Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel,

worin zuvörderst ein ganz kurzer Monolog und hernach verschiedene bedenkliche Neuigkeiten mitgeteilt werden.

»Elender Klatsch! Ganz miserabler Klatsch! Aber ich muß doch zusehen, was alles während meiner Abwesenheit im Hause Kippling sich zugetragen. Daß Berthold und Julie ein Paar werden, nun, das ist in der Ordnung, ganz in der Ordnung. Sie will einen Helden à la Byron und er, er will eine Millionärin. Das paßt sich vortrefflich, das klappt! Aber das andere – ich bin gewiß, daß es nur Klatsch ist, nur Klatsch sein kann.«

Dieses kurze Selbstgespräch wiederholte sich während meiner nächtlichen Postwagenfahrt etwa ein dutzendmal, wenn ich mich recht erinnere. Zwischenhinein wurde auch der Entschluß gefaßt, mich etwas energischer, als bislang geschehen, mit meinen Privatangelegenheiten zu befassen ... Ei, wir sind doch alle mitsammen wunderliche Käuze! Sonst könnte es nicht vorkommen, daß wir eine Perle, wie rein und schön sie sei, erst dann in ihrer ganzen Kostbarkeit erkennen, wenn wir plötzlich eine schmutzige Hand nach derselben langen sehen.

In höchst unbehaglicher Stimmung kam ich in der Stadt an. Es war entschieden nicht Eifersucht, was ich empfand, wohl aber dunkle Besorgnis. Die beiden Kipplinge, der ältere sowohl als der jüngere, waren nicht die Leute, einen einmal entworfenen Plan aufzugeben, und die ganze Art und Weise, wie von Vater und Sohn die Bewerbung des Freiherrn um Julie aufgenommen und gefördert worden war, unterstützte allerdings die Ziegenmilchsche Vermutung, daß noch etwas weiteres dahinter stecken müßte.

Beunruhigt, wie ich war, konnte ich es kaum erwarten, vom Posthofe nach Hause zu kommen. Aber hier begrüßten mich Szenen, welche meine Gedanken doch wieder für eine geraume Weile von meinen Privatangelegenheiten ablenkten, wenigstens teilweise.

Als ich über den großen Hofraum zwischen den Magazinen nach der Gartenpforte ging, gewahrte ich an dem Orte eine sonderbare Verstörung, die hier um so auffallender war, wo eine mannigfaltige Tätigkeit sonst mit der Regelmäßigkeit einer guten Uhr verlief. Magazinarbeiter, Packer, Fuhrleute und Schiffer von den Kanalbooten standen plaudernd in Gruppen beisammen und ließen ihre Arbeiten ruhen. Aber man hörte keinen Scherz, vernahm kein Gelächter. Es ging überall ernst und still zu. Daß mich der große Warenprober der Firma, Herr Kambli, welcher gerade über den Hof ging, nicht mit einem Witz oder doch mit einem Witzversuch, sondern mit einer sehr ernsthaften Miene begrüßte, das war vollends, wie er sich ausgedrückt haben würde, gegen alle Kleiderordnung.

»Was haben denn die Leute?« fragte ich ihn.

»Schätze, sie machen ihre Glossen über das Unglück,« gab Herr Kambli zur Antwort.

»Über das Unglück? Ist Herrn Kippling oder den Seinigen etwas zugestoßen?«

»Körperlich nicht. Der Herr Oberst ist wohlauf und der junge Herr und das Fräulein auch, das heißt von letzteren vermut' ich es, denn sie haben gestern früh in Gesellschaft des Herrn Rittmeisters eine Bergtour angetreten.«

»So? Aber was ist denn sonst?«

»Mehr als genug. Das ganze, große, prächtige Etablissement im Bihltal droben ist gestern abgebrannt.«

»Kipplingsruhe?«

»Ja, jetzt heißt es mit Fug und Recht so, denn das Ganze ist nur noch ein ungeheurer Haufen von Schutt und Asche.«

»Wie kam denn das?«

»Ja, wer das schon wüßte! Sicher ist nur, daß der Brand gestern in der ersten Arbeitsstunde ausbrach, bei dem furchtbar heftigen Föhn, welcher unglücklicherweise gerade weht, mit reißender Schnelligkeit um sich griff und allen Rettungsanstalten zum Trotz so lange fortwütete, bis die Zerstörung eine vollständige war. Einige sagen, das Feuer sei im großen Webersaal, andere, es sei im Baumwollenmagazin entstanden. Brandstiftung wird stark vermutet und sitzt deshalb einer der Arbeiter, namens Zündt, bereits am Schatten.«

»Der Zündt? Der Vater des schönen Fabrikkindes, des Gritli?«

»Derselbe. Sie kennen also das hübsche Ding?«

»Ich sah es mal hier und nachher auch droben in Kipplingsruhe.«

»Ah, deshalb hat es Ihnen heute in aller Frühe auf dem Bureau so dringend nachgefragt.«

»Das Gritli hat mir nachgefragt?«

»Ja. Das junge Meidli, noch ein pures Kind, sah ganz verstört aus, wahrscheinlich infolge der Eintürmung seines Vaters. Wenn mir recht ist, hat das Kind geäußert, es habe Ihnen etwas zu sagen. Als man ihm mitgeteilt, Sie seien auf Reisen habe es wie verzweifelt, wie ganz unsinnig getan und sei fortgerannt.«

»Sie erzählen mir Rätsel.«

»Ja, es sieht rätselhaft aus, vollends wenn man bedenkt, daß das Gritli von hier weg über die Brücke und am Kanal hinauflief, um sich droben in den See zu stürzen.«

»Wie, um Gottes willen! Das arme Kind hat sich ertränkt?«

»Es wollte sich ertränken, ohne Zweifel. Allein die Fährleute eines an der Kanalmündung vor Anker liegenden Holzschiffes fischten das Meidli heraus, und jetzt sitzt es, wo sein Vater sitzt, nämlich auf dem Verhöramt; denn sein Benehmen war so auffallend, daß man einen Zusammenhang desselben mit dem Brandunglück, vielleicht mit der Brandstiftung argwöhnt.«

»Seltsam! Aber ich erinnere mich, dem Gritli, welches meine Teilnahme erregt hatte, droben in Kipplingsruhe mal gesagt zu haben, es sollte sich nur ungeniert an mich wenden, wenn es in Not gerate.«

»In Not ist das Meidli jetzt allerdings, aber Sie Werden ihm wenig helfen können. – Doch sehen Sie, da kommt unser Herr Chef.«

Von der Stadt herkommend, lenkte der Wagen des Herrn Oberst auf den Hof und fuhr am Kontor vor. Ich präsentierte mich meinem Chef, als er ausstieg, und wurde freundlich von ihm willkommen geheißen. Ich bemerkte auch weiter keine Aufregung an ihm. Die achteckige Brille saß ihm wie sonst auf der Nasenwurzel, und die gesunde Röte seines Gesichts war ungemindert.

Ein so enorm großer Mann wie Herr Gottlieb Kippling war – wenigstens in den Augen von Oskar Ziegenmilch und Komp. – durfte sich durch eine Feuersbrunst, so bedeutend diese auch sein mochte, nicht aus der Fassung bringen lassen.

»Sie kommen ja wie gerufen, Herr Hellmuth,« sagte er zu mir. »Wir werden in der nächsten Zeit alle Hände voll zu tun haben. Der Brandschaden ist ungeheuer, obgleich die Gebäulichkeiten versichert waren. Was ging an Material, was geht an Arbeitszeit verloren! Aber wir müssen es wieder hereinbringen. Weiter läßt sich nichts machen. Klagen und jammern tut's nicht. Wir müssen ohne Zögern an den Wiederaufbau des Etablissements gehen. Habe daher heute mit Baumeistern und Werkleuten bereits die nötigen Verabredungen getroffen. Morgen schon wird mit Wegräumung des Schuttes begonnen. Man muß die Hände rühren und praktisch sein, und da ich jetzt gerade eine Stunde frei habe, dächte ich, Sie kämen mit mir in mein Arbeitszimmer hinauf, um mir über den Stand unserer Geschäfte in England und Frankreich des Näheren zu referieren.«

Wir gingen hinauf. Der Herr Oberst setzte sich vor sein Bureau, nahm aus einem Fache desselben die Geschäftsbriefe, welche ich während meiner Reise nach Hause geschickt hatte, legte sie vor sich hin und erbat sich, einen nach dem anderen durchgehend, meine mündlichen Erläuterungen dazu. Er war so ganz bei der Sache, als hätte es niemals, geschweige erst vor vierundzwanzig Stunden, eine Feuersbrunft gegeben, bei welcher sich der Schaden nach Hunderttausenden, vielleicht nach Millionen berechnete.

Ich gestehe, daß ich zu jener Stunde etwas wie Respekt, wie großen Respekt sogar vor Herrn Gottlieb Kippling empfand. Die Geistesklarheit und ruhige Energie, welche er in der Verhandlung mit mir darlegte, ließen mich ihn einem Feldherrn vergleichen, der, nachdem ohne sein Verschulden eine große Schlacht verloren gegangen, schon am Tage darauf ungebrochenen Mutes wieder zum Angriff übergeht.

Mein Referat war abgetan und der Herr Oberst gerade daran, mir seine Zufriedenheit mit meiner Führung seiner Angelegenheiten in der Fremde auszudrücken, als Herr Hanns Bürger eintrat.

Er bat um Entschuldigung, falls er störe, bot mir nach seiner Gewohnheit den Zeigefinger der rechten Hand zur Begrüßung und sagte:

»Rechne, die Sache wird immer unklarer – 's ist kla–ar.«

»Wieso?« fragte Herr Kippling. »Hat das mit dem Zündt angestellte zweite Verhör noch kein sicheres Resultat ergeben?«

»Nein. Der Mensch bleibt bei seinem verstockten Leugnen. Dagegen hat das Kind, das Gritli, sobald es einigermaßen wieder zu klarer Besinnung kam, eingestanden –«

»Das Gritli hat eingestanden? Was denn?«

»Daß es die Brandstifterin sei.«'

»Das Gritli? Unmöglich!« rief Herr Kippling aus, stand von seinem Rohrsessel auf und ging mit auf den Rücken gelegten Armen durch das Zimmer.

Als er bei Herrn Bürger vorüberkam, warf er unter dem Brillenrand hervor einen seiner lauernden, bohrenden Blicke auf den Prokuraträger.

Herr Bürger zuckte die Schultern, worauf Herr Kippling seinen Gang fortsetzte.

»Wenn das Gericht nicht etwa das Kind für unzurechnungsfähig erklärt, so kommt es ins Zuchthaus, für seine Lebtage vielleicht, das ist sicher,« murmelte er im Gehen. »Aber es kann nicht sein, nein, es kann nicht sein! Erst vor einigen Tagen hat mir der Oberaufseher des Webersaals auf Befragen mitgeteilt, das Gritli sei ein stilles, sanftes, fleißiges Kind. Wie sollte es plötzlich zu einem solchen Verbrechen kommen? Unmöglich!«

Die Tatsache der Brandstiftung, zusammengehalten mit der Persönlichkeit des Kindes, frappierte auch mich höchlich; aber fast noch mehr frappierte mich die Art und Weise, wie der Herr Oberst, der doch sonst seine Arbeiter rein nur als »Hände«, das heißt als Maschinen bedienende Maschinen ansah, von dem Fabrikkinde sprach. Der Sachlage nach hätte man von seiten des Herrn Oberst Zorn und verachtungsvolle Schmähung erwarten sollen, und statt dessen drückte er sich so aus, daß man glauben konnte, es tue ihm mehr um das Gritli als um Kipplingsruhe leid.

»Hm,« bemerkte Herr Bürger nach einer Pause, »rechne, auf den ersten Blick muß es allerdings seltsam und rätselhaft erscheinen, daß ein Kind, wie das in Rede stehende mit einmal auf den tollen Einfall gekommen sei, Feuer anzulegen. Allein bei näherem Zusehen gibt die Psychologie oder, da ja Herr Düngerling und Konsorten samt der Psyche auch die Psychologie abgeschafft haben, die Physiologie Erklärungen für solche Tollheit. Ist es doch, rechne ich, anerkannt, daß auf der Übergangsstufe vom Kinde zum Mädchen das weibliche Geschlecht nicht selten auf die seltsamsten Gelüste und Ausschreitungen verfällt. Vielleicht könnte gerade der gegenwärtige Fall der gerichtlichen Medizin ein auffallendes Beispiel von Pyromanie liefern. Wenigstens leugne, hörte ich, das Gritli jede Anstiftung entschieden, und jedenfalls hat sich das Kind nicht von seinem Vater zu der Tat anstiften lassen – 's ist kla–ar.«

»Von seinem Vater?« fragte Herr Kippling zerstreut.

»Nun ja, von dem Zündt,« erwiderte Herr Bürger, den Namen nachdrücklich betonend.

»Ach so!« murmelte Herr Kippling und setzte seinen Gang fort.

Er befand sich gerade bei der Türe, als diese aufging und der alte Kontordiener einen Brief hereinbrachte mit den Worten: »Zu Ihren eigenen Händen, Herr Oberst.«

In der ungewöhnlichen Zerstreutheit, welche ihn angewandelt hatte, hielt Herr Kippling das Papier einige Minuten lang unerbrochen in der Hand. Dann öffnete er es lässig und überflog nur wie mechanisch den Inhalt.

Aber plötzlich stieß er einen halherstickten Schrei aus, wankte auf seinen Füßen, taumelte in seinen Sessel, den Brief krampfhaft in der Hand zerknitternd und mit bleichen Lippen Unverständliches murmelnd.

Erschrocken über dieses Gebaren eines so kräftigen und willensstärken Mannes, sprangen Bürger und ich hinzu, indem ich dem noch an der Türe stehenden Diener zurief, einen Arzt herbeizuholen.

»Nein, nein!« fagte Herr Kippling, sich mit einer gewaltsamen Anstrengung aus seiner gebrochenen Stellung aufrichtend. »Ich bedarf keines Arztes, sondern nur eines Glases Wein. Geh es holen, Jakob, und dann, hörst? bin ich in den nächsten drei Stunden für niemand zu Hause.«

Der Diener ging. Herr Kippling setzte sich in seinem Stuhle zurecht und schob den zerknitterten Brief, dessen Inhalt so mächtig auf ihn gewirkt hatte, in die Brusttasche.

Dann sah er Herrn Bürger und mich mit forschenden Blicken an und sagte mit einer Stimme, deren Mattigkeit er vergeblich zu verbergen suchte:

»Meine Herren, Sie haben sich immer treu und redlich gegen mich erwiesen ... Beklagen Sie mich: ich bin ein unglücklicher Mann!«

Es hatte etwas Rührendes, diesen hartgesottenen Mann der Praxis plötzlich so kläglich sich äußern zu hören.

Ich war in peinlicher Verlegenheit, und Herrn Bürger erging es wohl nicht besser, denn er sagte ziemlich hölzern:

»Rechne, Ihr habt einen großen Schreck gehabt, Herr Oberst.«

»Jawohl,« versetzte Herr Kippling mit einem schweren Seufzer.

»Darf ich fragen, ob es sich um eine Geschäftssache handelt?«

»Nein – leider nicht. Es hängt mit –«

Er brach ab, wie sich besinnend. Aber doch noch nicht völlig Herr seiner selbst, sagte er:

»Mein lieber Herr Bürger, ich weiß, welche Wünsche Ihr gehegt habt, und Ihr wißt, daß mit der Erfüllung derselben auch die meinigen erfüllt worden wären. Aber grämt Euch nicht über die Nichterfüllung. Braucht Ihr doch, wie die Sachen jetzt stehen, vielleicht nie zu erfahren, was Kinder für ein – hm, für ein Segen sind.«

»Herr Oberst –«

»Ach ja, ich schwatze recht zerstreut ... Meine Herren, haben Sie die Güte, mich allein zu lassen ... Sie haben nichts zu besorgen, ich habe mich schon wieder erholt und muß sofort an eine dringliche Arbeit gehen. Sie können mir dabei nicht helfen ... Aber warten Sie noch einen Augenblick, nämlich Sie, Herr Hellmuth. Wollten Sie mir wohl einen Gefallen tun?«

»Von Herzen gern.«

»Gut, ich danke Ihnen. Kommen Sie in Zeit von einer Stunde wieder hierher, aber pünktlich!«

Als ich nach Verlauf einer Stunde wiederkam, fand ich, daß der Herr Oberst die gewöhnliche Fassung mit Bestimmtheit seines Wesens wieder gewonnen hatte. Er war beschäftigt, den Umschlag eines ziemlich dickleibigen Briefes oder Briefpakets zu versiegeln, und als er damit zustande gekommen, sagte er:

»Die Gefälligkeit, um welche ich Sie bat, Herr Hellmuth, ist eine Reise ins Gebirge. Vielleicht ist es nicht ganz schicklich, Sie schon wieder hinauszusprengen, nachdem Sie kaum von einer langen und mit höchst anstrengenden Geschäften verbundenen Tour zurückgekehrt sind. Aber die Umstände sind dringend. Ich muß einen vertrauten Mann schicken und habe nur die Wahl zwischen Ihnen und Herrn Bürger –«

»Bitte, Herr Oberst,« sagte ich, »es bedarf gar keiner Umschweife oder Entschuldigungen. Ich bin sogleich reisefertig. Wohin und was soll ich?«

»Es handelt sich darum, in möglichster Eile meinen Sohn aufzufinden und ihm diesen Brief zuzustellen.«

»Gut. Wo soll ich Herrn Kippling treffen oder wenigstens suchen?«

»Ja, sehen Sie, das ist eben die Mißlichkeit, daß ich Ihnen nicht genau oder vielmehr nur ganz im allgemeinen sagen kann, wo sie Theodor treffen werden. Ich dachte einen Augenblick daran, ihn mittels einer Annonce in den Zeitungen ...«aber es geht nicht ... würde nur Aufsehen erregen ... Ich muß Sie, beiläufig bemerkt, bitten, mit niemand, hören Sie? mit niemand, Herrn Bürger ausgenommen, von dem Zweck Ihrer bevorstehenden Reise zu reden ... Theodor und Julie haben gestern früh in Gesellschaft des Herrn von Rothenfluh, welcher so ziemlich als der Verlobte meiner Tochter anzusehen ist, einen Ausflug in die Hochalpen unternommen. Ich war gegen diesen romantischen Einfall und jetzt weiß ich, daß ein richtiger Instinkt mich leitete. Aber Julie bestand darauf, indem sie sagte, auf Reisen erprobe sich die Liebenswürdigkeit der Leute am sichersten, und sie wolle daher sehen, wie der Freiherr die Probe bestehen werde. So ließ ich die jungen Leute gehen, sozusagen ganz ins Blaue hinein; denn von einem Reiseplan wollte Julie nichts wissen. Das sei langweilig, meinte sie, und erinnere sie an die Pensionatsreisen nach Anleitung des Guide. Ich weiß also nur, daß die drei mitsammen den See hinauf sind, um durch das Gaster und dann über den Wallensee in die Hochtäler von Graubünden zu gehen. Dort sei noch natürliche Natur und romantische Romantik, wie sich Julie ausdrückte. Sie sprachen aber auch davon, zuvor das an ihrem Wege gelegene Glarnerland zu besichtigen und in diesem Falle dann von Glarus nach Mühlehorn zu gehen, um von da über den Wallensee zu fahren.«

»Graubünden ist also jedenfalls das Reiseziel?«

»Jedenfalls, es müßte denn Julie plötzlich die Laune anwandeln, eine andere Richtung einzuschlagen.«

»Das wäre freilich kein unmöglich Ding.«

»Leider. Aber wir müssen doch nun einmal das Glarner- und Graubündnerland im Auge halten.« »Gut. Im ersteren, welches ja sozusagen nur aus einem einzigen Tale besteht, müßten die Reisenden leicht aufzufinden sein. Schwieriger wäre die Sache in Graubünden, dessen Berge und Täler fast labyrinthisch durcheinander laufen. Ich denke aber, da eine Dame bei der Reisegesellschaft ist, wird diese wohl nicht in die wildesten Bergwildnisse sich hineinwagen.«

»O, darauf können Sie nicht rechnen, mein lieber Herr Hellmuth. Sie kennen ja Julie. Sie würde ihre Begleiter zu den tollsten Gletschertouren zwingen, wie sie sich's gerade in den Kopf gesetzt hätte, daß das schön sein müßte.«

»Nun wohlan, ich will mit dem zunächst abgehenden Dampfer den See hinauf. Morgen und übermorgen durchstreif ich das Glarnerland, und unterwegs stoße ich da wohl auf Spuren, die mich weiter leiten. Ich habe also, im Falle ich die Reisegesellschaft früher oder später treffe, nichts zu tun, als Herrn Theodor Kippling dieses. Briefpaket zu übergeben?«

»Doch. Wenn Sie ihm das Paket – achten Sie sehr auf dasselbe, es sind auch Banknoten darin – übergeben haben werden und er von dem Inhalt Kenntnis genommen hat, werden Sie ihn fragen, ob er dem soeben an ihn gelangten Wunsche, nein, dem Befehle seines Vaters sofort Folge leisten wolle. Sagt er ja, so bringen Sie mir diese Antwort zurück. Sagt er nein, so schreiben Sie mir es auf der Stelle und bleiben dann in der Nähe Theodors, bis Sie Weiteres von mir hören.«

Hier, merkte ich, war meine Audienz zu Ende, obgleich mich der Herr Oberst diesmal nicht so ohne weiteres mit seiner sonstigen Vornehmheit entließ.

Ich ging nach dem Pavillon hinauf, wählte aus meinem inzwischen daselbst angelangten Reisegepäcke einen kleinen Handkoffer aus und benutzte die Stunde, die mir bis zum Antritte der neuen Reise noch blieb, mich im See vom Staub der alten rein zu spülen.

Auf mein Zimmer zurückgekehrt, wollte ich dem vorher zu diesem Zwecke bestellten Packknecht mein leichtes Reisegerät übergeben, um dasselbe nach dem Dampfboot zu schaffen, als Bürger kam und sich erbot, mich samt meinen Siebensachen in einer der zum Hause gehörenden Barken nach dem Hafen zu rudern. Natürlich nahm ich das Anerbieten an, und wir befanden uns bald auf dem Wege.

Als Bürger bemerkte, daß ich beim Vorüberfahren einen Blick auf das Badehäuschen am Ende des Kipplingschen Gartens warf, sagte er:

»Ah, Ihr erinnert Euch an vorjährige Mondscheinnächte – 's ist kla–ar. Aber die Nixen haben sich in diesem Sommer in Bergnymphen oder wie es, rechne ich, die Griechen nannten, in Oreaden verwandelt – tempora mutantur. Seid Ihr noch verliebt, lieber Junge?«

»Nein, alter Junge.«

»Gewiß nicht? Nun, das ist ja auch eine Neuigkeit. Rechne, ist heute der Tag der Neuigkeiten. Erstlich springt das arme dumme Ding, das Gritli, ins Wasser; zweitens gibt es, wieder herausgefischt, sich selber als Brandstifterin an; drittens erhält Herr Kippling senior einen mysteriösen Brief, der ihn seine Fassung völlig verlieren macht; viertens tretet Ihr, kaum erst heimgekehrt, eine sonderbarliche Botenfahrt an, einen gewissen Herrn Kippling junior in den Bergen aufzustöbern. Fünftens ist vor einer Viertelstunde die ehrsame Frau Regel, weiland Beschließerin oder Wirtschafterin zu Kipplingsruhe, gefangen hier eingebracht worden.«

»Was, die Frau Regel ebenfalls verhaftet?« »Ihr sagt es.«

»Weshalb denn?«

»Das weiß der Herr Verhörrichter und noch andere Leute – vielleicht. Was mich betrifft, ich weiß nur, daß die Frau Regel in späteren Jahren ihres Lebens einen großen Schick hatte, die Bihlforellen richtig zu sieden, während sie in früheren auch andere Dinge verstanden haben muß – 's ist kla–ar.«

»Was ist klar?«

»Nichts.«

»Da habt Ihr's getroffen. Wenigstens, was diese ganze Brand-, Brief- und Verhaftungsgeschichte angeht.«

»Hm, rechne, ein in historischer Kombination geübter Mann könnte aus den mitgeteilten fünf Neuigkeiten ein hübsches Stück Tagesgeschichte zusammenleimen. Möglich, daß das in Ermangelung eines Historikers ein simpler Kriminalist von Staatsanwalt tut ... Aber da sind wir ja an der Treppe des Dampfboots. Gehabt Euch Wohl; und wenn Ihr Herrn Theodor Kippling trefft, so sagt ihm, wie Ihr ja aus Erfahrung kennt, es sei eine merkwürdig schöne Sache ums Reisen.«


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