Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel.

Ein Frühgang. – Das Raben-Orakel. – Eine Landschaft. – Ketzerische Ansicht über das Money-making-Dogma unserer Tage. – »Zieh deine Schuhe aus, denn du trittst auf heiligen Grund!« – Keine Regel ohne Ausnahme. – Die Beichte eines weggejagten Lyzeisten.

»Laß los, Berthold! oder ...«

»Sachte, sachte,« entgegnete eine Stimme, welche nicht die meines Kameraden Berthold war, mit dem ich, wie so oft im Wachen, jetzt im Traume in einem heftigen Faust- und Ringkampf begriffen gewesen.

»Ah, du bist's, Vater?« fragte ich, mir den kriegerischen Traum aus den Augen reibend und mich im Bette aufrichtend.

»Ja, Bursch. Steh auf und zieh dich an, aber mach kein Geräusch, denn die Mutter schläft noch.«

Ich gehorchte rasch, denn der Ernst auf meines zum Ausgehen angekleideten Vaters Stirne machte jedes Zaudern, Zögern und Fragen unratsam.

Wir gingen. Als wir an der Schlafkammer meines Schwesterchens vorbeikamen, hörten wir Hildegard drinnen laut ihr Morgengebet sprechen. Sie mußte trotz unseres sachten Auftretens unsere Schritte vernommen haben, denn sie öffnete ihre Türe halb, streckte ihr rosiges Gesichtchen heraus und rief uns mit gedämpfter Stimme nach:

»Guten Tag! Wohin schon? Darf ich nicht mit, Papa?«

»Nein, Kind,« erwiderte mein Vater leise. »Ich habe mit dem Michel ein Geschäft vor. Mache deine Zöpfe zurecht, Liebchen, und sorge, daß die Mutter beim Erwachen einen frischen Blumenstrauß auf ihrer Bettdecke finde. Das freut sie, weißt du?«

Wir stiegen vorsichtig die gewundene Treppe hinab und traten durch die Hintertür in den Garten hinaus. Während wir den Mittelgang hinabschritten, machte das kleine Mädchen droben neugierig ihr Kammerfenster auf, bog sich heraus und sang uns mit schelmischer Stimme die Anfangsworte einer alten Volksballade nach:

»Es ritten zwei Reiter früh am Tag
Durch Nebel und Morgengrauen.
Gilt's einem Feind mit Stoß und Schlag?
Gilt's einer schönen Frauen?«

»Die kleine neugierige Hexe!« murmelte mein Vater lächelnd. Aber sogleich wurde sein Gesicht wieder ernst, und rasch ausschreitend winkte er mir, ihm zur Seite zu bleiben.

Unser Garten wurde durch den Plankenzaun des freiherrlichen Parkes begrenzt. Der Vater öffnete mit einem Schlüssel, den er bei sich trug, die schmale Bohlentüre, die sich hier befand. Wir schlugen aber nicht den Weg ein, welcher rechtshin nach dem Schlosse führte, dessen stolze Türme in einiger Entfernung aus den Baumgruppen hervorragten, sondern verfolgten in entgegengesetzter Richtung einen schmaleren Pfad. Der Morgennebel strich schwerfällig durch die schon in ihren bunten Herbstfärbungen prangenden Baumwipfel und bedeckte rings den Rasen mit seinem feuchten Geriesel.

Wir kamen an dem sogenannten Krähenhorst vorbei, einer einsamen Stelle des Parkes, wo von alters her auf uralten Bäumen eine Kolonie von Krähen und Raben ungestört ihre Wirtschaft trieb. Die Vögel waren schon auf und schwatzten und krächzten da droben bunt durcheinander. Wahrscheinlich hatten die Tiere meinen Vater gewittert, der ihr großer Gönner war.

»Aha,« sagte er stillstehend, »die schwarzen Herren singen schon ihre Morgenvigilie und, richtig, da ist ja auch Se. Gnaden, der Herr Abt.«

Mein Vater behauptete nämlich, das Gemeinwesen dieser Vögel sei ganz entschieden ein klösterliches, aber das Krähenkloster sei sehr verständigerweise so eingerichtet wie dem Rabelais zufolge Gargantua dem Bruder Jehan ein Kloster errichten ließ. Mein Vater nannte daher den uralten Raben, der hart vor uns auf einem der niedrigsten Äste einer riesenhaften Ulme saß, nicht anders als Bruder Jehan und begrüßte denselben auch jetzt mit diesem Namen.

Der würdige alte Herr, in der Rentei ein oft und gern gesehener Gast, erwiderte den Morgengruß seines Gönners in seiner Manier. Er sträubte seine altersgrauen Halsfedern, reckte den Kopf weit vor, rührte höflich ein wenig die Flügel, blinzelte gescheit, klappte den Schnabel auf und zu und stieß ein recht gemütliches Kwah-Kwah aus.

»Michel,« sagte mein Vater ernsthaft zu mir, »frage den Herrn Abt, ob unser Vorhaben einen günstigen Erfolg haben werde.«

»Was für ein Vorhaben, Vater?«

»Das geht dich einstweilen nichts an, Junge.«

Da ich meines Vaters echter Sohn, das heißt ebenfalls nicht ohne eine Ader von Humor war und überdies triftige Gründe hatte, heute sehr folgsam zu sein, tat ich, wie mir befohlen worden. Ich stellte mich in Positur, zog die Mütze, machte einen Kratzfuß und fragte den alten Kerl von Raben:

»Was meinst du, hochwürdiger Bruder Jehan, wird unser Vorhaben gut ausfallen?«

Der Herr Abt blinzelte uns nur so von der Seite an, ließ ein kurzes, heiseres Gekoller hören, schüttelte verachtungsvoll sein Gefieder und schickte sich an, den Kopf unter seinen rechten Flügel zu stecken, als ob er gar nichts davon wissen wollte. Dann besann er sich eines anderen, lugte meinen Vater wie fragend an und fuhr mit seinem mächtigen Schnabel wetzend auf dem Ast hin und her.

»Ah, Bruder Jehan,« rief mein Vater lachend und in seine Rocktasche greifend, »ich will nicht Helmut heißen, wenn du nicht gerader Linie von Odins Raben Hugin und Munin abstammst: so klug bist du. Du weißt sicherlich, daß noch zu keiner Zeit ein Gott oder ein Priester gratis einen Orakelspruch gespendet hat. Sieh da!«

Der Abt hatte kaum den Käsebrocken erblickt, welchen mein Vater zwischen den Fingern hielt, als er sich mit einer Lebhaftigkeit gebärdete, die der klösterlichen Gravität nicht ganz angemessen war. Mein Vater warf ihm den Brocken zu, welchen er geschickt mit dem Schnabel auffing. Statt aber gierig in die Beute einzuhacken, bewährte jetzt der alte Kerl seine Bildung. Er legte den Käse säuberlich auf den Ast, setzte einen seiner mit Schwielen bedeckten Füße darauf und nickte mir zu, als wäre er bereit, die verlangte Auskunft zu erteilen.

»Wiederhole deine Frage, Michel,« sagte mein Vater.

Ich gehorchte, das Lachen verbeißend.

Bruder Jehan nahm eine höchst tiefsinnige Miene an, wiegte den Kopf bedächtig hin und her, schloß die Augen, riß sie dann weit auf, schlug mit den Flügeln und stieß ein dreimaliges, lustig gellendes Kwah aus, welches man mit etwelcher Anstrengung der Phantasie allerdings für eine bejahende Antwort nehmen konnte.

»Accipe omen, mi fili!« sagte mein Vater und ging weiter.

Mein Vater hatte ganz eigene Ansichten über den Zusammenhang der Dinge, und so sagte er denn, als er bemerkte, daß mir die Begegnung mit dem alten Raben spaßhaft vorkam:

»Du brauchst gar nicht zu lachen, Junge, und kannst dir bei dieser Gelegenheit merken, daß es töricht ist, zu glauben, die Menschen hätten, wie man zu sagen pflegt, alle Weisheit allein gefressen. Der Bruder Jehan hat hundert Jahre und vielleicht noch länger gelebt, er müßte keine so gescheite Kreatur sein, wie er ist, wenn er sich über das, was er alles gesehen und erlebt, nicht seine Gedanken gemacht hätte. Es ist etwas Dämonisches in manchen Tierarten, etwas, was den Tierkult, wie er von mehreren alten Völkern geübt wurde, wahrscheinlich viel weniger albern und lächerlich erscheinen ließe, wenn wir genauer darüber unterrichtet wären. Unsere germanischen Altvordern bedienten sich des Gewiehers der Rosse zur Orakeleinholung, was einen gar nicht sehr verwundern kann, falls man bedenkt, das noch heutzutage manches Pferd mehr denkt und klüger ist als sein Reiter.«

Da ich die Art meines Vaters kannte, machte ich mich auf eine einläßliche Abhandlung über das Pferdeorakel der alten Germanen gefaßt – ein Thema, welches mich, offen gestanden, um so weniger interessierte, als mich die lebhafte Neugierde plagte, zu erfahren, was denn dieser frühe Morgengang eigentlich zu bedeuten habe.

Mein Vater schien jedoch keineswegs aufgelegt, heute sein bereits halb und halb gesatteltes germanistisches Steckenpferd zu besteigen. Er schritt mir rasch und schweigend voran, abwärts an dem hellen Forellenbach, welcher den kleinen See in der Nähe des Schlosses speist, dann in vielfachen Windungen den Park durchfließt und da, wo er aus demselben heraustritt, einen schönen Wasserfall bildet, um, noch wild von dem Sprunge über die Felsen, etwas weiter unten auf die Räder der Dorfmühle sich zu stürzen. Diese liegt ein paar Büchsenschüsse von den zerstreuten Häusergruppen unseres stattlichen Dorfes entfernt, in einem engen Tälchen voll malerischer Felspartien. Zwischen diesen und den buchenbekronten Hügeln windet sich der Bach in eine finstere Schlucht hinein, hinter welcher rechts und links hohe, tannenbewachsene Bergwände steil ansteigen. Von der Höhe derselben sieht man nach Süden und Westen weit in das offene Land hinaus und kann da und dort den Spiegel des großen Stromes blitzen sehen, welchem die vielen Wasser unserer Berge tributbar sind. An hellen Tagen macht sich den dort oben Stehenden am südlichen Saume des Horizonts ein weißer, mannigfach gezackter Streifen bemerkbar, welchen der Unkundige für einen Wolkengürtel nehmen könnte. Es sind aber die Alpen. Noch jetzt erinnere ich mich lebhaft des großen Eindrucks, welchen ich empfing, als mein Knabenauge zum erstenmal von dort herab die Alpenfirnen im Strahl der untergehenden Sonne purpurn erglühen sah. »Ist dort der Himmel?« hatte ich damals meinen Vater gefragt. »Ein Stück zur Erde gefallenen Himmels jedenfalls,« hatte er mir zur Antwort gegeben. – Mein Vater lebte und webte in und mit der Natur, und er versäumte keine Gelegenheit, das eigene rege Naturgefühl auch in seinen Kindern wach zu rufen und zu nähren. Er lehrte uns in dem Wechsel der Jahreszeiten, in der Gestirne Auf- und Niedergang, in dem erhabenen Schweigen der Winterlandschaft wie in der heiligen Stille der Sommermondnacht, im Blütenjubel des Frühlings wie in der wehmütig milden Ruhe sonniger Herbsttage das Walten von Göttlichem erkennen.

Wir überschritten den Steg, welcher unterhalb der Mühle über den tief in seinem felsigen Bett rauschenden Bach führt, und stiegen drüben den Hügel hinan, welcher, an der Westseite des Dorfes weit in das Tal vorspringend, die schone alte Dorfkirche trägt. Zwei Steinlinden beschatten die Vorhalle, und rings um das Gotteshaus zieht sich der Friedhof mit seinen bescheidenen ländlichen Denkmalen. Er ist mit einer Mauer eingefaßt, und eine feste Lage verschaffte ihm in den französischen Revolutionskriegen zweimal die traurige Ehre, blutigen Gefechten zwischen den Kaiserlichen und den Franzosen zum Schauplatz zu dienen.

Es ist ein stiller, schöner Platz und könnte einen deutschen Gray wohl zu einer Dorfkirchhofs-Elegie anregen. Aber die Zeit der Elegien ist ja überhaupt vorbei. Von rastloser Sorge für die Gegenwart gestachelt, von unruhvollem Bangen vor der Zukunft gequält, haben die Menschen nicht mehr Zeit, Vergangenes zu betrauern und zu beklagen. Sie müssen hastig leben, fieberhaft hastig, um in dem ungeheuren Wirbel, in dem atemlosen Wettlauf der Konkurrenz nicht zurückzubleiben. Wie wäre da ein wehmütig-liebevoller Rückblick auf Gewesenes erlaubt oder auch nur möglich? Laßt die Toten ihre Toten begraben und – schon der Prediger Salomo sagte es – besser ein lebendiger Hund als ein toter Löwe! Man könnte leicht zu dem Glauben kommen, die Hunde hätten sich das seither so gut gemerkt, daß sie gar keinen Löwen mehr aufkommen lassen.

Über die niedrige Einfassungsmauer des Friedhofs hinweg hört man drunten im Talgrund rauschend die Mühle gehen. Drüben linkshin irrt der Blick in einem Labyrinth von waldigen Bergjochen und kühnen Felskuppen, aus deren bizarrem Durcheinander der Geolog ein Stück Urgeschichte der Erde herauslesen mag; sonstige Beschauer werden daran sich erfreuen als an einer malerischen Gebirgspartie. Wenden sie das Auge weiter zur Rechten, so dacht sich dort der Bergzug zu einer Hochebene ab, deren ganzer Raum, von hier aus gesehen, von dem Park eingenommen erscheint, welcher das Schloß des freiherrlichen Geschlechtes von Rothenfluh umgibt. Noch weiter rechtshin fällt das Plateau zu einer weiten Niederung ab, in welcher in einem langgestreckten Halbbogen das Dorf liegt, dessen rotbraune Dächer und weißgraue Giebel zur Sommerzeit in dem Blättergrün seines Obstbaumwaldes fast verschwinden. Gegen Morgen und Mittag zu läuft das Tal in ein fruchtbares Acker- und Wiesengelände aus, und gegen Abend springt, wie schon erwähnt, der Kirchenhügel vor, dessen südliche Wand mit Rebenpflanzungen bedeckt ist. Die ganze Dorfmark trägt den Charakter behaglicher Abgeschlossenheit und idyllischen Friedens, und dieser Charakter dürfte noch lange vor Beeinträchtigung um so mehr geschützt sein, als die etwa eine Wegstunde entfernt südwärts in der Ebene gelegene kleine Stadt zu den stillsten im Lande gehört. Sie war vormals der Sitz eines Domkapitels, einer Deutschherrenballei und ist jetzt noch der eines adeligen Fräuleinstiftes. Von alters her ist ihr das Gepräge geistlicher Beschaulichkeit geblieben, und es hat noch heute gar nicht den Anschein, als würde sie desselben sobald, wenn überhaupt jemals, verlustig gehen. Die Bekenner des Money-making-Dogmas, die Gläubiger der Busineß-Kirche unserer Tage, mögen über solche »Verrottung« mitleidig die Achseln zucken; aber irre ich nicht, so dürften unsere Nachkommen froh sein, in der industriellen Wüste dereinst da und dort noch so eine Oase anzutreffen, wo keine Dampfmaschine keucht, keine Lokomotive poltert, die Kinder nicht skrophulös sind und die Erwachsenen noch rote Backen haben. Ich habe von unserer mit Leib und Seele einem dämonischen Erwerbstrieb verfallenen Zeit industrieller Herrlichkeit genug gesehen, um diese Prophezeiung nicht für eine allzu kühne zu halten.

Die Morgensonne glänzte siegreich über den talwärts gedrückten Nebelschwaden, als wir den Friedhof betreten hatten. Ihre Strahlen spielten auch auf den feuchten Blättern der Astern und anderer Herbstblumen, welche einen sorgfältig gepflegten Grabhügel krönten. Die Zweige einer Trauerweide hingen darüber her, und inmitten der Blumen erhob sich ein einfaches Kreuz von grauem Sandstein. Auf dem Querbalken waren die Worte: »Hinc surrectura« eingemeißelt. Die Stelle war mir wohl bekannt und teuer.

Mein Vater näherte sich diesem Orte nie, ohne daß seine Züge den Ausdruck ehrfurchtsvoller Trauer getragen hätten. Heute jedoch war seine Miene eine besonders feierliche, und als er nun zu mir sagte: »Ziehe deine Schuhe ans, mein Sohn, denn du trittst auf heiligen Grund!« da klang seine Stimme so eindringlich, daß ich dem seltsamen Befehl ohne Zögern nachkam.

»Lege deine Rechte auf das Grabkreuz,« fuhr mein Vater fort. »Du weißt, hier schläft den langen Schlaf eine, die mich und dich sehr geliebt hat.«

»Deine Mutter, Vater, meine liebe, liebe Großmutter,« versetzte ich, von dem feierlichen Wesen meines Vaters unwillkürlich mit ergriffen.

»Und erinnerst du dich noch, Michel, welche Lehre die Gute dir so oft eingeschärft hat, zuletzt noch auf ihrem Sterbebette?«

»Ehre Vater und Mutter und lüge nie!«

»Gut, mein Knabe. Bei der Erinnerung an alle die Liebe, welche dir die Tote erwiesen, bei der Ehrfurcht, welche du ihrem Andenken schuldest, bei diesem Grab und bei der Sonne da oben beschwör' ich dich und fordere dich auf, mir zu dieser Stunde die Wahrheit und nur die Wahrheit zu sagen!«

»Ich will es, Vater.«

Die feierliche Beschwörung wirkte auf mich wie ein Anhauch von Poesie. Mir war andächtig zumute. Das Bild meiner geliebten Großmutter, der ehrwürdigen Greisin mit den schneeweißen Haaren, stand wie leiblich vor mir. Ich glaubte den Blick ihrer noch im hohen Alter schönen Augen wieder auf mir ruhen zu fühlen, so sanft und zärtlich, wie er in den Tagen der Kindheit mich behütet, beschwichtigt, gesegnet hatte ... Ich habe vielfache Ursache, meinem Geschick mich dankbar zu bezeigen. Schon deshalb, weil es, mir eine Jugend gegönnt, deren Glück so ziemlich nur von mir selber getrübt wurde. Versenke ich mich in die Erinnerungen jener Jahre, so muß ich betonen, daß ich unter dem vielen Guten und Schönen, was das elterliche Haus mir gewahrte, auch des seltenen Anblicks genoß, daß selbst Schwiegermutter und Schwiegertochter unter einem Dache in bester Harmonie lebten – gewiß eine Ausnahme von einer leidigen Regel. Nur zuweilen konnte es scheinen, als ob sich für Augenblicke etwas wie Eifersucht in der Seele meiner Mutter regte, wenn sie sah, mit welcher unendlichen Verehrung und Zärtlichkeit ihr Gatte seine Mutter behandelte. Mein Vater fühlte das, selbst in jener bittern Stunde, wo seine angebetete Mutter in seinen Armen ihren letzten Atemzug verhaucht hatte. Wie im Innersten gebrochen, saß er lange regungslos neben der Toten, scheinbar teilnahmlos für alles, was um ihn vorging, teilnahmlos auch für meine Mutter, die mit uns Kindern leise weinte. Zufällig aufblickend, mochte mein Vater hinter dem Tränenschleier ihrer Augen etwas wie leisen eifersüchtigen Vorwurf erblicken, und seine Herzensgüte machte ihn die Erstarrung des bittersten Kummers überwinden. Er stand auf, ging um das Bett herum, neigte sich zu meiner Mutter herab, küßte ihre nassen Augen und sagte weich: »Sie ist gegangen, aber sie hat mir dich zurückgelassen, Gertrud – es ist alles gut...«

»Ich lese in deinen Augen, daß deine Versicherung aufrichtig gemeint ist,« fuhr mein Vater fort, mich fest, aber liebevoll anblickend. »Du kennst den innigsten Herzenswunsch deiner Mutter, Michel?«

»Ja, Vater. Sie wünscht, daß ich ein Geistlicher werde.«

»Und du? Vermagst du es? Du bist jetzt alt genug, um wenigstens einigermaßen zu begreifen, was es heißen will, ein Priester zu werden. Fühlst du Trieb und Kraft genug in dir, die Pflichten dieses Berufes auf dich zu nehmen? Vermagst du es, mein Junge?«

»Ich will es versuchen, Vater.«

»Der Mutter zuliebe?«

»Der Mutter zuliebe.«

»Knabe, bedenke wohl, was du sprichst. Diese Stunde kann für dein ganzes Leben entscheidend sein. Du sollst nicht gezwungen werden.«

»Ich will es freiwillig versuchen, Vater. Als im letzten Herbst des Müllers Gregor in der Kirche dort seine Primiz hielt und nach beendetem Hochamt alles der Müllerin Glück wünschte und sie weinte vor Freude, und dann die Mutter an dieser Stelle zu mir sagte: ›O, wenn du mir einmal diese Freude machtest, Michel!‹ – da hab' ich bei mir beschlossen, daß sie diese Freude haben soll.«

Mein Vater schwieg eine Weile nachdenklich. Ein flüchtiger Schatten ging über sein offnes Gesicht, und während seine Augen mit einem ganz eigen sorglichen Ausdruck auf mir ruhten, war es, als wollte ein Seufzer seine Brust schwellen. Dann, wie um trüber Gedanken sich zu entschlagen, machte er eine hastige Bewegung und sagte lächelnd:

»Und um deine Geneigtheit, deiner Mutter Wunsch zu erfüllen, recht deutlich zu manifestieren, Michel, hast du damit angefangen, dir deinen Laufpaß vom Lyzeum zu erwirken?«

»O,« entgegnete ich ziemlich kleinlaut, »das kam so ganz gegen meinen Willen. Es war eine recht dumme Geschichte, ich seh' es jetzt ein.«

»So? Und wie war es denn eigentlich? Wie ging es dabei her? Aufrichtig, Junge, aufrichtig!«

»Es war so,« begann ich, allein der Vater unterbrach mich mit den Worten: »Nicht hier, Knabe, nicht hier. Das ist ein heiliger Ort, und er soll durch die Beichte eines leichtsinnigen Schülerstreiches nicht entweiht werden. Ziehe deine Schuhe an und komm.«

Ich gehorchte. Im Weggehen stand der Vater noch einmal still und sagte mit tiefem Ernst:

»Mein Sohn, senke die Erinnerung an diese Frühstunde an dem Grabe deiner Großmutter fest in dein Herz. Diese Erinnerung kann dir eine starke Wehr sein in Augenblicken, wo die Versuchungen des Lebens lockend an dich herantreten. Der heutige Morgen sei dir ein geweihter; laß seine Wirkung eine dauernde sein.«

»Ich will es, Vater,« versetzte ich, und ich glaube auch heute noch sagen zu dürfen, daß ich in der Tat jener Weihestunde im Wirbel des Lebens nie ganz vergessen, ihre Nachwirkung oft gefühlt habe.

Wir verließen den Kirchhof auf der entgegengesetzten Seite und stiegen den gewundenen Fußweg am südlichen Abhang des Kirchenhügels hinab. Als wir an dem behaglich in seinem hübschen Baum- und Gemüsegarten liegenden Pfarrhof vorüberkamen, wo der Ortsgeistliche wohnte, ein stattlicher Herr, der zugleich die Würde des Kapiteldekans bekleidete, wurde uns von der rundlichen Jungfer Base desselben, welche in der ganzen Gegend des unbestrittenen Rufes genoß, die weißesten Hauben zu tragen, die edelsten Spargel zu ziehen und die Weichselkirschen am delikatesten »einzumachen«, über die niedrige Gartenmauer ein freundlicher Morgengruß geboten. Zugleich lief die gute Base hurtig zu dem Frühtraubenspalier, welches an der Hauswand mit verlockend dunkelblauen Früchten prangte, und im nächsten Augenblick streckte sie ihre runde Patschhand über die Mauer herab, eine prächtige Traube haltend, welche in meiner Mütze aufzufangen ich keineswegs lässig war.

»Ist der Herr Dekan schon auf?« fragte mein Vater die freundliche Spenderin.

Die Traubenbeere, welche ich in den Mund genommen, blieb mir bei dieser einfachen Frage vor Schrecken in der Kehle stecken; denn mir kam plötzlich der Gedanke, der Vater beabsichtige, mich bei dem Herrn Dekan in die Lehre zu geben. Ich hatte vor Sr. Hochwürden einen heiligen Respekt und wußte, daß er jedenfalls noch weit kürzeren Prozeß mit mir machen würde, als der Rektor des Lyzeums gemacht hatte.

Als daher mein Vater auf die Antwort der Jungfer Base, der hochwürdige Herr sei gestern abend ziemlich spät von der Kapitelskonferenz heimgekommen und ruhe jetzt noch, ohne weitere Bemerkung seinen Weg bergabwärts fortsetzte, wohlete es mir ordentlich. Ich sollte jedoch bald erfahren, daß ich, sozusagen, aus einem bloß befürchteten Regen unter eine wirkliche Traufe kam.

»Was die Trauben schon süß sind!« sagte ich, indem ich mir es im Gehen schmecken ließ.

»Er handelt sich jetzt nicht um süße Trauben, sondern um bittere Früchte alberner Streiche,« entgegnete mein Vater.

»Aber koste doch 'mal,« sagte ich, da ich wohl wußte, was für ein Traubenliebhaber mein Vater war.

Ich bot ihm die halb geleerte Traube über den Weg hinüber. Er nahm eine Beere, dann eine zweite; wir blieben stehen, und während wir gemütlich die Gabe des Bacchus miteinander verzehrten, ging folgender Dialog vor sich.

»Wie war's mit deinem consilio abeundi, Michel?« fragte mein Vater.

»Ja, siehst du,« erwiderte ich, »der langhalsige französische Sprachlehrer ist eigentlich an der ganzen Geschichte schuld.«

»Der? Wieso?«

»Weißt du? ich kann das verhenkerte Genäsel, das Französische nicht ausstehen ...«

»Da hast du recht, ganz recht ... das heißt, ja, siehst du, das heißt, alles Französische taugt keinen Pfifferling ... indessen, hm, indessen ...«

Ich verbiß ein Lachen über die Verlegenheit meines Vaters, so gut ich konnte. Er bemerkte es aber doch und sagte:

»Wart', du kleiner Schurke, du willst mich an meiner antifranzösischen Gesinnung fassen? Was du da von dem langhalsigen Franzosen vorbringen wolltest, ist wohl eitel Fabulei und Firlefanz?«

»Bewahre Gott! Die Sache war sehr ernsthaft. Der Berthold und ich ...«

»Ja, ja, der Berthold! Das ist grade so ein Bursch wie der Michel. Aber, lieber Junge, bedenke, der Berthold ist der einstige Besitzer der schönen Freiherrschaft Rothenfluh, das heißt, er gehört zu den wenigen, welche nicht zu arbeiten und am Ende auch nicht sehr viel zu wissen brauchen; der Michel aber gehört zu den vielen, welche arbeiten müssen und daher auch etwas wissen müssen. Doch weiter im Text!«

»Der Berthold und ich waren neulich für drei Stunden ins Karzer gesteckt worden auf Betreiben des Franzosen ...«

»Der Mann wird seine Gründe dafür gehabt haben, meine ich.«

»Er meint es auch. Nämlich er hatte uns, den Berthold und mich, erwischt, wie wir während seiner Sprachstunde unter dem Subsellio in einem Geschichtenbuch lasen.«

»In was für einem Geschichtenbuch?«

»In Fouqués ›Zauberring‹.«

»Da wollt' ich, er hätte euch das dumme Buch recht tüchtig um eure dummen Köpfe geschlagen. Schämt ihr euch nicht, solches Zeug zu lesen, auf oder unter dem Subsellio? Bei Wodan und Frouwa, der Fouqué war von jeher ein Phantast, ein vollständiger Narr. Es hat nie solche Ritter gegeben, wie er sie aus Marzipanteig knetete.«

»Wir konnten das aber nicht wissen, der Berthold und ich. Auch war in dem Buche so gar viel Schönes von den Schlachtrossen der Ritter zu lesen.«

»Dummes Zeug, Junge, purer Unsinn. Ich sag' dir, Fouqués Gäule sind Zuckerbackwerk wie alles andere. Aber weiter!«

»Im Karzer machten wir einen Anschlag, es dem Franzosen einzutränken ...«

»Wirklich? Die Strafe scheint sehr bessernd auf euch gewirkt zu haben, das muß ich sagen.«

»Vorgestern brachte der Berthold Knallbonbons mit in die Schule und verabredete mit mir, wie wir damit dem Franzosen einen Tort antun wollten.«

»Schlingel!« sagte mein Vater und zog die Brauen zusammen, aber ich bemerkte, daß zugleich die humoristischen Linien um seine Mundwinkel leise zu zucken begannen, und fuhr daher ungeschreckt fort:

»Wir hielten die Knallbonbons unter dem Subsellio bereit und stellten uns, als ob wir während der französischen Sprachstunde wieder in einem Buche unter der Bank läsen. Der Franzos glaubte, es geschähe wirklich, kam wie der Blitz herbeigefahren, guckte unter die Bank und steckte, da er etwas kurzsichtig ist, den Kopf recht tief in das Zwischenfach. Nun rissen wir im selbigen Augenblick die Bonbons entzwei und der Knall ging los, hart vor seiner Nase. Er fuhr zurück und torkelte in seinem Schrecken an die große Rechentafel. Diese fiel um mit samt ihrem Gestell, und Tafel und Gestell und Franzos kegelte alles bunt über Eck auf dem Boden hin. Es war ein großer Spektakel.«

»Heillose Buben!« murmelte mein Vater rasch, eine Traubenbeere zwischen seine Lippen schiebend, die sich unwillkürlich zum Lachen geöffnet hatten.

»Der Franzos, als er sich wieder aufgerabbelt hatte, mit verwirrter Frisur und voll Staub, welschte ganz verworrenes Zeug durcheinander von attentat und assassinat und machte sich dann fort, ganz käsebleich.«

»Kein Wunder! Schändliche Attentäter, die ihr seid! Aber dann?«

»Dann hielt der alte Rektor gestern im Beisein sämtlicher Professoren und Präzeptoren und Schüler ein großes Gericht. Der Franzos mußte ihm ganz ungeheuerliche Sachen vorgeschwatzt haben, denn der alte Herr war wie ein Berserker, ganz wie ein Berserker.«

»Berserker – das ist gut. Woher hast du den Ausdruck, Junge?«

»Von dir, Vater. Du hast mir ja 'mal von den altnordischen Wikingern und Berserkern erzählt.«

»Ja, richtig. Also der alte Rektor spielte euch nach Verdienst mit?«

»Er hielt zuerst einen langen Strafsermon, worin er sich, wie er sagte, über die Pflichten eines jungen Menschen im allgemeinen, dann eines jungen Christen im speziellen und endlich eines jungen Menschen, Christen und Lyzeisten im speziellsten verbreitete.«

»Das kommt mir nicht eben berserkerhaft vor.«

»O, Vater, es kam sofort besser, das heißt schlimmer. Der Sermon war bloß langweilig gewesen, hatte sich also noch ertragen lassen. Als nun aber der Alte ...«

»Der Alte? Nimm dich in acht, Junge! Gelbschnäbeln, wie du einer bist, geziemt es, mit Ehrerbietung von einem Manne zu reden, der in Ehren alt geworden ist. Bei Wodan und Frouwa, ich sag': laß mich so einen flegelhaften Ausdruck nie wieder hören!«

»Ich wollte sagen, der alte Rektor sei dazu verschritten, uns zu verhören, und da ...«

»Da versuchtet ihr zu leugnen? Schlechte Kerle!«

»Nein. Der Berthold meinte nur, der Herr Sprachlehrer habe aus einem Floh einen Elefanten gemacht ...«

»Und du?« »Ich sagte, ich könne die Franzosen im allgemeinen, die französischen Sprachlehrer im speziellen und unsern französischen Sprachlehrer im speziellsten nicht leiden.«

»Halunke, du persifliertest den Rektor, was?«

»Es kam mir nur so gerade auf die Zunge, der Herr Rektor wurde ganz rot vor Ärger, und als nun der Berthold sich noch dahin verlauten ließ, der Monsieur hätte ja auch gar nicht nötig gehabt, seinen Kopf so tief in das Subsellienfach zu stecken, da ...«

»Da?«

»Da vergaß der Herr Rektor seine und unsere Würde so sehr ...«

»Eure Würde? Wirklich? Bursch, du bist verrückt? Die Würde von ein paar schlingelhaften Lyzeisten? Das ist groß, bei Wodan und Frouwa! Hoffentlich schrieb er euch das Testimonium eurer Würde recht leserlich auf den Rücken.«

»So tat er. Als er es aber gar zu arg machte... das schadenfrohe Feixen und verhaltene Kichern von allen den kleinen Jungen um uns her war gar zu unausstehlich ... ja, als er es zu arg machte und gar nicht aufhören wollte, da ... ich weiß selber nicht mehr, wie's kam ... der Teufel mußte sein Spiel haben ... kurz, ich bückte mich, erwischte den alten Herrn bei den Beinen und, plumps, lag er rücklings auf dem Boden, mit seinem Rohr wild in der Luft herumfuchtelnd.«

Mein Vater räusperte sich gewaltig, als wäre ihm ein Traubenkern in die Luftröhre geraten.

»Nun gab's halt einen großen Tumult,« beschloß ich meine Beichte. »Alles fuhr ganz wütend auf mich und den Berthold los. Ich hab' da, glaub' ich, tüchtig um mich geschlagen, und wenn mir recht ist, kriegte bei dieser Gelegenheit auch der Franzos einen Rippenstoß ab. So gelangte ich zur Türe und schoß hinaus, der Berthold hinterdrein ... das ist die ganze Geschichte, Vater.«

»Nicht die ganze, mit deiner Erlaubnis, Michel. Der schmähliche Laufpaß, den man euch nachschickte, war das Tüpfelchen auf das i, gleichsam die Moral dieser erbaulichen Historie.«

»Sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant – weißt du, Vater?«

»Ich weiß, ich weiß, aber du hättest wissen sollen, daß du deiner Mutter durch puerilia, der in Rede stehenden Art schweres Herzeleid verursachen würdest.«

»Das tut mir leid, ja gewiß, Vater, aber ...«

»Aber ich hoffe und will – hörst du, Michel? – daß mit diesem Kraftflegeljahrestück deine Flegelperiode ein- für allemal zu Ende sei. Und noch eins hoffe und will ich, daß du vermittelst besseren Betragens deine Mutter diesen Kummer bald vergessen machst. Man hat nur eine Mutter, Junge, nur eine, und auf der ganzen, weiten Welt wird nie ein zweites Herz so selbstsuchtslos zärtlich für dich schlagen wie das deiner Mutter. Damit genug davon ... So, wie die Sachen stehen, tat ich wohl recht, daß ich heute nacht mich entschloß, den Gedanken, dich mit dem so schnöde gekränkten Rektor auszusöhnen, aufzugeben. Du kannst nicht mehr auf das Lyzeum zurückkehren, es täte nicht gut. Du brauchst einen strengen Zucht- und Lehrmeister und sieh, da sind wir ja vor der Behausung des Herrn Benefiziaten.«


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