatkraft handhabte, daß die Nadeln laut aneinander klangen und das auf den Schoß der Strickerin niederhängende Strumpfende sehr charakteristische Bewegungen machte.

»Was nun?« gegenfragte mein Vater.

Frage und Gegenfrage prallten in recht eigen zugespitztem Tone gegeneinander.

Außerdem gaben sich noch andere verhängnisvolle Symptome kund, welche auf eine gar bedenkliche Sachlage schließen ließen.

Die noch immer mädchenhaft frischen Lippen des kleinen Mundes meiner Mutter waren trotzig aufgeworfen, und zwischen ihren braunen Brauen, unter welchen ein dunkelblaues Augenpaar so sanft, gut und liebevoll hervorblickte, zeigte sich etwas wie der Schatten einer Falte. Auch strickte sie, wie schon gesagt, heftig. In gewöhnlicher Verfassung, wenn die getrennten Gewalten des ehelichen Konstitutionalismus in parlamentarischer Harmonie lebten, pflegte die Gute weder heftig noch überhaupt häufig zu stricken, weil ihr Eheherr einen stark ausgeprägten Widerwillen gegen diese Beschäftigung hegte.

Mein Vater warf mit einem ungeduldigen Ruck die Feder auf das große altfränkische Schreibzeug, stieß das vor ihm liegende Aktenheft zurück und faßte mit der Rechten in seinen buschigen Backenbart, dessen Schwarz reichlich mit Grau gesprenkelt war. Dann nahm er mit der Linken die Pfeife mit dem langen Weichselrohr aus dem Munde, blies die Backen auf und ließ einen unendlichen, dünnen Rauchstrahl mit eigentümlich pfeifendem Ton zwischen seinen Lippen hervorbrechen.

Dies getan, lehnte er sich in den Rohrstuhl zurück und stieß den lauten Seufzer aus:

»O, heiliger Semmelziege!«

Ich verstand den Sinn der Anrufung dieses wunderlichen Heiligen damals noch nicht. Später aber begriff ich, warum bei dieser Anspielung auf die Figur des Hofrats Semmelziege in Tiecks »Däumchen«, welchen Hofrat die Strickmanie seiner Gattin Ida bekanntlich sehr unglücklich machte, meine sittsame Mutter so über und über errötete, wie sie tat.

Sie rückte schmollend ihren Stuhl weiter von dem ihres Eheherrn hinweg und ließ an ihrer Stelle die Stricknadeln antworten, welche bitterböse klirrten.

In dem verlegenen Schweigen, welches herrschte, suchte mein Vater Trost bei seiner Pfeife. Aber sie war ausgegangen.

»Schlechter Tabak!« brummte er.

Meine Mutter schwieg, doch machte sie unwillkürlich eine Bewegung, um nach dem Feuerzeug zu langen, welches gerade vor ihr auf dem grünen Gartentische stand, als wollte sie nach ihrer Gewohnheit den Vater mit Feuer versorgen. Aber sie zog die schon ausgestreckte Hand wieder zurück, warf das Mäulchen auf und strickte, als gälte es ein Wettstricken.

Mein Vater stellte die Pfeife beiseite, verschränkte die Arme, gähnte verdrießlich, schaute in den rötlichen Abendhimmel hinaus, dann aufwärts in die Zweige des alten, prächtigen Apfelbaumes, welcher den Tisch überschattete und bemerkte:

»Die Reinetten gehen schon der Reife entgegen. Es war aber auch ein heißer Sommer.«

Meine Mutter schwieg und strickte.

Mein Vater, indem er leise seufzte, legte seine Hand auf den Kopf seines alten Hühnerhundes, welcher vor ihm saß. Der Hund hob seine Schnauze auf das Knie seines Herrn und blickte ihm mit den großen braunen Augen teilnahmevoll ins Gesicht.

»Alter Hylas, lieber, guter, friedsamer Kerl!« sagte mein Vater, den Hund liebkosend.

Das Wort friedsam war ganz eigen betont, und der alte Hylas verstand unzweifelhaft die Meinung seines Herrn. Aber er warf einen demütig fragenden Blick nach seiner Herrin hinüber, hielt sich ganz stille und ließ seinen buschigen Schweif nur ganz leise auf dem bekiesten Boden hin und her gehen. Es lag aber doch unbeschreiblich viel Sympathie in diesem hündischen Gebärdenspiel.

Der Hylas war nämlich ein Vieh von Geist und Gemüt. Wenigstens behauptete das sein Herr.

Die Stricknadeln klangen unter den Händen meiner Mutter, heftig, demonstrativ, ich möchte fast sagen eifersüchtig.

Meine gute Mutter liebte den Hund, wie überhaupt alle Tiere, nicht weniger als mein Vater. Und doch sah sie jetzt den armen Hylas so böse an, als sie überhaupt etwas anzusehen vermochte.

Dann, als sie bemerkte, daß ihr Eheherr sie nicht beachtete, warf sie einen verstohlenen Blick auf ihn, einen Blick, der eine Welt von Liebe offenbarte.

Da mein Vater sich plötzlich umkehrte, hatte sie nicht mehr Zeit genug, diesen Blick ganz zu verbergen.

Sie schlug die Augen nieder und strickte wieder mit fliegender Eile.

Mein Vater ließ sich aber dadurch nicht irre machen.

»Hör mal, liebes Kind,« sagte er, »morgen hab' ich ohnehin ein Geschäft in der Stadt. Du kannst mitkommen, und da wollen wir mitsammen sehen, was es denn mit dieser Geschichte eigentlich für eine Bewandtnis habe. 's ist am Ende doch nur 'ne Lumperei, wett' ich, ein Bubenschnickschnack. Läßt sich wohl leicht beilegen. Der Rektor, mußt du wissen, ist ein ungeheurer Pedant. Kenne ihn von alters her. Weiß nicht, absolut nicht, was Humor ist, der alte Deklinationenhetzer und Konjugationenbrüster. Unser Michel jedennoch ...«

»Unser Michel,« fiel meine Mutter ein, aber sie strickte jetzt nicht nur nicht mehr, sondern auch war das unglückselige Strickzeug, welches den ästhetischen Sinn meines Vaters so sehr beleidigte, plötzlich ganz verschwunden – »unser Michel ist mit Schimpf und Schande aus der Klasse gejagt worden. Ach Gott, der unglückliche Bub'! Wie soll ich das verwinden?«

Und die gute Frau brach in Tränen aus.

Der alte Hylas stand auf, schlich sich unter dem Tische durch, legte seinen Kopf schüchtern auf den Schoß meiner Mutter, blickte sie teilnehmend an und wedelte höchst gefühlvoll mit seinem Federschweif.

Ihres Kummers ungeachtet konnte meine Mutter doch nicht umhin, das treue alte Tier mit ihrer weißen Hand hinter den Ohren zu krauen.

»Nun, nun,« begütigte mein Vater, »verderb dir doch die Augen nicht mit überflüssigem Weinen, Gertrud. Du weißt, ich kann's nicht leiden. Schöne Frauenaugen sind eine edle Gottesgabe; man sollte sie pflegen; weißt du? ... Was aber die verdrießliche Tagesfrage betrifft, so ist es allerdings eine feststehende Tatsache, daß unser Michel – wo nur der Junge den ganzen Abend stecken mag? – in etwas barscher Weise das consilium abeundi erhalten hat. Wenn indessen der Grund kein anderer ist als der von ihm angegebene – und du weißt, der Junge lügt nicht – so hat es in der Welt schon größere Mißgeschicke gegeben, denk' ich.«

»Ja,« entgegnete meine Mutter, noch immer weinend – »ich weiß wohl, du würdest so sprechen, auch wenn dir der Himmel über dem Kopfe zusammenfiele.«

»In der Tat, liebe Alte« – dieser Ausdruck meines Vaters hatte meiner Mutter gegenüber immer etwas Komisches, denn er war mindestens zwanzig Jahre älter als sie – »in der Tat, vielleicht würde ich in diesem Fall mit dem alten Horaz sprechen:

Si fractus illabatur orbis,
Impavidum ferient ruinae
Selbst wenn der Erdkreis berstend einstürzt,
wird ihn der Sturz unerschrocken treffen.

vorausgesetzt nämlich, daß ich dann überhaupt noch zum Sprechen Zeit hätte und – du mir nicht widersprächest.«

»Ja, spaße nur,« versetzte meine Mutter, den Stich gutmütig hinnehmend. »Das ist so Männerart. Während wir uns härmen, scherzt und lacht ihr euch die Sorgen von der Brust weg. Was aber deinen Michel angeht ...«

»Meinen Michel?« fiel ihr mein Vater lächelnd ins Wort. »Hm, liebes Kind, ich denke, ein gut Teil von dem Jungen gehört dir an. Um so mehr, weißt du? da er, wie auch sein neuestes Heldenstück verrät, verteufelt oppositionell gesinnt ist. Im übrigen kann nicht geleugnet werden, daß der Junge ein Wildfang aus dem ff ist, ja geradezu das, was die Franzosen sehr bezeichnend ein enfant terrible nennen. Indessen ist mir das lieber, als wenn er ein Schleicher und Duckmäuser wäre, weit lieber. Wird sich die Hörner schon ablaufen, unser Michel.«

»Ach«, sagte meine Mutter wehmütig, »ich fürchte, der Junge ist zum Unglück bestimmt.«

»Warum nicht gar! Er ist ein derbknochiger Bursch. Desto besser! Er wird sich schon durch die Welt beißen und hauen. Ihm selber möcht' ich's nicht sagen, aber dir sag' ich's, liebe Alte; ich hab' eine rechte Freude an dem Jungen. Er hat Haare auf den Zähnen und Mark in den Knochen und gesunden Atem in der Lunge. Er fürchtet keinen seines Alters, selbst größere und stärkere nicht; er kriegt sie unter.«

»Ja, der ewigen Rauferei wegen kann man ihm auch nicht Kleider genug anschaffen,« seufzte meine Mutter.

»Tut nichts. Er läuft wie ein junger Hirsch über die Berge, schwimmt wie 'ne Ente, scheut sich nicht, das wildeste Pferd zu besteigen, kein Baum ist ihm zu hoch ...«

Wenn mein Vater wollte, daß sein Sohn Michel dieses nicht grundlose Lob nicht mit anhören sollte, so hätte er bedenken sollen, daß in der Tat dem Jungen kein Baum zu hoch war, namentlich solche nicht, welche ganz oder auch nur halbwege reife Früchte trugen.

Mehrbesagter Michel, mit dem Erzähler dieser seiner denkwürdigen Geschichte eine und dieselbe Person, hatte schon seit einigen Tagen die Wahrnehmung gemacht, daß die reifenden Reinetten auf dem Baume, welcher den Lieblingsgartenplatz seines Vaters überschattete, für seinen Geschmack gerade wenig säuerlich genug wären. Der »Wildfang aus dem ff« pflegte solcherlei Wahrnehmungen eifrigst auszunützen. Heute war er, nachdem ihm vormittags in der nahen Stadt, wohin er seit einigen Jahren täglich gewandert, um das dortige Lyzeum zu besuchen, eine gewisse Fatalität zugestoßen, den ganzen Nachmittag im Garten herumgestrichen, um der Fortsetzung gewisser unangenehmer häuslicher Erörterungen auszuweichen. Hunger und Durst hatten ihn vermocht, sich bei dem Reinettenbaum zu Gaste zu laden; aber kaum hatte er sich in den Ästen des ehrwürdigen Patriarchen festgesetzt, als Vater und Mutter unter demselben Platz nahmen. Und da heute kein Tag war, wo es ratsam gewesen wäre, daß Michel sich vor seinem Vater auf vorzeitiger Zehntung des väterlichen Lieblingsobstes ertappen ließ, so fühlte er sich bewogen, seine Operationen nur mit äußerster Vorsicht zu verfolgen. Zuletzt hatte er dieselben sogar ganz eingestellt, um, hinter den dicken Stamm gedrückt und, sich möglichst klein machend, aus seinem Blätterversteck herab mit begreiflicher, wenn auch nicht verzeihlicher Neugier einer Verhandlung zuzuhören, welche seine eigene werte Person betraf.


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