Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Neuntes Kapitel.

Eine modernste Familientragödie

Am Tage darauf bestatteten wir den Toten auf dem Friedhof bei der kleinen Dorfkirche im Hintergrunde des Tales. Dort waren vor Jahrhunderten die Herren von der roten Fluh beigesetzt worden, und so mischte sich der Staub des jüngsten männlichen Sprosses eines erlöschenden Geschlechtes mit dem seiner Altvordern. Der Strom kehrt nicht zu seiner Quelle zurück; aber hier bettete der wundersame Wandel der irdischen Dinge den letzten Stammhalter einer alten Familie in denselben Fleck Erde, in welchem der Urahn, der Begründer des Hauses seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Ich konnte, als die Erdschollen auf den Sarg rollten, mir nur sagen, daß es eine gute Schickung gewesen, welche dieses verlorene Leben hinwegnahm. Der so schwer Verirrte und, ach, so schwer gebüßt Habende hatte nun Ruhe, nachdem er sich selbst und anderen nur noch zur Last gewesen. Geboren und aufgewachsen unter Verhältnissen, die ein langes, gutes, ihm selbst und anderen zu Glück und Freude gereichendes Dasein verbürgten, war der Unglückliche vom Dämon der Genußsucht, diesem Fluche unserer Zeit, schon frühzeitig ergriffen und rasch zum Äußersten fort, ja darüber hinaus gerissen worden. Als das edlere Element in ihm endlich wieder erwachen wollte, war es zu spät. Eine schreckliche Erinnerung schwang ihre Furiengeißel ruhelos über ihm und peitschte ihn dem Tod entgegen. O, dieses Grab könnte den Luxusmenschen des neunzehnten Jahrhunderts eine furchtbare Mahnung predigen. Aber wie die Lehren der Geschichte, so verhallen auch die Mahnungen der Gräber für die ungeheure Mehrzahl der Menschen ungehört.

Ein Beispiel dessen war mir sogleich zur Hand in der Person des Herrn Theodor Kippling, welcher sich nur widerwillig und verdrossen dem kleinen Leichengefolge angeschlossen hatte. Er wartete kaum das Entlassungswort des Dorfgeistlichen am Grabe ab, um sich gleichmütig seine Zigarre anzubrennen.

»La farce est fini!« äußerte er auf dem Rückwege zur roten Fluh gegen mich. »Am Ende war es auch das Gescheiteste, was der Herr Rittmeister tun konnte, so im Schlaf in den Abgrund hinabzuspringen. Es hat ihm sicherlich gar nicht wehe getan. Aber ich meine, er hätte damit anständigerweise noch ein paar Wochen warten können bis nach Vereinigung unseres Geschäftes. Diese Geburtsaristokraten sind doch verteufelt unpraktisch und rücksichtslos. Nun, wir müssen sehen, wie wir ohne ihn mit der Sache fertig werden. Die Zahl der Gläubiger, welche Ansprüche an die freiherrliche Hinterlassenschaft haben, ist Legion; aber gerade deshalb, glaub' ich, wird denselben um so leichter zu beweisen sein, daß es zuletzt doch besser ist, wenig als gar nichts zu bekommen. Ich will morgen schon diese häßliche Wildnis verlassen, um selber nach Deutschland zu gehen und die Sache für unsere Firma zu arrangieren. Das Schloß Rothenfluh bietet weite Räumlichkeiten zur Anlage eines Etablissements, und wenn die Einrichtung praktisch und kräftig an die Hand genommen wird, so können wir dort zuverlässig viel früher zu arbeiten anfangen, als in der erst wieder von Grund aus zu erbauenden Kipplingsruhe.«

Ich zog es vor, nur durch mein Schweigen anzudeuten, wie widerwärtig mir die Äußerungen dieses Menschen waren, in welchem die herzlose Spekulationswut unserer Tage sozusagen Fleisch geworden war. Er hob wieder an:

»Julie wird sich trösten müssen über den Verlust der Aussicht, gnädige Frau betitelt zu werden. Nonsens! Was das Fräulein von Rothenfluh betrifft, so ist bei veränderter Konstellation der Umstände meine Bewerbung um diese stolze Schönheit nicht mehr praktisch. Nun, mein lieber Herr Hellmuth, Sie werden sich ja wohl des armen Freifräuleins erbarmen?«

»Mein Herr,« erwiderte ich, ihn auf eine nicht mißzuverftehende Art über die Schulter ansehend, »Fräulein von Rothenfluh hat mir die weit über mein Verdienst gehende Ehre erwiesen, meine Bitte um ihre Hand zu erhören, und ich muß Sie also ersuchen, mit geziemender Achtung von meiner Verlobten zu reden.«

»Warum denn nicht? Ich statte Ihnen hiermit in aller Form meine Gratulation ab, und wenn Sie zu bescheiden sind, diesen Sukzeß Ihren Verdiensten zuzuschreiben, so wissen Sie ja, daß, wer das Glück hat, die Braut heimführt.«

Ich sagte nichts darauf, und wir stiegen den Schloßhügel hinan, an dessen Fuß wir inzwischen angelangt waren. Droben war die Zugbrücke niedergelassen. Im Burghof stand ein gesatteltes Saumpferd, von einem weiten Gange dampfend. Der alte Hausmeister unterhielt sich mit einem fremden Bergführer, welcher mit dem Pferde gekommen zu sein schien. Als uns der Alte erblickte, kam er auf uns zu, machte seine Reverenzen und sagte zu meinem Begleiter:

»Der Herr Vater von Monsieur ist soeben auf der roten Fluh angelangt. Er erwartet Monsieur in der großen Halle.«

»Mon cher papa«? versetzte Herr Kippling leichthin. »Was, zum Teufel, will der in dieser Einöde? Kurios!«

Der geneigte Leser wird mich entschuldigen, wenn die Ankündigung der Anwesenheit des Herrn Oberst auf der roten Fluh mich fast neugieriger machte, als ob dieser Neuigkeit Herr Kippling der Jüngere zu sein schien. Jener hatte also meinen Brief wohl schon erhalten, in welchem ich ihm gemeldet, was zu melden gewesen war. Nämlich, daß Herr Kippling Sohn gemeint, Herr Kippling Vater habe vergessen, daß mit Geld alles zu machen, mit Geld alles auszugleichen sei; ferner, daß ein praktischer Mensch nicht so leicht ins Bockshorn zu jagen sei, und endlich, daß er, Herr Kippling Sohn, entschlossen sei, erst abzureisen, nachdem er sein Geschäft auf der roten Fluh abgemacht habe.

Mir waren diese Ausdrücke, als ich sie an den Herrn Oberst schrieb, ziemlich unklar oder geradezu unverständlich gewesen. Jetzt sollte ich darüber Aufklärung erhalten.

Wir fanden den Handelsherrn in der alten Halle. Julie war bei ihm und sonst niemand zugegen. Als ich hinter seinem Sohne eintrat, grüßte mich der Oberst mit einer leichten Handbewegung, aber sofort schien er von meiner Anwesenheit weiter keine Notiz zu nehmen. Er hatte augenscheinlich Wichtigeres zu denken und zu tun. Seine Aufregung war ganz außerordentlich. Zwar, seit ich ihn damals, am Tage meiner Abreise in die Berge, weich gesehen, wußte ich, daß die hochmütige Kühle und berechnende Gemessenheit des Mannes nicht gegen alle und jede Eindrücke vorhielten; aber doch hatte ich nicht geglaubt, daß er so ganz aus den Fugen kommen könnte, wie er jetzt war. Bestürmt von einer großen Sorge und einem nur allzu gerechten Zorn, aufgeregt von der Eile, womit er gereist war, war das erste, was er bei seiner Ankunft auf der roten Fluh erfahren, die Katastrophe gewesen, welche am Tage zuvor daselbst stattgefunden hatte. So erklärte es sich denn allerdings leicht, daß sein Gebaren hastig, sein Gesicht braunrot war, und daß seine Augen, welche er des diplomatischen Schirmes der achteckigen Brille entäußert hatte, mit wildem Feuer leuchteten.

Ich hätte ohne Zweifel so rücksichtsvoll sein sollen, mich sofort von der beginnenden Kipplingschen Familienszene schleunigst zurückzuziehen. Indessen wird mein Bleiben vielleicht dadurch verzeihlich, daß sich der ganze Auftritt mit wahrhaft dramatischer Rapidität entwickelte.

Der Herr Oberst trat hart vor seinen Sohn hin und sagte mit mühsam gedämpfter Stimme ohne weitere Einleitung:

»Also du meinst, mit Geld lasse sich alles ausgleichen, selbst das Schändlichste?«

»Que voulez-vous donc, mon cher papa?« entgegnete Herr Kippling Sohn, mit dem Finger die Asche von seiner Zigarre schnellend.

»Die Zigarre weg und den Hut herunter, Bube, wenn du mit mir sprichst, oder ich vergesse mich und hole an dir nach, was ich in deinen Knabenjahren nur allzusehr versäumte!« rief der Handelsherr aus, an seinem Grimme würgend.

»Warum denn nicht?« fagte Herr Kippling achselzuckend und warf Hut und Zigarre auf den Tisch.

Dann wandte er das kalte glasige Fischauge auf den Vater und sagte lässig:

»So, jetzt bin ich in kindlich ehrerbietiger Position. Laß mich hören, was los ist, wenn's beliebt.«

Julie wandte sich mit einer Gebärde des Ekels nach dem Fenster.

Der Herr Oberst holte tief Atem, und mit einer gewaltsamen Anstrengung, sich zu beherrschen, sagte er:

»Warum bist du nicht geflohen, wie ich dir befahl?«

»Geflohen? Wegen so einer Bagatelle? Und zumal in einer Zeit, wo ich, was allerdings illusorisch war, gerade im besten Zuge war, ein prächtiges Geschäft zu machen?«

»Er spricht von einer Bagatelle, der Unselige!« rief der Vater aus und schlug die Hände zusammen. »Weißt du, daß du wegen Vergewaltigung einer Unmündigen, eines Kindes, kriminaliter angeklagt und mit Steckbriefen verfolgt bist? Weißt du, daß die Gendarmerie auf dich fahndet?«

»Das letztere wußte ich allerdings noch nicht. Auch das nicht, daß die Juristen das Ding so nennen. Que de bruit pour une omelette! Schönen Fabriklerkindern passiert zuweilen so etwas Menschliches.« »So etwas Unmenschliches, willst du sagen, Unmensch, der du bist! O, beim Himmel, ich könnte vergessen, daß du mein Sohn bist, und mich freuen, wenn Gerechtigkeit an dir geübt wird. Und sie wird geübt werden. Schon zweimal hat die Justiz deinem Treiben bei den wüsten Orgien in dem Sündenhaus am Flusse durch die Finger gesehen, und das Geld hat den Skandal vertuscht. Aber diesmal ist das Maß des Frevels voll zum Überfließen. Die Frau Regel hat dem Untersuchungsrichter alles gestanden.«

»Die Frau Regel hat geplaudert? Alles? Das ist dumm!«

»Sie hat geplaudert. Hoffe nichts. Sie hat gestanden, daß sie das unglückliche Kind auf deinen Befehl in das Haus gelockt, und daß du, Elender, nachdem deine brutalen Verführungskünste mittels Weins an dem Instinkt der Unschuld gescheitert, zu roher Gewalttat verschrittest. Am Morgen nach der Frevelnacht ist dein Opfer im Fieber des Wahnsinns hingegangen und hat Feuer in das Baumwollenmagazin geworfen, als müßte es so sein, weil kein Feuer vom Himmel fiel, die unerhörte Untat zu rächen.«

»Du bist tragisch gestimmt, mon cher père. Ich für mich kann der Sache keine so tragische Seite abgewinnen. Freilich, das konnte ich nicht entfernt annehmen, daß eine Fabriklerin ihre Unschuld mit der Fackel in der Hand rächen würde. Neu das, ganz neu. Aber sie ist Brandstifterin – Basta! Mein Advokat müßte der dümmste seines Handwerks sein, wenn er den Herren Richtern und Geschworenen meine völlige Schuldlosigkeit nicht wasserklar bewiese. Die Frau Regel – verdammt sei sie! – wird wohl vermocht werden können, ihre Geständnisse zurückzunehmen. Ich will es besorgen – kenne das. Daß sie geplaudert, ist allerdings dumm, viel dümmer, als man von einem so geriebenen Weibe erwarten konnte, welches zu den Zeiten meines cher papa – weißt du? – in derlei Affären so pompös praktisch war.«

Der Herr Oberst machte eine Bewegung, um sich auf seinen Sohn zu stürzen. Aber die namenlose Frechheit desselben schien ihn zu lähmen. Die Arme fielen ihm schlaff an den Seiten nieder, während er mit dumpfer Stimme sagte:

»Elender Bube, du höhnst deinen Vater, nachdem du deines Vaters Tochter entehrt hast.«

»Meines Vaters Tochter? Du bist wohl nicht bei Sinnen?«

»Doch, doch, obzwar ich Grund genug hätte, den Verstand zu verlieren.«

Und so laut, als wollte er das Gräßliche zum Himmel aufschreien, setzte er hinzu:

»Das arme Kind, welches du so brutal zugrunde gerichtet hast, es ist deine Schwester!«

Julie stieß einen Schrei aus und eilte auf ihren Vater zu, welcher sich an dem Tische festhielt, wie um nicht umzusinken.

Der Keulenschlag, welchen der Vater auf den Sohn gefühlt, störte denn doch, wenn auch nur auf flüchtige Augenblicke, dem letzteren »den toten Sumpf« seiner Seele auf.

Er trat einen Schritt zurück, und in seiner Kehle gurgelte es, als schnappe er nach Luft. Aber das ging schnell vorüber und der Sumpf glättete sich wieder.

»Wenn,« sagte er, »dies mehr sein soll als ein melodramatisches Effektmittel, so frage ich: Wer ist schuld an alledem? Wenn das Mädchen deine Tochter ist, mein Vater, warum hast du sie als Fabriksklavin unter Fabriksklaven aufwachsen, Sklavenarbeit tun und einem rohen Trunkenbold von Stiefvater anheimfallen lassen?« Der Oberst beugte das Haupt vor dieser vernichtenden Anklage, und die Hände vor das Gesicht schlagend, stöhnte er:

»Wahr! Wahr! O, das ist mehr, als Fleisch und Blut zu ertragen vermag.«

»Vater, lieber Vater,« sagte Julie, seine Hand ergreifend und sie an die Lippen drückend, »wie du auch gefehlt habest, diesem Schändlichen da steht kein Recht zu, dich zu höhnen und anzuklagen. Laß ihn! –Wir wollen alles tun, das unglückliche Kind zu retten, und ich will versuchen, gutzumachen, was an ihm gefrevelt wurde. Deine Tochter soll meine Schwester sein!«

»Dank dir, Kind, Dank dir! Das war ein gutes Wort, und noch nie hast du mich so glücklich gemacht. O, du hast ein Herz! Ich wußte es wohl, allen deinen Phantasien und Launen zum Trotz.«

»Das ist ja recht rührend,« sagte Herr Kippling der Jüngere. »Man könnte es für eine Rührszene aus einem Birch-Pfeifferschen Stücke nehmen. Ich für meine Person tauge nicht für das rührende Fach. Du weißt ja mon cher père, daß du mich zu einem rein praktischen Menschen erzogen hast. Als solchen will ich mich auch in dieser dummen Geschichte bewähren; denn so wahr ich Kippling heiße –«

»Eben den suchen wir!« rief es zur Türe hinein.

Herr Kippling wandte sich um und sah sich meinen beiden Bekannten von der Sennhütte her, den Gendarmen Sale und Vale gegenüber.

»Was wollt ihr hier?« fragte der Überraschte hochherab, aber doch mit einem Anflug von Zittern in der Stimme.

»Was wir wollen?« versetzte der Sale. »Partout nichts, schätz' ich, als Euch, nämlich Herrn Theodor Kippling Von da und da. Sind kaibisch lange nach Euch herumgestrichen in dieser kaibischen Weltgegend. Derohalb machte jetzt keine Umstände, junger Herr. Helfen doch nichts! – Heraus mit den Handschellen, Vale! – Signalement, Verhaftsbefehl, alles in Ordnung. Kaibisch verdrießlich für Euch, aber wahr – bim Eid!«

»Nehmt Geld, liebe Leute,« sagte der unglückliche Vater mit schwacher Stimme. »Fordert, so viel ihr wollt – ihr sollt es haben – jetzt, auf der Stelle – aber laßt den Gefangenen entwischen – diese Schmach ist zu groß.«

»Geld, viel Geld, Herr Oberst?« versetzte der Sale, dem Gefangenen die Handschellen anlegend. »Hm, was meinst, Vale?«

Der Vale schmunzelte.

»Wart', du ewiger Hagel!« schrie ihn sein Kamerad an. »Weißt nicht, daß im Dienstbüchli, Par'graph so und so geschrieben steht: Du sollst dich nicht lassen bestechen! – Nein, Herr Oberst, 's tut's nichts. Müssen Order parieren. Was würde aus der Welt, wenn die armen Leute auch vollends mogeln und mukmakeln wollten? Die ganze Kalberei ginge ja zum Teufel! Empfehle mich! – Fort, marsch!«

Sie führten ihren Gefangenen hinaus, und als die Türe hinter ihnen zufiel, brach der Oberst in den Armen seiner Tochter zusammen.


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