Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel,

worin noch einmal kurz über die Schweiz geredet und dann fast nur von Geschäften gehandelt wird.

Mit Gefühlen der Achtung und Dankbarkeit verließ ich die Schweiz. Ich hatte in diesem schönsten Lande Europas meine Kräfte brauchen gelernt, hatte Erfolge gehabt, hatte mir Freunde für das ganze Leben erworben. Früher selbst zuweilen in den Fehler verfallen, ohne genauere Kenntnis über schweizerische Zustände in der oberflächlichen Weise abzusprechen, wie es Fremden nur allzuhäufig begegnet, erachte ich es für Pflicht, hier noch zu sagen, daß, alles zusammengenommen, die Schweizer auf einen hohen Grad von Achtung Anspruch machen können. Es ist wahr, es fehlt ihnen durchschnittlich der ideale Seelenschwung wie die Leichtlebigkeit des Humors. Allein es mag sich dieser Mangel leicht daraus erklären, daß die Schweizer durch den ganzen Gang der Geschichte ihres Landes darauf hingewiesen wurden, vorwiegend praktische Ziele anzustreben. Daraus resultiert die verständige Nüchternheit, welche die Schweizer in der ganzen Fassung und Führung des Lebens kennzeichnet. Daneben sind sie jedoch edlerer Impulse keineswegs bar und ledig. Schon ihr reger Gemeinsinn und die außerordentliche Pietät, womit sie die glorreichen Erinnerungen ihrer alten Geschichte pflegen, beweisen das hinlänglich. Die staatlichen Einrichtungen der Eidgenossenschaft haben ohne Zweifel ihre Mängel; allein in dem Umstand, daß die Formen des Selfgovernments, anderwärts erst mühsam und meist noch etwas ungeschickt erstrebt, den Schweizern längst schon zur zweiten Natur geworden sind, ist ein mächtiges Korrektiv gegeben. Endlich darf auch nicht mit Stillschweigen übergangen werden, daß das schweizerische Geschäftsleben, obzwar es sich von dem Kredit-und Spekulationsschwindel unserer Tage keineswegs unberührt erhalten hat, dennoch im ganzen noch auf solider und rechtlicher Basis ruht. Indessen auch im deutschen Vaterlande fand ich, heimgekehrt, neben vielen untröstlichen Erscheinungen manches Tröstliche vor. Auf dem Gebiete materiellen Gedeihens hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten ungeheure Vorschritte gemacht, und wenn das geistige Leben der Nation gegenwärtig keine solchen Prachtblüten treibt, keine solchen Gedankenfrüchte voll ewiger Nahrungsfülle reift, wie es in der letzten Hälfte des vorigen und zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts entfaltet und gezeitigt hat, so ist doch die Verbreitung des Gesamtschatzes unserer Bildung in allen Volksklassen eine unendlich viel erweitertere und tiefere geworden. Das beste ist aber, daß die nationale Idee, seit der ruhmreichen Epoche der Befreiungskriege das teuerste Besitztum aller Guten, in immer weiteren Kreisen Wurzeln geschlagen hat, selbst in solchen, wo dafür früher gar kein Boden vorhanden zu sein schien. Deutschland ist denn doch schon seit lange etwas Besseres als ein »bloßer geographischer Begriff«. Wir haben angefangen, uns zu fühlen als ein zusammengehörendes, zu Glück und Größe befähigtes und berechtigtes Volk, und wenn die Zeit der Feuertaufe kommt, die uns zur Nation weihen soll – ich hoffe mit ganzer Seele, daß wir sie mit Ehren bestehen werden.Diese vor zwölf Jahren geäußerte Hoffnung ist schneller und glänzender in Erfüllung gegangen, als die kühnste Phantasie erwarten durfte. Die »Zeit der Feuertaufe« – und welcher Feuertaufe! – für die im Jungbrunnen der Bildung verjüngte und im Feuer der Vaterlandsliebe zusammengeschmiedete Nation ist gekommen, und die große Probe wurde so heldisch und herrlich bestanden, daß 1870 als das schönste Jahr, so recht als das Ruhm- und Glanzjahr der gesamten deutschen Geschichte dasteht. Zur Stunde, wo ich dieses schreibe, ist die nationale Einheit eine geschichtliche Tatsache. Möge aus dem gesunden Boden dieser Einheit unser Freiheitsbaum, die deutsche Riesenlinde, frisch und froh hervorwachsen und mit ihrem grünen Wipsel rauschen die Jahrhunderte der Zukunft entlang! (Anmerkung zur Ausgabe von 1871)

Freilich hatte ich zunächst keine Zeit, meine Blicke mit sonderlicher Aufmerksamkeit auf das Allgemeine und Öffentliche zu richten. Privatangelegenheiten, die ich um Isoldes willen als meine eigenen ansehen mußte, nahmen meine Zeit, Sorge und Arbeit vollauf in Anspruch.

Isolde hatte nicht erst nötig, mir zu sagen, wie sehr es ihr Wunsch sei, daß keine Unehre an dem Namen haften bleibe, welchen ihr Vater getragen und welchen sie mir zubrachte. War ich doch selber noch keineswegs ein so »enorm praktischer« Mensch geworden, daß es mir hätte gleichgültig sein können, ob die Gläubiger des unglücklichen Berthold ganz oder teilweife um ihr Recht kämen. Aber ihnen zu ihrem Rechte zu verhelfen, war schwierig, sehr schwierig. Denn es zeigte sich, daß Schloß Rothenfluh und der dazu gehörende, noch immer sehr bedeutende Güterkomplex zwei- und dreifach verschrieben und verpfändet waren. Es galt, nachdem die Schuldtitel endlich festgestellt waren, ein Abkommen mit den Gläubigern zu treffen, und zwar im Namen Isoldes, die ich beredete, den Versuch zu machen, das Gut selber zu übernehmen. Ich machte eine Berechnung, wie hoch sich ungefähr die Auslösungssumme belaufen würde, kam aber zu einem niederschlagenden Resultat. Denn wenn ich auch mein Erworbenes zusammennahm, wenn ich den Wertbetrag vom Lindachhof, welchen mir meine Verlobte zur Verfügung stellte, dazu tat, wenn ich sogar das bescheidene Vermögen meiner Schwester Hildegard, welches mir die Gute zu dem in Frage stehenden Zweck überließ, hinzurechnete, so erreichten diese Mittel doch noch lange nicht die Höhe der Schuldenmasse. Ich konnte den Gläubigern demnach nicht genug bieten und so beschloß eine Versammlung derselben die öffentliche Versteigerung des Gutes. Ich gab aber meinen Entschluß, Rothenfluh für Isolde zu retten, deshalb noch nicht auf. Wußte ich doch, wie das Herz der Geliebten an den Räumen hing, wo ihr Vater gelebt, ihre Mutter gestorben und ihre Wiege gestanden. Und als mein Vorsatz, zugleich mit der Neuigkeit meiner Verlobung mit Isolde, in der Gegend bekannt wurde, erfuhr ich, daß mein Vater wie der meiner Braut auch für ihre Kinder Freunde geworben. Denn von Kapitalisten und Gutsbesitzern, ja selbst von schlichten Bauern kamen mir verläßliche Anerbieten von Geld und Bürgschaftstellung zu. Ich schrieb auch an Herrn Bürger und setzte ihm die Sachlage und die mich bedrängenden Schwierigkeiten auseinander, erhielt aber zu meinem nicht geringen Leidwesen nur die wunderliche Antwort, es werde sich schon machen, ich sollte nur die Ohren steif halten.

Wir waren schon mitten im Winter, als ich eines Tages von Rothenfluh zur Stadt hinunterging, wo die Versteigerung stattfinden sollte. Als ich das städtische Rathaus betrat, fand ich bereits daselbst eine ziemlich große Anzahl von Kauflustigen vor, aber was mich nicht wenig überraschte, war die Anwesenheit Bürgers. Er erwiderte indes meine Begrüßungen und Fragen kurzangebundener als je und sagte zu allem nur: »Nachher, mein Bester, nachher. Haben jetzt zuvor das Geschäft da abzumachen – 's ist kla–ar.« Und doch sah der Mann so frisch aus und, wie mir vorkam, viel jünger, als ich ihn je gesehen. Im Augenblick, bevor die Auktion begann, wandte er sich an den die Verhandlung leitenden Beamten mit der Frage, wie hoch sich die gesamte auf dem Gut haftende Schuldenmasse belaufe, und als er die verlangte Auskunft erhalten, brummte er vor sich hin: »Gerade recht – ganz vortrefflich, rechne ich.«

Während der Versteigerung saß Bürger neben mir, und nach einer Weile waren wir beiden die einzigen Bieter. Aber immer überbot mich der Freund mit einem wahrhaft türkischen Gleichmut. Der Kopf wurde mir heiß, und während einer Pause flüsterte ich ihm zu:

»Seid Ihr denn ganz des Teufels? Ohne Euch hätte ich bereits das Gut in Händen.«

»Rechne, ich werde bieten bis zum Betrag der Schuldenmasse.«

»Wollt Ihr denn das Gut für Euch erwerben?«

»Ach, bewahre!«

»Ich meine: für die Firma?«

»Behüte!«

»Für wen denn?«

»Werdet es erfahren – 's ist kla–ar.«

In halber Verzweiflung begann ich wieder zu bieten, denn die Höhe der Angebote überstieg schon bei weitem die mir zur Verfügung stehenden Mittel.

Bürger überbot mich und dann wiederum und noch einmal. Ich aber durfte und konnte nun nicht mehr weiter gehen, denn falls mir das Gut zugeschlagen worden wäre, hätte ich die Bedingung, die Kaufsumme bar zu erlegen, nicht erfüllen können.

Der Freund erhielt den Zuschlag zu einem Preises welcher nur einige Tausende unter dem Betrag der Schuldenmasse blieb.

»Rechne, Ihr habt keine Ursache, so desperat auszusehen,« sagte Bürger, als ich mit verbissenem Ingrimm aufstand. »Müßten ja die Manichäer doch bezahlt werden – 's ist kla–ar.«

Er stand ebenfalls auf und sagte zu dem Beamten:

»Mein Herr, ich erlege nach Vorschrift den Kaufschilling bar.«

Damit öffnete er die Mappe, welche er unter dem Arme gehalten, und bedeckte den Tisch mit Banknoten.

»Mein werter Herr,« sagte der Beamte, nachdem er die sehr beträchtliche Summe überzählt hatte, »wen habe ich die Ehre als Ersteher des Freigutes Rothenfluh, so wie es steht und liegt, in das Versteigerungsprotokoll einzutragen?«

Bürger zwinkerte lustig mit den Augen, bewegte die Nasenflügel und versetzte:

»Rechne, Herrn Michel Hellmuth und Fräulein Isolde von Rothenfluh.«

Der Beamte schaute hoch auf, schrieb aber dann mechanisch, als Bürger ernsthaft mit dem Kopfe nickte.

»Aber um des Himmels willen –«

»Bah, bah,« unterbrach Bürger meinen angefangenen Satz. »Rechne, ist nicht der Ort hier zu Exklamationen und Expektorationen. Geschäft abgemacht und dann geschwatzt – 's ist kla–ar.«

Er wartete ruhig, bis der Beamte die nötigen Papiere ausgefertigt hatte, steckte mir dann dieselben ohne weiteres in die Brusttasche und zog mich in ein Nebenzimmer.

Hier drückte er mir mit Wärme die Hand und sagte:

»Rechne, schrieb Euch nicht, wollt' Euch überraschen, da Ihr ja noch ein halber Romantiker seid. Überraschungen poetisch, wißt Ihr? Hatte auch viel zu tun und obendrein allerlei angenehme Zerstreuungen... Hätte zwar der Hanns Bürger einen alten Freund auch nicht stecken lassen – rechne, Ihr glaubt das – bin aber doch nur als Mandatar meines – hm, meines Herrn Oberst Kippling hier – 's ist kla–ar.«

»Wie?«

»Rechne, ist so. Habt Ihr denn nie, aber auch gar nie davon läuten hören, daß vorzeiten die beiden Herren, Euer Vater und der Freiherr Bodo, zu gleichen Teilen mitsammen eine hübsche Summe in das Kipplingsche Geschäft gaben?«

Ich beantwortete diese Frage der Wahrheit gemäß mit nein, aber doch erwachte eine dunkle Erinnerung in mir, die Erinnerung an jenen Morgen, wo vor Jahren Berthold plötzlich zum Regiment in die Residenz verschickt wurde und der Freiherr mit meinem Vater über Geldgeschäfte gesprochen hatte.

»Die fragliche Summe,« fuhr Bürger fort, »ging verloren, in einem Bankerott, den der Herr Gottlieb Kippling nach dem Tode seines Schwagers und Kompagnons machte. Es ist lange her, und wollen wir also nicht mehr genau untersuchen, welche Bewandtnis es eigentlich mit jenem Bankerott hatte.«

»O, jetzt weiß ich, warum mein teurer Vater seinerzeit soviel Kummer hatte und warum er, der Edle, Vertrauensvolle, Plötzlich davon sprach, man müßte den Menschen mißtrauen.«

»Und er hat Euch also nie den Namen des Mannes genannt, durch welchen er sein Vermögen einbüßte?«

»Nie.«

»Das muß ein braver Mann gewesen sein! Er wollte nicht Haß in Eure junge Seele säen. Rechne, nobel das! ... Aber weiter im Text. Ihr wißt so gut und besser als ich, wie der Herr Oberst durch alle die Kalamitäten der letzten Zeit mitgenommen wurde. Lebt jetzt in Neapel und duselt so hin. Wird nie mehr der Alte werden. Als ich ihm nun neulich unter anderem auch von Euch und Euren Angelegenheiten schrieb, kam umgehend ein Brief, worin er die alte Schmiere von dem Bankerott aufrührte und mir befahl, sofort die betreffende Summe mit Zinsen und Zinseszinsen an Euch und Fräulein Isolde zurückzubezahlen. Er habe das ohnehin tun wollen, schrieb er. Der wunderlichste Zufall fügte es, daß das Geld fast netto so viel betrug, als die auf Rothenfluh haftenden Schulden ausmachten. Damit basta! ... Im übrigen läßt Euch meine Frau schön grüßen.«

»Eure Frau? Julie?«

»Rechne, dieselbige Julie, yes – 's ist kla–ar.«

»Ich sag' Euch, Bürger, das freut mich noch mehr als diese fast märchenhafte Erwerbung von Rothenfluh.«

»Rechne, Ihr wäret dessen fähig. Seid von jeher ein leidlich anständiger Mensch gewesen.«

»Aber wie kam denn das?«

»Kurios genug. Julie war seit der Katastrophe auf der roten Fluh ganz mächtig zu ihrem Vorteil verändert. Merkte es gleich, tat aber nicht so. Als Ihr nun fort waret, sah sie sich in ihrer Vereinzelung nach einem Freunde um, dem sie wie Euch vertrauen könnte. Da war denn der alte Hanns Bürger da, von dem auch Gritli, das arme Kind, welches übrigens in der Hut der Schwester jetzt recht schön und gut aufblüht, allmählich begriff, daß er im Grunde ein leidlich guter Kerl sei. Rechne, das Zutrauen Gritlis hat mir erst recht das Vertrauen Julies verschafft. Nun, um kurz zu sein, sollte eines Tages nach der Baustätte ins Bihltal hinauf, war mit Julie gerade allein im Zimmer und sagte da so von ungefähr zu ihr: ›Könntet mir wohl auch Eure Hand zum Abschied geben.‹ – ›Da,‹ sagte sie, und wie sie mir die Hand gibt, fügte sie mit einem schelmischen, aber guten Lächeln hinzu: ›Wollt Ihr sie?‹ – ›Und wie!‹ sag' ich. – ›Für immer?‹ fragte sie. – ›Für immer und noch für ein wenig länger,‹ sag' ich. – ›Da habt Ihr sie und mich dazu,‹ sagt sie. – ›Topp,‹ sag' ich, ›rechne, wollen die Ehestandskomödie mit bestem Humor mitsammen durchspielen.‹ – Drei Wochen darauf war Julie, nachdem ein merkwürdig gerührter Glückwunschbrief von dem Herrn Oberst eingelaufen, meine liebe, liebe Bürgerin. ... Das ist die ganze Schnurre.«

»Redet nicht von Schnurren, lieber Freund. Das Glück guckt Euch ja zu den Augen heraus, indem Ihr von Julie sprecht.«

»Rechne, wenn Ihr's durchaus so haben wollt, lieber Junge, so muß ich's schon sagen: ja, bin sehr glücklich! Julie ist über die Maßen liebenswürdig und liest mir jeden Wunsch aus den Augen. Seit ein paar Wochen vollends – na, genug; rechne, es wird seinerzeit ein Gevatterbrief in Rothenfluh einlaufen, verlaßt Euch darauf! ... Und jetzt, mit Verlaub, da Ihr ›Hanns im Glücke‹ gesehen, verlangt mich danach, meinerseits ›Michel im Glücke‹ zu sehen. Ihr müßt mich daher noch heute mit Eurer Braut bekanntmachen. Habe nämlich eine feierliche Mission an Fräulein Isolde, von wegen eines Kusses, welchen Euch zu schulden und an Eurem Hochzeitstage bezahlen zu wollen Julie bekennt. Schulden müssen bezahlt werden, seien es Geldschulden oder Kußschulden – 's ist kla–ar.«


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