Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel.

Ein Frühstück bei Herrn Bürger. – Deutsche und Schweizer. – Herr Egli, der »Krakeeler«. – Wie Herr Bürger vom polnischen Schwindel kuriert wurde. – Ein Fabrikler und das schöne Gritli. – Lutherischer Text zu einer Sonntagspredigt.

Man konnte es der Art und Weise, wie Herr Bürger logiert und eingerichtet war, leicht anmerken, daß er im Hause Kippling einen großen Stand hatte. Das Gemach, in welches er Herrn Egli und mich zum Frühstück geladen, war sein Empfangszimmer, das auf das mannigfaltigste mit den Schätzen und Kuriositäten ausgeschmückt war, welche Herr Bürger aus dem Orient und aus Amerika mit heimgebracht hatte. Es sah aus wie ein Museum, aber wie ein mit außerordentlichem Geschmack geordnetes Museum, das mit einer gewissen wilden Fremdartigkeit die raffinierteste Bequemlichkeit verband. Zur Rechten sah man durch eine halboffenstehende Türe in ein Bibliothekzimmer hinein, dessen zierlich gearbeitete Mahagonischränke mehrere tausende prächtig gebundener Bücher enthielten. Die Zwischenräume waren mit den Büsten großer Dichter und Denker ausgefüllt. Hier erinnerte nichts, aber auch gar nichts an den Kaufmann, es müßte denn eine Kolossalbüste Fouriers gewesen sein, welche auf einem altarartigen Sockel gerade der Türe gegenüber die Hauptwand schmückte. Der Prophet des utilitarischen Evangeliums der Assoziation war ja auch Buchhalter gewesen. Zur Linken ließ eine zurückgeschlagene Gardine von schwerer meergrüner Seide in ein wahrhaft sybaritischem Luxus ausgestattetes Schlafkabinett blicken. Der ganzen Wohnung sah man an, daß es die eines gebildeten Lebemannes war, welcher die Welt nimmt, wie sie ist, und sich scheinbar um weiter nichts sorgt, als sich in dieser wirklichen Welt möglichst bequem einzurichten.

Auch an jenem Morgen, wie Herr Bürger dasaß oder vielmehr dalag, in seinem persischen Schlafrock auf dem schwellenden Diwan, seinen duftenden Mokka schlürfend und aus dem Bernsteinknopf seines Tschibuks den duftenden Rauch der Tabaksstaude von Latakia blasend, trug seine ganze Erscheinung den angedeuteten Charakter. Daß er tiefer Gefühle, treuester Auhänglichkeit, ja sogar, er, der sich als einen ausgeprägten Egoisten und Blasierten zu geben liebte, einer mächtigen Leidenschaft fähig, daß er einer jener seltenen Menschen sei, die viel sorgfältiger ihre großen Eigenschaften als ihre kleinen, viel ängstlicher ihre Tugenden als ihre Fehler zu verstecken suchen, erfuhr ich erst später.

Für jetzt konnte ich bloß bemerken, daß er sich gegen mich liebenswürdig benahm; aber diese Liebenswürdigkeit, verglichen mit der Gemessenheit, die er bei unserem ersten Zusammentreffen im Hause Kippling gezeigt hatte, war so, daß ich hoffen durfte, er könnte mein Freund werden. Und er wurde es, in kürzerer Zeit, als ich erwarten konnte. Zu seinen mancherlei Eigenheiten gehörte auch die, daß er nicht selten im Lichte eines entschiedenen Pessimisten und Menschenfeindes zu erscheinen liebte. Bei einer passenden Gelegenheit ging ich ihm in der Folge dieser Laune wegen stark zu Leibe und sagte ihm, er täusche mit dieser Maske am allerwenigsten mich, mit dem er sich ja viel schneller und fester befreundet habe, als von einem Menschenfeind billig zu erwarten gewesen wäre. »Eure Logik hinkt, mein Guter,« gab er zur Antwort, »hinkt sehr – 's ist kla–ar. Ich verabscheue das Menschengesindel, und wenn ich mit Euch eine Ausnahme mache, Euch sozusagen liebte, so beweist das nur, daß ich Euch nicht zum Gesindel rechne. Und wißt Ihr, warum? Weil Ihr nicht zu dem gemeinen, schweinischen Haufen gehört, auf dem mit Fug und Recht jeder herumtrampelt, der Witz oder Macht genug dazu hat. Ihr seid ein anständiger Mensch, Ihr; denn Ihr habt kleine Hände und kleine Füße – 's ist kla–ar.« – »Welche tolle Marotte!« rief ich aus, aber Herr Bürger blieb dabei und hielt mir höchst ernsthaft eine von boshaftem Witz sprudelnde Vorlesung über die angegebenen Kennzeichen dessen, was er – Notabene, er selbst hatte eine sehr schöne Hand und einen zierlichen Fuß – die »noblere Rasse« oder die »Menschheit im engeren Sinne« nannte.

Herr Bürger war Schweizer von Geburt, und er war einer der wenigen, sehr wenigen von allen Schweizern, die ich zu kennen das Glück hatte, deren Augen kosmopolitisch zu blicken verstanden. Ich habe sonst unter den Schweizern viele, sehr viele treffliche Männer gekannt, Ehrenmänner im besten Sinne des Wortes. Aber zwischen ihrer spezifisch schweizerischen Anschauung und unserer deutschen, welche »die Sache der Menschheit als die eigene betrachtet« und betrachtet wissen will, gibt es kein rechtes Verständnis. Es mag sein, daß die Schweizer in ihrer Art recht haben, ganz recht, wenn sie sich, aller weltbürgerlichen Politik entschieden abhold, rein praktisch geschäftsmäßig darauf beschränken, ohne alle prinzipielle Skrupel für ihr eigenes Beste und nur für dieses zu sorgen. Am Ende bedingt schon die geographische Lage ihres Landes und dessen politisch soziale Einrichtung diese Praxis. Außerdem können sie uns mit Grund darauf verweisen, daß wir es mit unseren idealen Anschauungen, mit unserer weltweiten Sympathie und weltbürgerlichen Zerfahrenheit eben nur zur politischen Nullität gebracht hatten und lange Zeit hindurch nicht einmal etwas vorstellten, während wir doch alles sein konnten, sobald wir unsere nationalen Tugenden zur politischen Aktion tatkräftig zusammenfaßten. Aber so berechtigt an und für sich die etwas engherzig praktische Denkweise der Schweizer sein mag, so liegt in ihr etwas, was einen widerwärtig berührt, auch wenn man keineswegs die lächerlich törichte, in der Bitterkeit des Exils in Flüchtlingsköpfen zur fixen Idee ausgebildete Ansicht teilt, die Schweiz sei solidarisch verpflichtet, nicht nur mit allen demokratischen Regungen und Strebungen in Europa zu sympathisieren, sondern dieselben auch tatsächlich zu unterstützen... Herr Hans Bürger war, wie gesagt, ausnahmsweise ein kosmopolitischer Schweizer, und seine Vorurteilslosigkeit ging so weit, daß er sich nicht selten die galligsten Ausfälle auf sein Heimatland erlaubte. Er hatte in seinen frühesten Mannesjahren unter den Liberalen eine Rolle gespielt, sich aber längst von seiner Partei zurückgezogen, wenn diese, welche im Verlaufe der Zeit ihre Ansichten bekanntlich bedeutend modifizierte, überhaupt noch existierte. Liberale und Konservative erachtete er gleichermaßen; er nannte jene Hasen mit acht Füßen und diese Esel mit vier Ohren; aber in seinem Herzen glühte heimlich ein roter Haß gegen alle Despotie, gegen allen Knechtssinn, und nicht immer gelang es ihm, diesen Haß dadurch zu verbergen, daß er von dem gedanken- und urteilslosen, feigen und feilen Haufen, wie er das Volk schalt, in solchen und noch viel herberen Ausdrücken sprach, wie nur der wildeste Aristokrat sie im Munde führen mag.

Über Herrn Egli, den Kassierer, habe ich nur wenig zu sagen, da er in keiner Weise in meine Geschichte eingreift. Er war ein stiller Mann schon bei seinen Lebzeiten, und er befolgte streng das evangelische Gebot: »Eure Rede sei ja, ja, oder nein, nein.« Von außerordentlicher Gutmütigkeit und im Benehmen sehr artig, besaß er eine Schweigsamkeit, welche ihm auf dem Kontor und in den Magazinen das Beiwort »der Krakeeler« eingetragen hatte. Ich habe in der Tat nie einen beharrlicher schweigsamen Menschen gesehen. Dabei aber war er keineswegs ungesellig und fehlte nie bei den sonntäglichen Ausflügen, welche die Herren, das heißt die Diener der Firma Gottlieb Kippling nicht selten mitsammen machten. Da saß er dann, »der Kassierer gewordene Genius des Schweigens«, wie ihn Herr Kambli, der große »Warenprober« der Firma, emphatisch titulierte, und lächelte gutmütig, aber leise, leise zu den Späßen, die im Kreise umgingen, und war, wie Herr Kambli sich ausdrückte, still in sich hinein vergnügt wie ein Maikäfer. Wenn dann der Gute einen ganzen langen Nachmittag oder Abend hindurch keine Silbe gesprochen hatte, so rief ihm Herr Kambli, der Witzbold der Firma, wohl plötzlich über den Tisch hinüber zu: »Herr Egli, verführen Sie doch um's Himmels willen keinen so kaibischen Lärm!« und der »Krakeeler« lächelte still dazu. Das mysteriöse Wort »kaibisch« spielt, beiläufig bemerkt, dortzulande in der Umgangssprache eine große Rolle. Es wird im allerschlimmsten und im allerbesten Sinne gebraucht. In letzterer Richtung führe ich nur als Beispiel an, daß der mehrerwähnte Herr Kambli, wenn wir von unseren sonntäglichen »Suiten« heimkehrten, beim Gutenachtwünschen regelmäßig zu sagen pflegte: »Heute hat sich die Firma Gottlieb Kippling doch wieder kaibisch lustig gemacht!«

Zu unserem Frühstück zurückzukehren, so erinnere ich mich noch recht deutlich, daß mir bei dieser Gelegenheit Herr Bürger in leichter Gesprächsform sehr dankenswerte Wünsche und Nachweise in betreff der Obliegenheiten gab, welche ich kommenden Tages übernehmen sollte. Weniger deutlich ist mir erinnerlich, wie dann die Rede auf die politischen Zustände des Landes und von diesen auf die europäischen kam, welche Herr Bürger vom pessimistischen Standpunkt aus beleuchtete. Ich habe von den bezüglichen Äußerungen meines Freundes nur zwei im Gedächtnis behalten, eine über Deutschland und eine andere über Polen. Herr Bürger war natürlich nicht im Falle, den bornierten Haß vieler seiner Landsleute gegen die »Dütschländer« oder »Dütschmichel« zu teilen; denn er kannte Deutschland. Damals warf er unter anderen die Äußerung hin: »Ist mir schon oft aufgefallen, daß das lateinische Wort germanus der Deutsche und der Bruder bedeutet.Mein guter Vater würde sich über diesen Satz gewaltig skandalisiert und Herrn Bürger bewiesen haben, daß das lateinische Wort germanus (Bruder) mit dem urdeutschen German (Speermann) weder in der Bedeutung noch in der sprachlichen Herleitung irgend etwas gemein habe. Liegt sozusagen etwas Providentielles darin. Ist ja der Deutsche der Bruder von aller Welt, aber nicht umgekehrt. Und doch muß Gegenseitigkeit stattfinden, wenn man gute Geschäfte miteinander machen soll. Das hat die Firma Deutschland von jeher übersehen, und darum machte sie in dem Engrosgeschäft der Politik häufig so schlechte Geschäfte – 's ist kla–ar.« ... Über Polen sagte er: »Die polnische Frage spukt wie ein Gespenst noch immer in Europa herum. Ist aber ein albernes Gespenst, an das im Grunde niemand mehr glaubt. Liederlicher Adel und schweinische Leibeigene, das ist Polen. Was wollen Sie mit solchem Stoff anfangen? Wo ich je drei Polen beisammen sah, waren vier Grafen darunter: Krapülinski und Waschlapski, Schubiakski und Eselinski – wißt Ihr? – Pack! Erinnere mich, als ich noch ein dummer Mensch war und mich für allerhand Nonsens, zum Beispiel auch für das Volksschulwesen erhitzte, da wohnt' ich mal auf dem Lande einer feierlichen Schulprüfung bei. Hielt dabei der Pfarrer, als Präsident der Gemeindeschulpflege, eine recht erbauliche Rede, und stellte sich dann noch ein anderer Schulpfleger in Positur, um auch eine zu halten. Müßt aber wissen, damals stand gerade die Polakerei in tollster Blüte, und war auch der Herr Schulpfleger von der grassierenden Seuche ergriffen. Fing an mit großartigen Gesten und sprach also: ›Ihr Kinder, das erste ist Gott. Das andere ist ... das andere und ... noch ist Polen nicht verloren!‹ War das die ganze Rede, habe aber nie eine wirksamere gehört, denn sie kurierte mich radikal von dem polnischen Schwindel, 's ist kla–ar.«

Nach dem Frühstück machte Herr Bürger mit mir einen Gang durch die ausgedehnten Gartenanlagen, und unser Schlenderweg führte uns zuletzt zu dem eisernen Gitter hinunter, welches das privatliche Terrain des Hauses Kippling von dem geschäftlichen trennte. Hier war es heute still und einsamlich. Ich bemerkte jenseits des Gitters nur einen schon ältlichen Mann in ärmlicher Kleidung, dessen mageres, rot und bläulich betupftes Gesicht den Schnapsbruder verriet. Neben ihm hielt sich scheu und ängstlich in einem armseligsaubern Sonntagsanzug ein Mädchen von etwa zwölf Jahren. Das Kind fiel mir in dieser Gegend, wo die Mädchen und Frauen der arbeitenden Klassen keineswegs durch Schönheit sich auszeichnen, doppelt auf, um seiner wirklich ganz ungewöhnlich schönen Züge und des schwermütigen Ausdrucks seiner großen dunklen Augen willen.

Als der Mann mit dem Schnapsgesicht Herrn Bürger wahrgenommen hatte, zog er demütig seine Mütze, und der sonst stiere, wilde Blick seiner rotumränderten Augen nahm einen widerwärtig kriechenden Ausdruck an.

»Was wollt Ihr hier?« fragte ihn Herr Bürger barsch.

»Ich wollte den Herrn Oberst noch einmal schön bitten –«

»Nichts da,« unterbrach ihn mein Begleiter, »Ihr ewiger Trunkenbold! Ihr seid mit Schimpf und Schande aus der Spinnerei weggejagt worden, und damit geschah Euch nur recht. Hätte schon früher geschehen sollen – s' ist kla–ar.«

»Aber hochgeachteter Herr Bürger, bedenken Sie doch, was soll ich denn anfangen? Und auch mein Gritli da? Das Kind hat ja keine Mutter mehr und ist noch viel zu jung, um einen Dienst bei einer Herrschaft zu finden. Es muß doch in die Fabrik gehen und ich auch, wenn wir nicht verhungern sollen.«

»Das hättet Ihr früher bedenken und Euch danach achten müssen.«

»Aber der junge Herr hat mir doch gestern versprochen –«

»Der junge Herr?« fragte Herr Bürger, seine Falkenaugen mit einem seltsamen Ausdruck auf das kleine Mädchen heftend. »Geht mich nichts an. Fort mit Euch!«

Das Kind wandte bei dieser barschen Abweisung seine in Tränen schwimmenden Augen dem Kontorhause zu, als suchte es dort Hilfe.

Ich folgte der Richtung seiner Blicke und bemerkte für einen flüchtigen Moment hinter den Fensterscheiben von Herrn Kipplings Arbeitszimmer das Gesicht oder vielmehr nur die achteckigen Brillengläser meines Herrn Chefs. Ob Herr Bürger dieselben ebenfalls wahrgenommen, weiß ich nicht, aber ich sah, daß seine Mundwinkel sarkastisch sich verzogen. Zugleich stieß er ein kurzes, fast pfeifendes »Ah!« aus und wandte sich ab.

In diesem Augenblick kam der alte Kontordiener, welcher mich bei Herrn Kippling eingeführt hatte, aus dem Hause und sagte dem Fabrikarbeiter, der Herr Oberst bewillige ihm eine Audienz.

Der Mann nahm das Kind an die Hand, und auf das Kontor zugehend, kehrte er sich noch einmal um und schoß einen Blick boshaften Triumphes auf Herrn Bürger, welcher aber bereits von dem Gitter zurückgetreten war und so diese Manifestation nicht wahrnahm.

Ich folgte ihm und fragte:

»Wer war der Mann?«

»Ein liederliches Subjekt, ein Branntweinlump erster Sorte, ein Halunk, wo ihn die Haut berührt, mit einem Wort, der Fabrikler Zündt.«

Nachdem Herr Bürger dann eine Weile schweigend neben mir hergegangen, brach er plötzlich in helles Lachen aus.

»Was kommt Euch so lustig vor?«

»Was mir so lustig vorkommt? Rechne, die Geschichte von vorhin, mein Bester. Man ist doch ein großer Narr, wenn man sich's beikommen läßt, den Engel spielen zu wollen. Der Teufel gewinnt ja doch immer das Spiel – 's ist kla–ar.«

»Verstehe Euch nicht.«

»Schad't nichts. Aber ich will Euch was sagen. Auf den Fall hin, daß Ihr am nächsten Sonntag aufgelegt wäret, Euch wieder eine Selbstpredigt zu halten, will ich Euch einen kapitalen Text dazu geben.«

»Laßt hören.«

Es ist ein guter Text vom alten Dr. Martin Luther, und er lautet: ›Die Welt, Bauer, Bürger, Adel sind doch des Teufels, außer daß Gott ihrer Wenige in einen Fingerreif fasset; der andere Haufen bleibt wohl Kieselsteine, wie sie sind, damit der Teufel ein Pflaster machet und darauf zur Hölle rennet‹ – Guten Morgen, Herr Hellmuth.«


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