Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel,

worin kein Beitrag zur »Naturgeschichte des deutschen Studenten« geliefert, wohl aber eine Ketzerei gegen das Dogma, genannt »Komment« begangen und ferner erzählt wird, wie einer die Poetische Masernkrankheit bekam und was ihn davon kurierte.

Schöne Leserin, sei nicht bange für dein Zartgefühl, es soll nicht verletzt werden! Ich beabsichtige keineswegs, die »Naturgeschichte des deutschen Studenten« mit einem neuen Kapitel zu bereichern oder ein Paar alte derselben zu rekapitulieren. Die akademischen Mysterien, welche gerade nicht immer die reinlichsten sind, sollen von mir nicht ans Tageslicht hervorgezerrt werden. Muß ich doch gestehen, daß die Erinnerung an das studentische Kommersieren, Renommieren, Randalieren, Duellieren mir keineswegs so überwältigend groß und schön vorkommt, daß ich mich versucht fühlte, des Breiteren davon zu reden. Ich werde daher über die materielle Seite meines Studententums nur wenige Worte sagen.

Natürlich trug ich schon nach wenigen Tagen eine dreifarbige Schleife an meiner Uhr, zum Zeichen, daß es mir sehr pressierte, die akademischen Gesetze zu umgehen. Ich war angehender »Burschenschafter« und erinnere mich wohl noch des kindlichen Wonnegefühls, womit ich, das verpönte Schwarz-Rot-Gold unter dem Rocke, an dem geieräugigen »Police-Maier«, dem Häuptling der Universitätspolizeimannschaft, vorüberschritt, an dem Verhaßten, der einem die idyllischen Freuden eines honorigen Nachtrandals so unerbittlich verbitterte und der den durchschnittlich so harmlosen Lärm einer Paukerei auf eine Stunde weit hörte. Uns arme Burschenschafter hatte dieser Obersbirre ganz besonders »auf dem Strich«; denn es war damals verboten, sich als Deutscher zu fühlen oder wenigstens diesem Gefühle lauten Ausdruck zu geben.

In der Burschenschaft lebten die Traditionen der Befreiungskriegszeit fort. Ich will damit nicht leugnen, daß aus den Reihen dieser studentischen Patrioten eine Menge von Leuten hervorging, die sich später als die unterwürfigsten Lakaienseelen und die hartgesottensten Bureaukraten manifestierten. Aber trotzdem steht fest, daß zu meiner Zeit vaterländische Anschauungen, eine edlere Ansicht vom Leben, ein ideales Bewußtsein, eine jugendfrische Begeisterung in der Burschenschaft weit mehr gepflegt wurden als in den landsmannschaftlichen Korps, deren ganzes Dichten und Trachten in den hergebrachten Äußerlichkeiten eines Studententums aufging, dessen Formen nur allzu deutlich an eine barbarische Vergangenheit erinnerten.

Nun, ich entrichtete meinem Alter den gebührenden Zoll, indem ich diese innerlichst leeren und hohlen Formen redlich mitmachte. Ich kommersierte, explenierte, suitisierte, randalierte, ritt, fuhr, kontrahierte, paukte wie die andern auch. Ein Hund – Pudel natürlich – durfte mir ebenfalls nicht fehlen, und ich hatte die stolze Genugtuung, daß derselbe unter dem Namen Hannikel seiner künstlerischen Ausbildung wegen in allen Kneipen berühmt, seiner unausrottbaren Diebesgelüste wegen in allen Küchen der Stadt tödlich gehaßt war.

Beim Rückblick auf meine akademische Laufbahn kommt es mir sehr verwundersam vor, daß die studentische Jugend, deren ganzes Streben nicht so fast auf Freiheit als vielmehr auf totale Willkür der Individualität geht, sich dennoch knechtisch unter jenes abenteuerliche, Komment betitelte Gesetzbuch duckt, welches darauf Anspruch macht, der Kodex eines übrigens ganz abstrakten und, bei Licht betrachtet, inhaltslosen Ehrenbegriffes zu sein, aber in Wahrheit nur ein wunderliches Sammelsurium von Unsinn und Brutalität ist. Ich finde es ganz in der Ordnung oder vielmehr ich kann es mir leicht erklären, daß die fanatischen Anhänger dieser studentischen Konstitution zuletzt, der hohlen Kommentromantik müde, in völlige Erschlaffung versinken und einer nihilistischen Bummelei anheimfallen, welche zwischen Selbstpersiflage und Blödsinn schwankt. Wie oft habe ich bemooste Häupter mit schlaffen Zügen und roten Nasen, die glücklich auf dem bezeichneten Standpunkte angelangt waren, jenes berühmte Bummlerlied singen hören, das unter anderen gleich kostbaren Strophen auch diese enthält:

Wann das Feuer mit dem Wasser,
König Saul und Salmanasser
In der Luft um Sechser fletscht
Und der faule Lazzarone
Aus vertrockneter Zitrone
Tausend Burschenbänder quetscht –
Dann Ade, Ade, Ade,
Dann Ade, Ade, Ade,
Dann Ade, Schatz lebe wohl!

Weiß der Himmel, ich ließ es nicht an Bemühung fehlen, »das Kalb auszutreiben«. Aber ein gewisser mir angeborener Reinlichkeitssinn, um nicht zu sagen Idealismus, sowie die Freundschaft Fabians verhinderten, daß ich mir dabei die Schuhe allzusehr beschmutzte. Der arme Fabian mußte zwar in dem halbklösterlichen Zwinger des theologischen Konvikts leben und konnte so von der akademischen Freiheit und Herrlichkeit nicht sehr viel abbekommen; aber ich ließ es mir doch angelegen sein, in lebhafter Verbindung mit ihm zu bleiben, und sein stiller Einfluß ließ mich nie ganz vergessen, daß ich doch eigentlich »studierenshalber« auf der Universität sei.

Ich studierte auch wirklich, wenigstens zeitweise. Fabians Zureden und Beispiel brachte mich dazu, die philosophischen und theologischen Disziplinen mit Ernst anzugreifen. Allein je mehr ich mich bemühte, in dieselben einzudringen, desto lebhafter wurde in mir das Gefühl, daß ich zum Gelehrten und Theologen nicht das Zeug habe. Schon der Gedanke, ein Büchermensch zu werden, erschreckte mich, und wenn Fabian mir von dem Glücke redete, dereinst auf einer stillen Landpfarre den Musen und einem stillbegnügten, harmlosen Genuß des Daseins zu leben, schnitt ich wohl seine Bemerkungen mit dem Ausruf ab: »Ach, geh mir! Ich möchte lieber Spektakel machen und alles kurz und klein schlagen!«

Fabian war eine jener glücklich organisierten Naturen, in welchen die Woge der Leidenschaft zwar manchmal auch aufschäumte, aber nie, ohne daß sich fast augenblicklich das Öl von früh an gewohnter Resignation besänftigend darauf gösse. Ich wußte, er liebte meine Schwester mit der ganzen Innigkeit seiner Seele, ich sah, wie seine stillen, sanften Augen aufleuchteten, wenn ich ihm Grüße von Hildegard überbrachte, aber der Hoffnung hatte er schon entsagt, und nie mehr seit jenem gewaltsamen Ausbruch seiner Gefühle an der Breunighalde hatte er seine Empfindungen laut werden lassen.

Seltsam, Fabian wirkte auch in dieser Richtung so wohltätig auf mein leidenschaftliches Gemüt, daß ich ohne allzu große Aufregung erfuhr, Isolde sei, von Hildegard begleitet, wirklich nach der Residenz abgereist. In dem Brief, in welchem der Vater mir diese Neuigkeit mitteilte, verpflichtete er mich, während des Aufenthalts Isoldes in der Residenz diese nicht zu besuchen. Ich gehorchte, wenn auch seufzend, und mein Gehorsam wurde dadurch belohnt, daß mir der Vater die Mittel zur Verfügung stellte, in den Osterferien eine Reise nach Norddeutschland und in den Herbstferien eine Schweizerreise machen zu können.

In Erwartung dieser Genüsse tröstete ich mich damit, daß mir Hildegard aus der Hauptstadt schrieb, Isolde rede täglich von mir und gefalle sich so wenig in dem residenzlichen Treiben, daß sie ihren Vater dringend anliege, sie nach Rothenfluh zurückzurufen. In einem weiteren Schreiben Hildegards war sehr viel von Berthold die Rede, der jetzt Offizier geworden sei. Die Äußerungen meiner Schwester waren aber so verworren, daß sie mir erst klarer wurden, als zur gleichen Zeit der Vater in einem Briefe die Äußerung hinwarf, der gute Freiherr sei oft sehr verstimmt; er habe Kummer, denn sein Sohn in der Residenz scheine auf bedenkliche Abwege geraten zu sein. In einer Nachschrift empfahl mir der Vater lebhaft neben meinen übrigen Studien meine Weiterbildung in den modernen Sprachen, selbst das »widerwärtige Genäsel«, das Französische, nicht ausgenommen, ja nicht zu vernachlässigen. Man könne nicht wissen, wozu das noch gut sei, und abgesehen davon, müsse mir es ja Vergnügen machen, die großen Autoren der Fremde in ihrer eigenen Sprache lesen zu können.

Weil ich nun, ein gehorsamer Sohn, soviele ausländische Poeten las – daß ich die einheimischen las, versteht sich von selbst – und weil mir daneben Rhythmus und Reim ziemlich leicht von der Hand gingen, kam ich auf den wunderlichen Einfall, selber ein Poet zu sein. Nun, wer hat sich das in den Jahren zwischen achtzehn und zweiundzwanzig nicht eingebildet? Genug, ich machte Verse in allen Metren und Tonarten, verübte ein furchtbares Schauertrauerspiel, und da ein anständiger Dichter doch nicht bloß Lyriker und Dramatiker sein kann, fing ich ein heroisches Epos in Nibelungenstrophen und ein komisches in Ottave rime an. Alle diese klassischen Produkte schrieb ich mit vielem Behagen recht nett ins Reine und hatte dann eine rührende Freude daran. Hielt auch noch extra ein poetisches Tagebuch, um es dem Petrarka gleichzutun, und ich erinnere mich, daß das hundertmal variierte Schlußterzett meiner Sonette die immer wiederkehrenden Reime hatte: »Isolde – Haar von Golde – einzig Holde.«

Der Herr Kandidat Rumpel, welcher nicht zum Vorteil meiner Finanzen meine Gesellschaft häufig suchte, pries mit Emphase meinen dichterischen Genius. Sogar die Vorlesung meines Trauerspiels stand er aus, freilich bei einem hinlänglichen Vorrat von Wein, und schrie am Ende zustimmend: »Kolossale Tragödia! Sie übermüllnern den Müllner, überhouwalden den Houwald, und der Werner muß vor Ihnen Pech geben. Das heißt in der Tat den ›Gründlingen des Parterre‹ – wissen Sie? – mit schaudererweckendem Gedonner an die Tränendrüsen schlagen. Ganz äschyleisch, ganz shakespearisch, ganz! Ich prophezeie Ihrer Schöpfung mit dem alten Horaz:

... Hic liber mare transit
Et longum noto scriptori prorogat aevum
.

Der Ruf dieses Werkes wird meerüber dringen
und seinem Verfasser langdauernden Ruhm bringen.

Zwar könnte ein Kritiker von der gewöhnlichen Sorte gegen Ihr Poem den ledernen Einwand erheben, von Rechts wegen müßten selbst in dem traurigsten Trauerspiel von den Personen immer noch eine oder zwei übrigbleiben, um die andern zu begraben; ich aber verachte mit Ihnen derartige philiströse Utilitätsprinzipien. Sie verstehen aufzuräumen, ja, beim Jupiter. Vielleicht könnten Sie es noch nachträglich so einrichten, daß ganz zuletzt auch noch der Souffleur auf irgend eine erschütternde Art die Spitze der auf der Bühne getürmten Leichenpyramide abgäbe – wissen Sie? Doch kurz und gut, Ihre Tragödia ist klassisch durch und durch, kolossal, pyramidal lapidarisch!«

Freilich war ich nicht einfältig genug, den handgreiflichen Spott in dieser Huldigung nicht zu merken, aber doch einfältig genug, Rumpels Zustimmung höher zu schätzen als die verständigen Bemerkungen, welche Fabian über meine Dichterei machte. Er war augenscheinlich nicht sehr erbaut davon, da er ein feines Gefühl für das Ursprüngliche und Schöne besaß, und riet mir, wahrscheinlich um mich von meiner Reimwut zu kurieren, ich möchte meine Gedichte doch einmal dem berühmten Ästhetiker von der Hegelschen Schule, welcher an unserer Universität las und dessen Kollegien ich frequentierte, zur Beurteilung vorlegen. Gut, dachte ich, du sollst schon sehen, Fabiane! und reichte schon folgenden Tages ein ungeheuer dickes Paket voll Unsterblichkeitshoffnungen bei dem Professor ein. »Nun,« fragte mich nach einiger Zeit der Fabian, »was hat er gesagt?« – »Nichts,« erwiderte ich brummend. Der Fabian sagte dann auch nichts mehr, weil er mich nicht wilde machen wollte.

In der Tat, der geistvolle Professor hatte nichts gesagt. Das dicke Paket war wohlversiegelt wieder zurückgekommen, ohne ein aufmunterndes oder ein verwerfendes Urteil zu enthalten.

Fortan machte ich keine Verse mehr. Was die schon gemachten betraf, so verbrannte ich sie nicht, denn bekanntlich würde sich ein Poet, sei es ein wirklicher oder ein bloß eingebildeter, lieber die Nase abbeißen, als die Kindlein seiner Phantasie dem Feuer opfern; aber ich schob sie in einen Winkel und hinterließ sie bei meinem Abgange von der Universität großmütig meinem Hausphilister, einem Viktualienkrämer, zu beliebigem Gebrauch. Als mich später wieder einmal mein Weg durch die Universitätsstadt führte und ich in einem öffentlichen Garten ein Glas Bier trank, wehte mir der Wind von einem der benachbarten Tische ein Blatt Papier vor die Füße, in welches ein ehrsamer Bürger den Käse gewickelt hatte, den er zu seinem Vespertrunk aß. Als mein Blick mechanisch auf das Papier am Boden fiel, erkannte ich auf dem so schnöde mißbrauchten meine eigenen Schriftzüge, ja sogar die ewigen Reime: »Haar von Golde – Isolde – einzig Holde« – und wehmütig sprach ich mit Schillers Thekla: »Das ist das Los des Schönen auf der Erde«. Ich hoffe, der geneigte Leser, welcher ja wohl auch einmal Verse gemacht hat oder gar noch jetzt macht, werde mir diese Wehmut zugute halten.

Ich machte also keine Verse mehr. Aber die Liebe zur Poesie ließ ich mir durch die Erkenntnis, daß ich selber kein Poet sei, nicht verleiden, und wohl mir, daß ich es nicht tat. Diese Liebe ist ein großer Segen meines Lebens geworden, ein Trost in Leiden und Mühen, eine nie versagende Erfrischung der Seele. Es ist der Fluch der modernsten Erziehung, daß ihr bronzestirniger und mühlsteinherziger Materialismus mit bleierner Hand den Schmetterlingsflügelstaub der Poesie von den Schwingen der Kinderseelen wischt. Daher diese Generation von egoistischen Einmaleins-Menschen, welche jetzt heranwachsen und das ganze Leben zu einem grauenhaft öden Rechenexempel zu machen drohen. Der Engländer Dickens hat mit der ganzen ätzenden Schärfe seines Humors in der Figur des Mr. Gradgrind diesen unheilvollen Materialismus gebrandmarkt. Ach, bereits wimmelt es überall von solchen Gradgrinden, und traurige Vorzeichen deuten auf eine bevorstehende Götterdämmerung für die Welt der Schönheit. Doch getrost, die Edda prophezeit ja, daß aus dem Schutt Ragnaröks eine neue Welt emporgrünen werde, jugendlich schön und hold und heiter.


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