Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel.

Auch eine Dorfgeschichte. – In der Mühle. – Vefele, was macht der Jages? – »'s Geld ist d' Hauptsach'.« – Eine ländliche Aufwartung und eine Einladung.

Die Lerche weckte mich.

Aber ich hatte lange in den Morgen hinein geschlafen und als ich, rasch in die Kleider gefahren, das Fenster meines Schlafgemaches öffnete, welches mit der einen Seite gegen den Garten, mit der anderen gegen den Gottesacker zu lag, bemerkte ich, daß die kleine Zahl von Betern, welche an den sommerlichen Werktagen zum Messehören Zeit haben, bereits aus der Kirche kam, während Fabian aus dem Sakristeipförtchen trat und langsam auf das Pfarrhaus zuschritt.

Jetzt, da ich den Freund am hellen Tage in seinem langen schwarzen Priestertalar erblickte, kam er mir mehr verändert vor, als ich gestern wahrzunehmen vermocht hatte. Er hatte von einer Furche auf meiner Stirn gesprochen, aber die seinige war tief von jenen Linien durchzogen, welche Nachdenken und Gram ziehen. Seine treuen braunen Augen waren tiefer in ihre Höhlen zurückgetreten und die Rosen der Wangen abgefallen. Trotzdem war in seiner gefaßten Erscheinung etwas Ruhiges, Bestimmtes, etwas, das andeutete, er habe wirklich »überwunden« in dem schweren Kampfe zwischen Leidenschaft und Pflicht. Wenn ich mir den Freund ansah, dessen Lebensbarke die Brandung schon hinter sich hatte und nun stillgenüglich auf der glatten Fläche des Hafens sich wiegte, wenn ich mir sein friedvoll beschauliches Leben in ländlicher Abgeschiedenheit dachte, seine Rückkehr zu den harmlosen Freuden unseres Knabenalters, und dann meine Existenz, so unklar nach innen und nach außen, dagegen hielt, mußte ich den guten Fabian fast beneiden. – »Arme Mutter,« sprach ich in jener Morgenstunde bei mir, »du hattest vielleicht doch das richtigste Gefühl für mein Glück. Wäre ich deinem ursprünglichen Wunsche nachgekommen und Pfarrer geworden, so läge vielleicht der große Kampf des Lebens schon hinter mir, so könnte ich vielleicht auch wie Fabian und Hildegard sagen: Ich habe überwunden! Und mit dem sanften Geriesel eines friedlichen Wiesenbaches flösse mein Dasein dem Ozean des großen Nirwana zu, in welchem Leid und Lust des Menschen endlich spurlos verlöschen. Ach, daß die Kinder erst nach der Eltern Tod einsehen, daß diese es besser mit ihnen gemeint als sie selber!«

Und doch – hatte nicht meine Mutter noch zuletzt selbst gefühlt, daß es mit meinen geistlichen Anlagen schlecht bestellt sei? Jene Nacht an ihrem Sterbebette – o, indem ich daran dachte, mußte ich Isoldes denken, mit brennender Sehnsucht. Sie stand vor meiner Seele in der keuschen Herrlichkeit ihrer Gestalt, eine rätselhafte Traurigkeit im seelenvollen Auge, die zärtlich gewölbten Lippen streng geschlossen, als wären sie nur dazu da, ein schreckliches Wort gewaltsam zurückzupressen.

So hatte ich sie zuletzt gesehen.

Aber während ich eine Art süßer Befriedigung empfand, daß das Bild des teuren Wesens meine Seele füllte, mußte ich zugleich erfahren, daß der Zwiespalt, welcher seit langem die geheime Pein meines Lebens gewesen war, doch noch nicht völlig überwunden sei. Hinter Isoldes Bild stieg ein anderes auf, verführerisch lockend, die üppigen Lippen verlangend zum Kusse gerundet. Aber sofort glaubte ich Bürgers mephistophelisches Lachen zu vernehmen und sein damals auf der Blumenausstellung gesprochenes Wort: »Ja, sie ist eine Stanhopea – prächtig, berauschend, aber in Fäulnis wurzelnd.«

Ich war ordentlich froh, daß mich die Erscheinungen der Außenwelt aus meinem wachen Morgentraume weckten.

Freund Fabian wurde da drunten auf dem Gottesacker von dem Courage augeredet, welchen er freundlich begrüßte und mit sich ins Haus nahm.

Wenige Minuten darauf öffnete Frau Margret mit einem mütterlichen »Guten Morgen!« meine Zimmertüre und lud mich zum Frühstück, wobei sie mir sagte, ihr Herr Sohn habe nur noch etwas mit dem alten Soldaten zu sprechen.

»Vermutlich« – setzte die gute Frau hinzu – »hat der alte Kamerad wieder irgend ein Tier eingefangen oder einen seltenen Vogel entdeckt; denn Sie müssen wissen, daß er des Pfarr's sein Leibjäger ist, der keine Ruhe gibt, bis er den Pfarrhof vollends bis unters Dach mit tausenderlei Beest angefüllt haben wird.«

Ich hatte meinen Kaffee bereits getrunken und die Zigarre angebrannt, als Fabian kam. Er war sichtlich aufgeregt, sagte aber bloß, der alte Soldat habe ihm den gestrigen Vorfall in Göffingen in sehr lebhaften Farben geschildert, und ihn zugleich benachrichtigt, daß die Mutter der Bronnenbäuerin, die alte Müllerin, heute Nacht heftig erkrankt sei. Die Kranke sei eine Frau von außerordentlichem Wohltätigkeitssinn und man nenne sie darum nur die Armenmutter. Ihr Verlust würde ihm sehr nahe gehen, und er wolle sie sogleich besuchen.

So sprechend, trank er hastig eine Tasse Milch und bot mir dann an, ihn zu begleiten.

Als wir die Umzäunung des Baumgartens, welcher die Hinterseite des Pfarrhauses umgab, hinter uns hatten, sagte ich scherzend zu dem still und nachdenklich neben mir hergehenden Freund: »Nun, was für ein gefiedertes oder federloses Tier hat dir denn Monsieur Courage vorhin gebracht?«

»Einen garstigen Nachtvogel,« entgegnete Fabian ernsthaft – »ja, einen Nachtvogel, der aber noch nicht flügge ist und den ich armer Pfarrer jetzt aufätzen soll.«

»Kannitverstan.«

»Glaub' es wohl, verstehe die Geschichte selbst noch nicht. Schlimm genug ist sie aber, fürcht' ich. – Siehst du dort hinter dem Nußbaum am Bache das winzige graue Häuschen?«

»Ja.«

»Wohl, das ist die Hütte der alten Hanne, der Mutter des Vefele. Sie war einst so frisch und hübsch, wie jetzt ihre Tochter ist, und wie diese gefiel sie nicht nur ihren Schicksalsgenossen, den Armen, sondern auch den Reichen. Der Bronnenbauer und der Luixenbauer, ihre Altersgenossen, hatten als rüstige Burschen die Augen auf sie geworfen und man sagt sogar, der erstere, durch den Tod seiner Eltern frühe unabhängig geworden, habe die arme Hanne heiraten wollen. Allein die Hanne traute ihm entweder nicht, oder aber des Bronnenbauers Knecht, der Tone, gefiel ihr besser, was sehr wahrscheinlich ist: einmal, weil der Bronnenbauer mit dem Tone Mord- und Todhändel anfing, und dann, weil der Tone und die Hanne einander kurz darauf wirklich heirateten. Sie führten in der Hütte dort das mühselige Leben redlicher Armut. Er taglöhnerte und sie baute ihr dürftig Stückchen Feld und erzog ihr einziges erst mehrere Jahre nach ihrer Verheiratung geborenes Kind, das Vefele, zur Sittsamkeit und Arbeitslust. Da verbreitete sich eines Morgens im Dorfe die Neuigkeit, man habe den Tone tot aus der Donau gezogen. Morgen sind es gerade drei Jahre her.«

»War er ermordet worden?«

»Ermordet? Hat dir etwa der Courage von der Sache gesagt?« fragte der Pfarrer etwas verwirrt.

»Nein, kein Wort.«

»Nun wohl, man munkelte im Dorfe allerlei über Tones Tod, und unheimliche Gerüchte gingen um. Die Leiche war an dem Donausteg, welcher zwischen dem Luixenhof und dem Bronnenhof über den Fluß führt, gefunden worden. Der Tote war mit dem rechten Fuß zwischen den Balken des einen Pfeilers dieses Steges hängen geblieben. Das morsche Geländer des Steges war in der Mitte zerbrochen. Da mußte der Unglückliche hinabgestürzt oder auch hinabgestützt worden sein.«

»Also doch?«

»Bscht, wer kann es wissen? Der Tone hatte acht Tage lang drüben in Göffingen im Taglohn gestanden und in jener Nacht gegen zehn Uhr den Heimweg angetreten. Der Bauer, bei welchem er gearbeitet, hatte ihm zum Abschied ein großes Glas Kirschenwasser gereicht, allein der Tone, seiner anerkannten Mäßigkeit getreu, hatte nur einen Schluck davon genommen. Es konnte also keine Rede davon sein, daß ihn etwa Betrunkenheit in den Fluß geführt hätte. An Selbstmord sodann war bei der geduldigen zufriedenen Sinnesweise des Verunglückten ebenso wenig zu denken und es blieb also nur noch die Annahme, er habe sich beim Gang über den Steg, vielleicht von einem plötzlichen Unwohlsein befallen, zu stark auf das morsche Geländer desselben gelehnt, dieses sei gebrochen und der Arme beim Verlust seines Haltepunktes in die Tiefe gestürzt. Hiergegen fällt freilich, unter uns gesagt, der folgende Umstand stark ins Gewicht. Der Courage kehrte in selbiger Nacht von einem seiner Gänge das Donautal herauf heimwärts, und behauptete steif und fest, er habe beim Vorbeigehen am Bronnenhof heftig zankende und fluchende Stimmen vernommen; ja er will des Luixenbauern bekannten Lieblingsfluch ›Kreuzsakerment!‹ gehört haben, obgleich die Nacht, finster und stürmisch, wie sie war, ihn hinderte, irgend etwas zu sehen. Er sei sogleich auf den Steg zugeeilt, habe ihn aber einsam gefunden und ringsum alles still. Den Bruch des Geländers habe er nicht bemerkt, und, heimgekehrt, die Sache um so weniger der Rede wert gehalten, als der Tone erst am folgenden Abend zu Hause erwartet worden sei. Nun, siehst du, diese Aussage des alten Soldaten machte doch viele Leute stutzig. Man erinnerte sich jetzt im Dorfe, mit welcher Feindseligkeit der Luixenbauer wie der Bronnenbauer bei jeder Gelegenheit den Tone behandelt hatten, seit er die Hanne geheiratet, wie schwer sie ihn oftmals seine Armut hatten entgelten lassen, wie sie ihm nicht nur auf ihren Höfen die Taglöhnerarbeit versagt, sondern auch andere Bauern bewogen hatten, ihm keine Arbeit zu geben, kurz, wie sie immer eine ›stiergrindige‹ echtbäuerische Rachsucht gegen ihn an den Tag gelegt, seit er, der arme Knecht, in seiner Jugend sie, die reichen Bauernsöhne, bei einem armen Mädchen ausgestochen. Das Gerede wurde so arg, daß zuletzt die Gerichte davon Notiz nehmen mußten, aber es kam dabei nichts heraus. Der Luixenbauer stellte Zeugnis, daß er in der fraglichen Nacht bis zu später Stunde im roten Löwen gesessen, in Gesellschaft des Bronnenbauern. Der Courage ist ein zu redlicher und gutmütiger Mensch, als daß er auf so unbestimmte Anzeichen hin eine bestimmtere Anklage hätte aussprechen mögen, und falls er auch gewollt, wie hätte er gegen zwei solche Dorfmagnaten, gegen den Luixenbauer und seinen Nachbar, die in der Gemeinde allmächtig sind, aufkommen können? Kurz, der Tone blieb tot und begraben, und die Geschichte wurde vergessen. Auffallend war es nur, daß fast unmittelbar nach Tones Tode der Bronnenbauer mit einmal 's Vefele dingte und zwar zu einem weit höheren Liedlohn, als hier herum bräuchlich. Allein man schrieb's der Gutherzigkeit der Bronnenbäuerin zu, welche für Vefeles Mutter, ihre Jugendkamerädin, stets eine große Zuneigung bewahrt hat, den Bronnenbauer aber ein Jahr darauf doch nicht hindern konnte, 's Vefele aus dem Hause zu jagen, sobald er bemerkt hatte, daß sein Sohn ernstliche Absichten auf das arme Mädchen hatte.«

Als mein Freund nach Beendigung dieser Erzählung wieder in nachdenkliches Schweigen verfiel, warf ich die Frage hin:

»Und jetzt?«

»Jetzt,« gab der Pfarrer zur Antwort, »jetzt scheint die Geschichte von dem Tode des Tone noch einmal aufgerührt werden zu sollen. Dem alten Soldaten hat die brutale Behandlung, welche seinem Bäsle gestern von seiten der beiden Bauern widerfuhr, die Galle überlaufen gemacht, und ich habe ihn nur mit Mühe beredet, kein unbesonnenes Geschrei zu erheben. Er sagte mir, er habe die ganze Nacht nicht schlafen können; immer sei ihm der gute Tone eingefallen, und immer habe er das ›Kreuzsakerment‹ des Luixenbauern von jener Nacht her zu hören geglaubt. Sonderbarerweise bringt er nun auch den Bronnenbauer damit in Verbindung und« – setzte mein Freund hinzu, seine Stimme zum Flüstern dämpfend – »er hat mir vorhin unverhohlen gesagt, er sei überzeugt, die beiden Bauern haben den armen Tone ›g'moräxelt‹. Ich konnte ihn nur notdürftig damit beschwichtigen, daß ich ihm versprach, die Sache in Erwägung zu ziehen. Doch jetzt stille davon, da sind wir bei der Mühle.«

Sie erhob sich mit ihren Nebengebäuden stattlich am Saum eines Buchengehölzes, welches die Hügel hinanklomm, von denen der Mühlbach in fröhlichen Sprüngen auf die Räder herabtanzte. Zu dieser Stunde war ihm aber der Zutritt zu denselben durch die herabgelassenen Schützen verwehrt, und das Mühlwerk stand still, wohl aus Rücksicht für die kranke Besitzerin.

Man hatte von hier aus eine prächtige Aussicht auf Dorf und Tal, in welchem letzteren allwärts Gruppen von emsigen Schnittern beschäftigt waren, da die Ernte in dem vor rauhen Winden geschützten Frohdorf früher als sonstwo in der Gegend angegangen. Man sah die Sensen der Schnitter durch die Kornmahden blinken und hinter jedem Mähder eine »Aufsammlerin« hergehen, deren Pflicht es ist, die von der Sense gefällte Frucht ordentlich zusammenzufassen und zum Garbenbinden bereit zu legen. Da und dort sah man auch rüstige Burschen die fertigen Garben mittels langer Gabeln auf Wagen laden, die dann, hochaufgepackt, mit ihrer gelben Last dem Dorfe zuschwankten.

Mein Freund fragte einen alten Mahlknecht, der sich auf dem Hofe mit dem Behauen eines Mühlsteins zu schaffen machte und ehrerbietig seine eingemehlte Kappe abnahm, nach dem Befinden seiner Brotherrin.

»O, Herr Pfarr'«, lautete die Antwort, »heut' nacht war's gar arg mit ihr; aber seit Tagesanbruch ist's, gottlob! wieder viel besser. Sie hat's nit g'litten, daß man den Doktor aus Riedlingen b'schicke, sondern wollte nur der Tones-Hanne ihr Befele zur Abwart' haben, weil das Mädle ihr so gut hätt' abg'wartet, als sie vor zwei Jahren auch ist so bresthaft g'wesen.«

»Und hat man diesem Wunsche entsprochen?«

»Ahsograd', Herr Pfarr'. D' Bronnebäuerin, die seit heut' nacht nicht mehr ist von ihrer Mutter wegkommen, hat stantebene nach'm Vefele g'schickt, das grad' mit 's Hannsjörgebaurs Schnittleut' hat auf den Acker wollen, und 's Vefele hat seither der Kranken Pflaster aufg'legt und Tee g'macht, was hast was gibst. 's ist ein Blitzmädle, 's Vefele, sell ist wahr, und hat ein Schick zu allem.«

»Ei, Baste,« sagte der Pfarrer scherzend, »Ihr seid, mein' ich, fast gar ins Vefele verschossen.«

»Ja so? Sell wär' auch schier gar kein Wunder nit, aber« – und bei diesen Worten kniff der Mahlknecht seine Augen unbeschreiblich pfiffig ein – »aber dunkt mich halt, ich alter Kerle käm' da ein bißle z' spät. War vor 'ner Stund' oder so, einer da, dem ich nit ins Gäu kommen möcht', potz Bohnenbluost!«

Wir stiegen die steile Treppe hinan und wurden droben in der geräumigen Wohnstube mit altem Eichengetäfel von der Bronnenbäuerin begrüßt, einer noch ziemlich rüstigen Frau mit sanften, wohlwollenden Gesichtszügen und einer schönen, klugen Stirne, welche mit der ihres Sohnes viel Ähnlichkeit hatte.

Es tat und tut mir immer weh, wenn ich unter dem Volke solche schöngewölbte Stirnen erblicke, an deren Wand vielleicht große, hochherzige Gedanken nach Entbindung und Entwickelung pochen und zwar vergebens pochen.

»Ach, Herr Pfarr',« sagte die Bronnenbäuerin, »das ist recht, daß Ihr kommt. Schier gar hätten wir heut' nacht nach Euch g'schickt, um d' AhneGroßmutter. Die Oberländer, sobald sie verheiratet sind und Kinder haben, reden ihre Eltern mit Ahle (Großvater) und Ahne (Großmutter) an. z' versehen. Sie war gar übel auf.«

»Aber jetzt ist's besser, nicht?«

»Gott sei Lob und Dank, ja. Grad' ist sie aufg'wacht und der Schlaf hat ihr recht gut 'tan.«

Da der Krankenbesuch zu den schönsten aber auch schwersten Pflichten meines Freundes gehörte, ging er ohne Umstände auf die Kammertüre zu, öffnete sie und trat hinein. Die Bronnenbäuerin bat mich, in dem Sorgenstuhl am Ofen Platz zu nehmen, und eilte in die Küche, um eine kleine »Aufwartung« zu bestellen, was ich ihr vergeblich dadurch auszureden suchte, daß ich sagte, wir kämen gerade vom Frühstück her.

Das alte Lob bäuerischer Gastfreiheit ist jetzt so ziemlich ein verschollenes, und dem Wanderer muß insbesondere der Geiz, den das Landvolk in ängstlicher Hut seines Obstes an den Tag legt, widerwärtig auffallen. Um ein paar vom Baume gepflückter Kirschen, um einiger aufgelesenen Äpfel willen wäre, ich kann es bezeugen, mancher unserer wohlhabenden Bauern imstande, den dürstenden Handwerksburschen braun und blau zu schlagen. An seinem eigenen Herd dagegen ist der Bauer milder und wenn nicht der Bauer, so doch die Bäuerin. Hundertmal hat mich die alte Sitte, dem Einsprechenden den Laib Brot samt dem Messer hinzubieten, lebhaft angemutet. Wollen unsere Landleute filzige Menschen bezeichnen, so sagen sie: »Die lassen ein' kein Stückle Brot schneiden!« – eine Redensart, welche von dem eben erwähnten Brauche herkommt.

Da die Kammertüre offen geblieben, so konnte ich den Pfarrer mit der Kranken sprechen hören und aus diesem Gespräche vernehmen, daß die Müllerin, sonst ihrem Alter zum Trotz noch eine kerngesunde Frau, von einem jener Anfälle heimgesucht worden, welche plötzlich kommend und gehend, alten Leuten als Mahnungen erscheinen können, ihre Rechnung mit dem Leben ins Reine zu bringen.

Die Müllerin schien etwas der Art zu fühlen. Ich hörte sie sagen:

»Vefele, gang jetzt ins Käpele 'nauf und bet' da den Rosenkranz zu den vierzehn Nothelfern, den ich heut' nacht g'lobt hab'. Ich brauch' jetzt grad' nichts, 's ist mir ganz gut. Aber z' Mittag komm wieder, weil mein' Bronnenbäure heim muß zum Kochen, und hörst, tu mir auch dein' Vetter auf den Abend b'stelle; weißt, ich hab's gar gern, wenn mir der seine Kriegsg'schichten verzählen tut.«

's Vefele trat aus der Kammer, und da sie mich nicht sogleich am Ofen sitzen sah, strich sie sich ungeniert die Haare glatt, band ihre Schürze fester und ordnete das Busentuch. Als sie, sich umwendend, mich erblickte, ward sie rot, wie es alle Bauernmädchen werden, wenn sie sich plötzlich einem Fremden gegenüber befinden, und ich konnte, weil ihr die Verlegenheit allerliebst stand, mich nicht enthalten, sie leise zu fragen:

»Vefele, was macht der Jages?«

Das Blut schoß ihr noch stärker ins Gesicht, und sie stotterte verwirrt:

»Der wird, denk' mir, Garben vom Bühel heimführen.«

»So?« sagt' ich. »Denk' mir, er täte lieber was anderes heimführen.«

Wahrscheinlich ging diese Andeutung über den ländlichen Horizont Vefeles, denn sie wußte nichts darauf zu sagen.

»Ich meine,« fuhr ich fort, »er täte lieber dich heimführen.«

Vefele verstand aber das Wort heimführen nicht in dem hochdeutschen Sinn »als Frau heimführen«, sondern in dem oberländischen, wo das Heimführen der Mädchen bei Kirchweihen, Hochzeiten und anderen ländlichen Lustbarkeiten eine große Rolle spielt und für die größte Gunst angesehen wird, die ein Mädchen einem Burschen erzeigen kann.

Nachdem das Mädchen einen Augenblick verlegen mit dem Schürzenbande gespielt hatte, schug es die großen braunen Augen gegen mich auf und sagte mit einer Betonung, worin sich Verwunderung ob meiner Mitwisserschaft um ihr Liebesverhältnis, Trauer und naive Schalkhaftigkeit seltsam mischten:

»O, bei Tag tut man bei uns d' Mädle nit heimführen, Herr.«

»Weiß wohl, liebes Kind, und deshalb mochtest du dich gestern auch nicht vom Jages heimführen lassen, nicht wahr?«

Die Erinnerung an gestern, welche ich durch diese Worte in Vefele hervorrief, machte sie erschrecken. Sie wurde blaß, und ich glaubte schon, sie werde in Tränen ausbrechen. Aber unsere Bauernmädchen haben starke Nerven.

Vefele faßte sich schnell und sagte hastig: »Ich muß halt jetzt g'schwind ins Käpele gehn« – und war wie der Wind zur Türe hinaus.

Ans Fenster getreten, sah ich sie über den Hof und dann auf einem Fußsteig den Buchenwald hinaneilen und konnte bemerken, daß sie sich ein paarmal mit der flachen Hand über die Augen fuhr.

Inzwischen hatte sich zwischen der Müllerin und dem Pfarrer ein ernstes Gespräch in der Kammer entsponnen. Ich hörte die Müllerin sagen:

»Ja, Herr Pfarr', 's war' halt alles recht, wenn mein Schwiegersohn, der Bronnenbaur, nur einsehen tät, daß der Jages haufeng'nug hat und kriegt und darum kein reiches Weib nit brauchen tut.«

»Ei, liebe Frau,« entgegnete mein Freund, »das eben ist ja der böse Haken, daß Euer Schwiegersohn das nicht einsieht und schwerlich jemals einsehen wird.«

Die Müllerin seufzte und sagte:

»Ahsograd', ja freilich, 's ist ein gar halsstarriger Mann. Aber ich kann's nit mehr mit ansehn, Herr Pfarr', und ich weiß oft nit, wer mich mehr dauert, der Jages oder 's Vefele.«

»Sie sind beide brav und verständig und werden also begreifen, daß sich in der Sache nichts mit Gewalt erzwingen läßt.«

»Wohl, wohl; aber kann man denn nichts tun?«

»Nicht viel. Ihr wißt, daß ich versucht habe, bei Eurem Schwiegersohn ein gut Wort für das Mädchen einzulegen; aber was half es? Er hat nun einmal den Kopf darauf gesetzt, des Luixenbauers Kätter zur Schwiegertochter zu bekommen, und so wird es wohl das beste sein, wenn 's Vefele aus Frohdorf fortgeht. Ich habe auch bereits mit der Hanne darüber gesprochen, und da meine Base, welche – wißt Ihr? – in Dietelhofen hauset und mich neulich besuchte, an dem Mädchen großen Gefallen fand, so denk' ich, 's Vefele geht zu ihr. Sie würde dort einen anständigen Liedlohn bekommen und überhaupt gut gehalten werden.«

Hier wurde meine Aufmerksamkeit durch schwere Tritte, welche die Treppe heraufkamen, von dem Gespräch in der Kammer abgezogen. Eine barsche Stimme, in welcher ich alsbald die des Brunnenbauern erkannte, sagte draußen:

»Nun, Weib, kannst jetzt mal heimkommen? 's ist Zeit, für d' Schnittleut' 's Essen z'richten, und dann, weißt, woll'n wir z' Abend Sichelhänge halten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete der reiche Bauer die Stubentüre und schob seine mächtige Gestalt hinein. Seine Frau folgte ihm und sagte, als er mich verwundert und ohne zu grüßen ansah:

»'s ist ein fremder Herr, der mit dem Herrn Pfarr' gekommen.«

»So?« versetzte der Bronnenbauer, seinen schwarzen Strohhut lüftend. »Meinte, es sei vielleicht der Doktor.«

Und in die Kammer tretend fuhr er fort:

»Guten Morgen, Herr Pfarr'. Heiß Wetter heut', Sappermost! Wie geht's denn, Schwieger?« »Gottlob! wieder besser, Xavere.«

»So ist's recht, denn wir haben viel zu tun jetzt und keine Zeit zum Kranksein. Wollen heut' abend Sichelhänge halten, Schwieger.«

»Schon? Müßt wacker geschafft haben.«

»Ei, ja wohl. Wenn ich dabei bin, geht's aus den Büschen. Bin aber auch heut' schon hundshagelmüd' worden.«'

»Brauchst's ja nit zu übermachen, Tochtermann. Hast ja in dei'm Jages ein' tüchtigen Stellvertreter.«

»Ja, der Bua war' sonst schon recht, hätt' er nur nit oft so dumme Mucken im Kopf. Aber was ich sagen will, ja, Schwieger, machet nur, daß Ihr bis Samstag wieder auf die Füß' kommt. Da ist Heiratstag.«

»So handlig, Xavere?«

»Sappermost, man kann d' Geschicht' nit mehr so lang 'rumsalben. Heut' bringen wir alle Frucht heim, bis auf den Haber, und da hat man denn grad' Zeit zum Heiraten.«

»Der Jages hat sich also zu der Kätter entschlossen?« fragte der Pfarrer, mit dem Bronnenbauer aus der Kammer in die Stube tretend.

»Ei, der soll froh sein, so ein Mädle z' kriegen,« versetzte der Bauer ausweichend. »Denket nur, Herr Pfarr', viertausend bare harte Kronentaler gibt der Luixenbaur seiner Tochter auf der Stelle mit.«

»Aber zu einer glücklichen Ehe gehört nicht bloß Geld.«

»Hm, Herr Pfarr', 's Geld ist währle d' Hauptsach'. Wer's schon hat, braucht's nit erst z' erwerben, und 's sind gar schlechte Zeiten jetzt ... Aber kommt, da ist ja 's Neunebrot aufgetragen. Greifet zu, Herr Pfarr', und auch Ihr, Herr...r...r. Ich habe schon mordmäßigen Hunger kriegt, 's Garbenbinden macht den Magen leer.«

Mit diesen Worten pflanzte sich der Bronnenbauer breit an den Tisch, welchen seine Frau inzwischen mit einer ländlichen »Aufwartung« beschwert hatte, bestehend aus frischer Butter, weichgesottenen Eiern, Brot, Apfelwein und Kirschenwasser.

Der Bauer, dessen hartes, rotes Gesicht man bloß anzusehen brauchte, um alle Hoffnung für Jages und Vefele aufzugeben, sprach den Erfrischungen tüchtig zu, stürzte mehrere Spitzgläschen Kirschenwasser hinunter und benutzte eine Pause in seinem Geschäft, um den Pfarrer und mich zu der heute abend bevorstehenden Sichelhänge auf seinen Hof einzuladen.

Fabian, welcher hoffen mochte, in einer Stunde der Fröhlichkeit der Hartherzigkeit des Bauern mit besserem Erfolg als bisher beikommen zu können, sagte in seinem und meinem Namen zu, nachdem er mich zuvor dem Einlader als einen alten guten Freund bezeichnet hatte, welcher soeben aus England und Frankreich zurückkomme. Diesen Umstand hob er wahrscheinlich hervor, weil unserem Landvolk das Gereistsein sehr imponiert. Der Bronnenbauer schien mir denn auch in der Tat von jetzt an mehr Aufmerksamkeit widmen zu wollen und wandte sich zu mir mit der Frage:

»Schätz' mir, Ihr seid ein Unterländer?«

Unterländer bedeutet in dem Wörterbuch des Oberländer Bauern Lump, wenn nicht Schlimmeres.

»Nein,« sagte ich, »wie ich denke, kann ich sagen, daß ich die Ehre habe, ein Oberländer zu sein.«

»Desto besser,« meinte der Bauer. »Da könnt Ihr urteilen, ob meine Bäurin die Schnitten und Sträuble gut backen kann. Kommt nur g'wiß, Ihr Herren! Hab' ein Faß Riedlinger Lagerbier holen lassen und hab' auch noch was Apartes, ein Fäßle Kartäuser, 34er, im Keller. Aber jetzt muß ich auf den Bühel und nach meine Leut' gucken.«

So sprechend stand er auf, ging an die Kammertüre und schrie hinein:

»Machet, daß Ihr bald wieder fortkönnet, Schwieger. Und drunten will ich dem Baste sagen, daß er nit so faul 'rumduslen, sondern 's Mühlwerk laufen lassen soll.«

So verließ er die Stube, und draußen hörten wir ihn seiner Frau nochmals befehlen, nach Hause zu gehen, um alles für den Mittag und Abend herzurichten, worauf er schwerfällig die Treppe hinablatschte und drunten dem Mahlknecht zuschrie, das Wasser wieder auf die Räder zu richten und nicht so zu faulenzen.

Nachdem wir der Kranken gute Besserung gewünscht und mein Freund den beiden Frauen versprochen hatte, heute abend einen letzten Versuch zu machen, um den Bronnenbauer zur Einwilligung in eine Verbindung seines Sohnes mit dem Vefele zu bewegen, verließen auch wir die Mühle.

Die Bronnenbäuerin, ihren mütterlichen Kümmernissen freien Lauf lassend, gab uns auf den Hof das Geleite und sagte dem alten Baste, der, verdrießlich über die barsche Zurechtweisung seitens des Bauern, die Schützen des Mühlbachs aufziehen wollte, er möge das für heute nur unterlassen, denn d'Ahne könne das Geklapper noch nicht vertragen.

»Weißt ja, Alterle,« setzte die gute Frau hinzu, ihren rauhen Gatten entschuldigend, »weißt ja, mein Bauer tut ein bissele überzwerg, wenn er grad' im Schuß ist; aber er bellt oft viel ärger, als er beißt.«


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