Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

Keine Reisenovelle, aber doch eine Reisenovellette.

Wäre ich noch jung, wollte ich versuchen, hier einige Reisenovellen zu liefern, wie sie Mode waren zur Zeit, wo ich meine Studentenfahrten durch Deutschland und die Schweiz machte. Heutzutage, wo der Dampf die ungeheuersten Entfernungen zusammenschrumpfen läßt, wo demnach jeder reist oder gereist ist und wo sogar »Reisebilder«, aufgenommen auf einer Reise um die Erde, nur noch flüchtige Neugier erregen, ist das ganze Fach der Reisenovellistik Rokoko geworden. Ich behellige daher den Leser nicht ausführlich mit den kleinen Abenteuern eines »fahrenden Schülers« und mit den großen Gefühlen, welche mich überkamen, als ich auf Helgolands roter Klippe und auf der Kuppe des Faulhorns stand. Auch nicht mit den Ärgernissen des Zusammenstoßens meiner süddeutschen Viereckigkeit mit der norddeutschen Pfiffigkeit, noch endlich mit dem Hunger und dem Durst, welchen ich in der Metropole der deutschen Intelligenz an der Spree ausstand.

Heil dir, Hamburg, mit deinem gemütreichen Rostbraten und deinem soliden Rotwein! Es war nicht Mitleid, was mich nachmals mein Scherflein in deine Brandbettelbüchse werfen ließ, bewahre, sondern es war innigstes Dankgefühl, es war die Erinnerung an jene Stunde, wo ich mich in deinen gesegneten Mauern, frisch oder vielmehr sehr matt von Berlin gekommen, nach mehreren Wochen zum erstenmal wieder recht satt aß. So etwas vergißt ein fühlendes Gemüt nicht, so wenig, als ein Binnenmensch aus dem Süden Deutschlands je den Moment vergißt, wo er bei Kuxhaven zum erstenmal das Meer sah, oder auch den Moment, wo er, etliche Seemeilen über Kuxhaven draußen, zum erstenmal mit jener Dame aus Helheim, genannt Seekrankheit, Bekanntschaft machte.

Was die Schweiz angeht, an diesem Orte nur dieses: eine Fahrt in einer Vollmondnacht auf dem Vierwaldstätter See zwischen Brunnen und dem Rütli, ein Sonnenaufgang auf dem Rigikulm, ein Sonnenuntergang auf der Wengernalp, ein Gang bei blauem Himmel über die zwischen den gloriosen Kolossen Finsteraarhorn, Lauteraarhorn, Schreckhorn und Wetterhorn gelagerten Gletschermassen, ein Blick in den Handeckschlund, wenn die Sonne im Zenit steht – das gehört mit zu dem Besten, was der Mensch überhaupt erleben kann.

So eine Alpenwanderung macht einem die Seele weit, licht und gesund. Das kleine Ich mit seinen wahren oder eingebildeten Schmerzen kann gegen die großen Eindrücke der Natur, die in schöpferischem Spiele zu dem Erhabensten das Lieblichste gesellt, nicht standhalten. Auch ich erfuhr das. Beim Beginne meiner Reise war meine Stimmung sehr werterisch gewesen, denn allfort mußt' ich daran denken, daß jetzt die Zeit gekommen sei, wo Isolde mit dem Grafen Zackstein sich verloben sollte. Der Gedanke wuchtete schwer auf mir. Aber droben in der Region, wo die Gletscherbäche singen, wurde die Last leichter und immer leichter. Und dann hatte ich auch ein kleines Abenteuer, dessen ich hier doch erwähnen muß.

Als ich das Haslital herab nach Meiringen kam, wimmelte das Gasthaus zum wilden Mann, wo ich einkehrte, nicht allein von jenen reisenden Teekesseln, welche »englisch lispeln«, sondern auch von einer ganzen Schar allerliebster Jüngferchen, den Mitgliedern eines Mädchenpensionats aus dem »Welschland«. Das flatterte und flüsterte die Treppen auf und ab wie eine verstörte Taubenschar, um nicht zu sagen, wie eine verstörte Hühnergemeinde. Der Herr Institutsdirekter, ein kurzer, dicker Mann mit einer ungeheuren bis zu den Ohren hinaufreichenden weißen Halsbinde, und die Frau Direktrice, eine lange, magere Dame, in deren ältliche Züge die pädagogische Essigsäure eingefroren war, verhandelten eifrig mit dem Wirt, wobei der dicke, kurze Herr eine wahrhaft zappelnde Unruhe an den Tag legte, während die Dame eine majestätische Fassung bewies.

Bei dieser Gelegenheit rechtfertigte sich zuerst meines Vaters Meinung, daß die Kenntnis des französischen »Genäsels« doch auch zu etwas gut sei, denn ich erfuhr dadurch, daß Monsisur le directeur und Madame la directrice in großen Sorgen seien um eins ihrer Pensionatsvögelchen, welches sich zwischen Thun und Meiringen unbegreiflicherweise von der wohlgehüteten Schar verloren habe. Bereits waren Boten nach verschiedenen Richtungen ausgesandt worden, aber keinem derselben war es gelungen, die verflatterte »Demoiselle Julie« aufzufinden und unter die mütterlichen Fittiche von Madame zurückzubringen. Mit verschiedenen schweren Seufzern setzte sich endlich der Mann mit der weißen Halsbinde zum Abendessen. »Es hat nicht viel zu bedeuten, mon cher,« hörte ich seine majestätische Gattin zu ihm sagen – »es ist nur wieder einer der gewöhnlichen wilden Hummelsstreiche des Mädchens.«

Ich dachte nicht mehr an diese Geschichte, als ich folgenden Tages von Meiringen nach Brienz schlenderte und von da über den See zum Gießbach hinüberfuhr. Aber die Verflatterung des Pensionatsvogels kam mir wieder zu Sinne, als ich, an den prächtigen Wasserfällen hinaufgehend, auf dem Steg, welcher über einem der oberen hängt, ein junges Mädchen stehen sah, das mir, als ich den Steg betrat, aus schwarzen Augen voll Feuers einen forschenden Blick entgegensandte.

Die junge Dame trug ihren eleganten Reiseanzug mit einer Art koketter Lässigkeit. In der Linken hielt sie eine kleine Reisetasche mit zierlicher Stickerei, und mit der Rechten stützte sie sich leicht auf einen langen Alpstock. Unter einem braunen Strohhut mit breitem Rande ringelte sich reiches, lichtbraunes Haar, zu welchem dunkle, kühngeschwungene Brauen einen reizenden Gegensatz bildeten, auf Nacken und Schultern nieder. Die Gesichtszüge waren fein und regelmäßig, nur stimmte der etwas zu große Mund nicht ganz zu ihnen. Aber die aufgeworfenen Lippen blühten in einem Rot, welches dem Feuer der Augen entsprach. Hielt man dazu noch die Formen der mittelgroßen, beweglichen Gestalt, Formen, welche die Backfischeckigkeit schon vollständig überwunden hatten und zu blühender fast üppiger Rundung gediehen waren, so bekam man den Eindruck schöner Sinnlichkeit.

Ich gestehe, dieser Eindruck auf mich war ein bedeutender, fast heftiger. Zu jener Stunde hab' ich nicht an Isolde gedacht.

»Das ist sehr schön!« sagte ich, höflich meinen Schlapphut lüftend und in die silbernen Strudel niederblickend.

»Sehr schön,« erwiderte das Dämchen, einen Schritt weiter von mir wegrückend und mich abermals unter ihrem Hute hervor von oben bis unten musternd.

»Ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein Julie zu sprechen?« fragte ich, entschlossen, ein Gespräch mit der einsamen Schönen anzuknüpfen.

»Mit Fräulein Julie?« entgegnete sie, mit leichtem Schrecken noch einen Schritt zurückweichend.

»Ja,« sagte ich, »aber mein Fräulein, ich befasse mich gar nicht damit, entflogene Vögel einzufangen.«

Sie lachte fröhlich und kam wieder einen Schritt näher. Das Rauschen des Wasserfalls ließ es ja nicht zu, daß man sich aus der Ferne unterhielt.

»Ah,« sagte sie, »Sie sind unserer Herde von Lämmchen begegnet, mein Herr, und der alten Schäferin und dem dicken Schäfer –«

»Dessen ungeheuerliche weiße Halsbinde jetzt mit Tränen um das verlorene Lämmchen benetzt sein mag.«

»Tut nichts, das erspart ihr eine Wäsche. Übrigens, da Sie kein Vogelfänger sind, so kann ich Ihnen schon sagen, daß ich der entflohene Vogel bin. Es war gar zu langweilig, dieses reisende Pensionat. Bei jeder schönen Stelle las uns Monsieur den betreffenden Abschnitt aus dem Guide vor und sprach Madame ein langes Gebet. Es war wirklich zu ennuyant. Ich muß ohnehin noch einen ganzen schrecklichen Winter all den Pensionatsschnickschnack mitmachen.«

»Das bedaure ich, mein Fräulein.«

»Da haben Sie recht. Es ist abscheulich. Aber wenn man einmal aus dem langweiligen Nest heraus und in den Bergen und noch dazu sechzehn Jahre alt ist, so mag man sich doch nicht mehr wie ein Küchlein von der Gluckhenne herumführen lassen. So eine Bemutterung ist unausstehlich.«

»Allerdings! Aber ich finde diese Bemutterung doch höchst preiswürdig.«

»Wie, mein Herr?«

»Ja, mein Fräulein. Wäre besagte Gluckhennenschaft nicht vorhanden gewesen, hätten Sie keinen Überdruß daran empfinden können. Hätten Sie keinen Überdruß empfunden, wären Sie nicht entflogen. Wären Sie nicht entflogen, hätte ich nicht das Glück gehabt, Ihre Bekanntschaft zu machen – quod erat demonstrandum. Sie werden zugeben, daß das eine tadellos logische Schlußfolgerung ist.«

Sie lachte wieder und fragte:

»Sie sind wohl Student, mein Herr?«

Ich bejahte und war froh, daß sie nicht nach der Fakultät fragte, denn ich fürchte, ich hätte meine Priesterschaft in spe schmählich verleugnet.

Fräulein Julie sah mich wieder forschend an, und mir kam vor, als würden ihre schwarzen Augen immer größer und feuerwerfender. Ihre Miene war auch gar keine mißfällige – unter uns, lieber Leser, es tut das meiner Eitelkeit noch jetzt wohl – als sie dann sagte:

»Darf ich wissen, mein Herr, wohin Sie vom Gießbach aus Ihren Alpstock setzen werden?«

»Nach dem Faulhorn zu, wenn es Ihnen so recht ist, Fräulein.«

»Wenn es mir recht ist? Wie galant! Aber in der Tat, es ist mir recht, ich will auch nach dem Faulhorn.«

»Glückauf, und gesegnet sei mir dieser Tag! Aber, mein Fräulein, man sagte mir in Brienz, der Weg vom Gießbach da hinauf sei im einzelnen nicht ganz ungefährlich und im ganzen sehr beschwerlich.«

»Was tut das? Ich will einmal auf das Faulhorn, und gerade hier will ich hinauf. Weil der alte Puter, der statt des roten ein weißes Halstuch trägt, und die alte fromme Gluckhenne mit ihren Küchlein durchaus nicht auf das Faulhorn wollten, hauptsächlich deshalb hab' ich mich in Interlaken von der Herde verloren und bin über Bönnigen und Iseltwald hierher gekommen.«

»Aber der beschwerliche und gefährliche Weg?«

»Fürchten Sie sich davor?«

»Ich? Bah! Das heißt, ich fürchte mich doch davor – um Ihretwillen.«

»O, das können Sie sich ersparen. Ich weiß nicht, was Schwindel ist, und bin sehr gut zu Fuß.«

Wie sie das sagte, kam, wie zur Bekräftigung, ein allerliebstes Füßchen unter dem Saum ihres Kleides hervor. Dasselbe sah zwar in seinem merkwürdig schmalen Zeugstiefelchen nicht sehr bergpfadmäßig aus, aber – es war allerliebst. Während ich mir darüber allerlei wunderliche Gedanken machte, sagte Fräulein Julie:

»Ich begreife gar nicht, warum ich nicht schon vor acht oder zehn Tagen dem reisenden Pensionat entsprungen bin. Es wandert sich so angenehm einsam –«

»Aber doch noch angenehmer zweisam.«

»Meinen Sie? Hm, da kommt es doch wohl darauf an, wer mit einem geht. Lassen Sie mich, bevor ich mich entschließe, zweisam da hinaufzugehen, Ihnen doch einmal recht ins Auge sehen.«

»Kurioser Einfall,« dachte ich. Wäre ich damals schon so alt gewesen, wie ich jetzt bin, würde ich das Gebaren von Fräulein Julie für ein sechzehnjähriges Mädchen vielleicht etwas zu – wie soll ich sagen? – etwas zu emanzipiert gefunden haben. Da ich aber selber noch ein ziemlich naiver Bursch war, hatte ich wohl das Recht, es kostbar naiv zu finden. Isolde freilich würde – aber ich dachte ja damals nicht an Isolde.

Als mir Fräulein Julie recht ins Auge sehen wollte, ging sie schon vor mir her, den steilen, schmalen, feuchten Pfad durch das Ahorngesträuch hinauf.

Sie blieb jetzt stehen und kehrte sich um, und da ich etwas tiefer stand, befand sich ihr Gesicht mit dem meinigen in gleicher Linie.

So sah sie mich ein paar Sekunden an, während die verführendste Schelmerei in ihren Mundwinkeln kicherte und ihre halbgeöffneten Lippen kaum eine Spanne weit von den meinigen so verlockend rot blühten.

Seltsam, in diesem kritischen Augenblick fiel mir plötzlich ein, irgendwo von einer Schönen gelesen zu haben, sie habe einen falschen Zug um den Mund gehabt, etwas wie den Schatten des Schwänzleins einer forthuschenden Eidechse.

Das war doch ein recht dummer Eidechsengedanke. Er ging aber so schnell, wie er gekommen.

»Nun,« sagte Fräulein Julie, »ich denke, ich kann mit Ihnen zweisam nach dem Faulhorn gehen.«

So sprechend, tippte sie mir mit dem Zeigefinger ihrer Rechten, von welcher sie den Handschuh gezogen, leicht auf die Schulter und wandte sich zum Weitergehen.

Aber in diesem Augenblick wich ihr ein loser Stein unter dem Fuße, sie glitt aus und wankte, und ich – nun, bei allen Göttern! ich wäre kein flotter Student, sondern ein Tropf gewesen, wenn ich nicht, indem ich sie vor den Folgen dieses kleinen Unfalls bewahrte, meinen Arm um ihren Leib geschlungen und ihr bei dieser Gelegenheit einen Kuß geraubt hätte.

Denke ich jetzt an diesen Kuß zurück, will mir fast scheinen, daß Fräulein Julies rote Lippen schon gewußt hätten, was Küssen sei.

Sie fuhr zurück, aber nicht zu jach und heftig, schlug mir mit dem Handschuh auf den Mund, aber so, daß es gar nicht weh tat, und sagte lachend:

»Ich sehe, wenn man zweisam geht, muß man sich vor den losen Steinen sehr in acht nehmen.«

»O, gar nicht!«

»Doch, doch ... und ... wissen Sie denn nicht, daß man den Bergführern ihren Lohn erst auszahlt, wenn sie einen glücklich an Ort und Stelle gebracht haben?«

Der Hut war ihr in den Nacken geglitten, ein Sonnenstrahl fiel durch die Ahornblätter auf ihr gerötetes Gesicht – es war reizend!

»Ich will ein treuer Führer sein, Fräulein Julie,« sagte ich.

»Das wollen wir sehen,« versetzte sie, elastischen Schrittes bergan steigend.

Nach einer Weile sagte sie, mir über die Schultern einen raschen Blick zurückwerfend, der gar nicht böse war:

»Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen. Wie heißen Sie doch?«

»Michel Hellmuth.«

»Hellmuth? Nun, an Mut scheint es Ihnen gerade nicht zu fehlen. Aber wie kommen Sie denn zu so einem – so einem populären Vornamen?«

»Mein Vater gab mir denselben, und er bildet sich viel darauf ein. Sie müssen wissen, Michel bedeutet nach seiner Meinung der Starke.«

»Nun, da kann man sich den Namen schon gefallen lassen. Aber darf ich fragen – doch nein, wissen Sie was? Wir wollen uns gar nicht gegenseitig weiter ausfragen. Wir sind ja nicht zwei alte Tanten. Unsere Bekanntschaft, die doch nur eine flüchtige sein wird, behält so die romantische Beleuchtung, in welcher sie mir erscheint. Man muß dem Augenblick zu leben verstehen. Oder nicht?«

»Gewiß, aber ich wünsche, der Augenblick währte eine Ewigkeit.«

»Schmeicheln Sie? Das sollte ein Michel, das heißt ein Starker, nicht tun.«

»Ich schmeichle nicht. Aber wenn ich Sie so vor mir herschweben sehe, möchte ich –«

»Was?«

»Daß alle die Steine da auf unserem Wege recht lose wären.«

»Gott tröste Sie!«

»Ich wollte lieber, es tröstete mich eine gewisse Göttin.«

»Wirklich? Sehen Sie, wär' ich nun eine alte Jungfer, so müßte ich tun, als verstände ich Sie nicht. So aber sage ich nur, daß ich mythologische Komplimente sehr du mauvais goût finde. Also keines mehr von dieser Sorte oder noch besser, überhaupt keines mehr. Ich bin froh, daß mir einmal für ein paar Tage alle die langweiligen Schnörkel der Konvenienz aus den Augen sind. Mir ist froh und frei zumute. Ich bin ganz glücklich, und was mein Vergnügen erhöht, ist, daran zu denken, was Madame la poussinière dazu sagen würde, wenn sie wüßte, daß ich zu dieser Stunde nicht einsam, sondern vielmehr zweisam auf das Faulhorn steige. Ciel! was würde das für ein Augenverdrehen geben, wenn sie gar wüßte –«

»Was für lose Steine es auf dem Wege zum Faulhorn gibt?«

»Ja, und was für lose Studenten, die den gefährlichen Namen Michel führen und –«

»Und?«

»Nicht schüchterner sind, als sie sein sollten.«

So plauderten wir vergnüglich, und der schöne Frühherbstnachmittag verging mir wie im Traum. An den gefährlichen Stellen des Weges verschmähte Fräulein Julie meinen stützenden Arm nicht, und ich hatte sogar die Ehre, ihre anmutige Last über eine breite Runse, in welcher ein wildes Bergwasser schäumte, hinwegzutragen. Da ich mich selbst bei dieser verführerischen Partie bescheiden benahm, wurde die junge Schöne ganz zutraulich, und so kamen wir als die besten Freunde von der Welt auf der berühmten Bergkuppe an, gerade noch zeitig genug, um das glorreiche Schauspiel mit anzusehen, wie die untergehende Sonne ihren Purpur über die Schneekolosse des Berner Oberlandes hinströmte.

Am folgenden Morgen hatte ich die Ehre, Fräulein Julie zum prächtigen Gletscher von Rosenlaui hinab und von da weiter nach Grindelwald zu begleiten. Am dritten Tage stiegen wir mitsammen die Berghänge zur Wengernalp hinauf. Fräulein Julie war voll Scherz und Lachen, voll Witz und Mutwillen. Ob auch mehr oder weniger Koketterie mit unterlief? Ich weiß es nicht; aber was ich weiß, ist, daß es sich sehr angenehm in dieser Gesellschaft reiste – sehr!

Wir hatten den Bergkamm erreicht, welcher das Grindelwaldner Talgebiet von dem Lauterbrunner scheidet und deshalb auch den passenden Namen Scheideck führt. Dort, vom Fuße der riesigen Felspyramide des Eigers aus, erblickst du plötzlich die Jungfrau in der ganzen Herrlichkeit ihrer unvergleichlichen Formen. Der Mönch steht düster daneben – der arme Bursch! Er kann nicht über die eisige Kluft hinüber, die ihn von der Spröden trennt, und die Lawinen, welche von dem Haupte der Riesenjungfrau über ihren blendenden Busen herabrollen, klingen wie wildes Hohngelächter.

Fräulein Julie wollte diese Metapher nicht ganz gelten lassen.

»Die Lawinen erscheinen mir gar nicht so lächerlich,« sagte sie, »und ich ziehe es vor, dieselben für Tränenströme zu halten, welche die arme Jungfrau vergießt, aus Verdruß über die mönchische Unbehilflichkeit und Unbeweglichkeit ihres Freiers.«

Ich hatte keine Zeit, das Dilemma zu untersuchen, ob diese Bemerkung wörtlich auf Mönch und Jungfrau zu beziehen oder aber parabolisch zu nehmen sei, denn im nämlichen Augenblick rief meine schöne Reisegefährtin aus:

»Mon dieu, sehen Sie da unten das bunte Gewimmel von Strohhüten und Perkalkleidern? Es ist die Gluckhenne mit ihrem Puter und allen den frommen Küchlein – o Schmerz!«

Wir waren nämlich schon eine gute Strecke die Alm abwärts gegangen, welche sich bis zu dem Trümletental am Fuße der Jungfrau hinabzieht. Ungefähr in der Mitte der sanftgelegenen, welligen Fläche liegt das Gasthaus zur Wengernalp, in dessen Räumen die Sommermonate über tagtäglich alle Sprachen Europas ertönen. Auf der Matte vor dem Hause waren Scharen von Reisenden, Führern und Pferden gelagert; aber sehr abseits von den anderen erblickte man ein dicht zusammengedrängtes frauenzimmerliches Häuflein, welches in der Tat schon von weitem einem reisenden Mädchenpensionat sehr ähnelte.

»Wollen wir umkehren, Fräulein?« fragte ich.

»Ah, Sie sind also meiner Gesellschaft noch nicht müde?« entgegnete sie.

»Ach nein!«

»Wie schmachtend Sie das sagen! Bitte, keine Sentimentalität! Das empfindsame Wesen ist mir zuwider. Lassen Sie uns so munter scheiden, wie wir zusammen gereist sind.«

»Aber müssen wir denn schon scheiden?«

»Ja. Ich habe nun drei Tage in der Freiheit gelebt und will mir einstweilen daran genügen lassen. Aller guten Dinge sind drei, wie Sie wissen. Aber tun Sie mir den Gefallen und erzählen Sie dem Puter irgend eine gute Schnurre, welche unser Beisammensein erklären soll – nicht zu meiner Entschuldigung, ich bedarf keiner solchen – aber zum Ärger der Gluckhenne.«

»Gut, ich will mein Möglichstes tun; aber –«

»Was aber?«

»Der mir in Aussicht gestellte Führerlohn –«

»Garstiger Egoist!«

Der Blick, welcher dieses Scheltwort begleitete, hob seine Wirkung auf. Zudem war keine Zeit zu verlieren – wir befanden uns gerade in einer schmalen, von einem Bache durchströmten Eintiefung des Terrains – sozusagen, für einen Augenblick von der Welt abgeschlossen – ich war auch weder so unbeweglich noch so unbehilflich wie der Mönch da drüben und – kurz, ich erhielt meinen Führersold in zwei Küssen ausbezahlt, die nicht gerade als geraubte qualifiziert werden konnten.

Julie schien für einen Moment fast weich zu werden.

»Sehen Sie,« sagte sie, indem ihre schöne Hand, welche ich an mein Herz gezogen hatte, den Druck der meinigen erwiderte, »sehen Sie, mein Freund, Berge kommen nicht zusammen, wohl aber Menschen –«

»Und Menschenlippen, ja ... und aller guten Dinge sind drei, wie Sie wissen.«

Ich zog sie an mich, und sie schlang ihre Arme um meinen Nacken und küßte mich lang und heiß.

Dann trat sie zurück, strich sich die Locken aus der Stirne, band ihren Hut fest, nahm ihren Alpstock auf und schritt den Rain hinan mit den Worten:

»So, jetzt tapfer dem Feind entgegen!«

Einige Minuten später schallte uns die Matte herauf in allen möglichen Backfischtonarten der Ruf entgegen: »Demoiselle Julie! Demoiselle Julie!« und hinterdrein kam das dünne »Mou dieu!« von Madame und das dicke »Mais – mais« von Monsieur.

Dieses Reiseabenteuer sollte nicht ohne bedeutenden Einfluß auf mein späteres Leben bleiben. Damals aber, als ich mich auf der Wengernalp von Julie trennte, fühlte ich nur, daß die schwarzen Augen meiner schönen Reisegenossin eine Flamme in mir entzündet hatten, die das Vestafeuer meiner ersten Liebe zu ersticken drohte. Wenn ich an Isolde dachte, glühte in meiner Seele heiße Scham. Ich glaubte oft ihre keuschen, süßen Augen mit stillem Vorwurf auf mir ruhen zu fühlen. Aber sie heiratet ja den Grafen Zackstein, brummte ich damals wohl vor mich hin, wie um mich vor mir selbst zu entschuldigen.

Diese sophistische Entschuldigung sollte sich bei meiner Rückkehr in die Universitätsstadt als gänzlich unhaltbar erweisen. Ich fand Briefe vor, welche unter anderem aussagten, Isolde sei nach Rothenfluh zurückgekehrt, nachdem sie den Grafen entschieden ausgeschlagen. Meine Schwester, welche mir dieses schrieb, mußte Kummer haben, der Ton ihres Briefes war so traurig, und während sie sonst immer so viel von Berthold schrieb, sagte sie jetzt nur, derselbe habe einen langen Urlaub genommen, um eine Tour durch Frankreich und Italien zu machen. Ganz unten an Hildegards Brief standen, von Isoldes Hand geschrieben, die Worte: »Ich grüße Dich!«

Sie entzückten mich und bereiteten mir zugleich bitteren Schmerz. In einem und demselben Augenblick verwünschte ich jene drei Tage meiner Schweizerreise und wünschte sie doch wieder mit heimlicher Sehnsucht zurück. Oft setzte ich mich hin, um Isolde mein Abenteuer brieflich zu beichten, aber eine unüberwindliche Scheu vereitelte stets diese Absicht. In Stunden, wo der Humor über die unklare Gärung meiner Gefühle triumphierte, kam ich mir vor wie Buridans Esel, nur mit dem Unterschied, daß statt der bekannten Heubündel zu meiner Rechten ein schöner Stern stand, zu meiner Linken eine Blume von tropischer Farbenpracht und berauschendem Duft. Und am Ende ließ mich dann der glückliche Leichtsinn der Jugend zu mir selber sagen: Bah, auch die exotische Blume, Julia regia, ist ja nicht für dich. Wer weiß, wo sie jetzt blüht und für wen sie jetzt duftet! Und was den Stern betrifft, o –

Die Sterne die begehrt man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht,
Und mit Entzücken blickt man auf
In jeder heitern Nacht.


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