Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

Wer sucht, der findet, wenn auch nicht immer das, was er sucht. – Autor tut ein gutes Werk an einer »immens« mürben Seele, treibt dann etwas Naturschwärmerei und gerät bei dieser Gelegenheit in die Lage, für einen Spitzbuben gehalten zu werden.

Am folgenden Tage frühmorgens in Weesen angelangt, brachte ich in Erfahrung, daß die Reisegesellschaft, welcher ich nachging, vorgestern zur Mittagszeit von da rechts hinüber ins Glarnerland sich gewendet habe. Im Flecken Glarus wußte mir der Adlerwirt zu sagen, daß eine Gesellschaft von drei Personen, deren Beschreibung auf die von mir gesuchten vollständig paßte, vorgestern spät abends vom Klöntal her in seinem Hause eingetroffen sei und daselbst übernachtet habe. Sie hatten demnach wohl von Nettstall aus einen Abstecher an den Klönsee gemacht, der, einer der reizendsten Hochalpenseen, die Felsenwände des Glärnisch bespült. Aber Fräulein Julie schien vorläufig noch nicht sehr wildnis- und gletscherlustig zu sein, denn sie hatte – erzählte der Adlerwirt – den Vorschlag, nach Stachelberg zu gehen und, von dort aus die Pantenbrücke ustd die den Tödigletschern gegenüberliegende Sandalp zu besuchen, abgelehnt, und so waren die drei gestern früh nach Mühlehorn am Wallensee hinuntergefahren. Der nämliche Schiffer, welcher die Gesuchten von dem zuletzt genannten Orte nach Wallenstadt hinübergerudert hatte, brachte auch mich dahin und sagte mir, er habe dort noch mit angesehen, wie die drei Extrapost nach Ragaz genommen hatten. Ich tat sofort ebenso und gelangte in später Nacht in den »Hof Ragaz«, welcher noch vor kurzem der Sommersitz Sr. fürstlichen Gnaden des Abtes vom (jetzt in ein Irrenhaus verwandelten) Kloster Pirminsberg war.

Weil mit Ausnahme eines verschlafenen Kellners im Hof Ragaz alles schon lange zur Ruhe gegangen, mußte ich meine Erkundigungen bis zum anderen Morgen verschieben. Da erfuhr ich dann, daß die drei richtig dagewesen und von Ragaz nach dem Bade Pfäffers gegangen seien. Das war natürlich, denn wer wird jene Gegend besuchen, ohne die prächtige Taminaschlucht sehen zu wollen? Aber trotzdem, daß ich meine Verfolgung möglichst beschleunigt hatte, waren mir die Gesuchten noch immer um zwei Tage voraus. In dem mit Leidenden angefüllten Bade Pfäffers wurde die Fährte, wie ein Jäger sagen würde, schon kälter. Der von mir examinierte Hausmeister wollte sich erinnern, »die schöne junge Dame mit den merkwürdig schwarzen Augen« habe darauf bestanden, das wilde Kalfäusertal und den Sardonagletscher zu besuchen. Der eine der zwei sie begleitenden Herren, der mit dem »kaibisch langen« Schnurrbart, habe das gebilligt, während der andere, »der alleweil an seinem dünnen Schnurrbärtchen herummachte«, dagegen opponierte und meinte, das sei unpraktischer Nonsens und es wäre schon genug,, wenn er sich dazu hergäbe, statt nach Ragaz zurück und von da bequem nach Chur zu fahren, über den Kunkelpaß nach Graubünden hinüberzuklettern. Wie sich der Streit geschlichtet, wußte der Mann nicht zu sagen und er konnte nur noch das eine mit Bestimmtheit angeben, daß die fragliche Reisegefellschaft von Pfäffers nach Valens hinaufgestiegen sei.

Da stieg ich denn auch hinauf, und als sich droben das wildschöne, zwischen dem Kalanda, dem Monteluna und den grauen Hörnern gelagerte Hochtal vor meinen Blicken öffnete, erinnerte ich mich, daß mir Freund Bürger einmal eine Wanderung in diese Bergeinsamkeit empfohlen habe.

In Balens wußte man nichts von den Gesuchten. Vielleicht dachte ich, bin ich drüben in Bättis glücklicher, und in der Tat fand ich auf dem Wege nach diesem am Fuße des Monteluna gelegenen Bergdörfchen etwas, wenn auch zunächst nicht das, was ich suchte.

Indem ich raschen Schrittes den über Alpenmatten und durch Buschwerk sich schlängelnden Fußpfad hinging, sah ich eine weibliche Gestalt in städtischer Kleidung mir entgegenkommen. Sie ging mit gesenktem Kopfe, der aufgespannte Sonnenschirm verdeckte ihre Züge, und in der linken Hand trug sie eine kleine Reisetasche.

Schon beim ersten Anblick der einsamen Wanderin stieg eine Vermutung in mir auf, welche Figur, Haltung und Gang der Dame bei ihrem Näherkommen alsbald bestätigten. Ich stand überrascht still, und den gesenkten Blicken, sowie dem besagten Sonnenschirm der Dame war es zuzuschreiben, daß sie, herangekommen, fast an mich anprallte. Sie stieß einen leisen Schrei aus, wich erschrocken auf die Seite, ließ den Sonnenschirm sinken, und aus dem »lieben, dicken«, jetzt aber blassen und sehr verweinten Gesicht sahen mich die »immens gefühlvollen« Augen von Frau Ziegenmilch voll schmerzlicher Überraschung an.

»Mein Gott, Sie, Herr Hellmuth?« rief sie aus und errötete bis unter die Locken.

Ich faßte freundschaftlich ihren Arm, denn ich fürchtete, sie würde Anstalten machen, in Ohnmacht zu fallen.

»Sie brauchen gar nicht zu erschrecken, meine liebe Frau Ziegenmilch,« sagte ich. »Sehen Sie, ich bin ganz glücklich, Sie so unvermutet, hier zu treffen, und ich kenne einen, der noch viel glücklicher sein wird, Sie von Ihrer Badereise heimkehren zu sehen.«

»Von meiner Badereise? Ach, Sie wissen nicht –«

Ein Strom von Tränen erstickte die Stimme der armen dicken Entführten.

»Doch, doch,« sagte ich, »ich weiß genug. Unter anderem, daß Herr Ziegenmilch jedermann mitteilte, Sie seien nur auf einer kleinen Badereise abwesend, und daß er gegen mich speziell äußerte, das Essen schmecke ihm gar nicht mehr, seit er das liebe Gesicht seines Frauli nicht mehr bei Tische gegenüber habe, und daß er schon deshalb dringend wünschte, die Badekur möchte recht bald zu Ende sein.«

»Wäre es möglich? ... Der arme, gute Oskar! ... Sehen Sie, Herr Hellmuth, Sie erscheinen mir wie ein Engel vom Himmel und ... Sie waren immer gut gegen mich, immens gut ... und ... und ich Törin habe Ihre immens wohlgemeinte Warnung nicht beachtet ... Ach, du lieber Himmel, was es doch für schlechte Menschen in der Welt gibt! Es ist immens! ... Und Sie meinen also, mein armer guter Oskar werde mir verzeihen? ... Aber sehen Sie, bester Herr Hellmuth und wertester Freund, ich darf sagen, ich muß sagen ... ja, ich habe mir nur Leichtgläubigkeit und Unbesonnenheit vorzuwerfen.«

»Natürlich! Ich glaube es, glaube es von ganzem Herzen,« beteuerte ich. In der Tat, das arme, kurze, runde, geschorene Schäflein dauerte mich. Die Gute sah in ihrer Scham, ihrer Reue, ihrem Beben und Weinen recht erbarmungswürdig aus.

Daß ich soeben von ihr als von einem geschorenen Schäflein sprach, hatte übrigens seinen guten Grund.

»Darf ich fragen,« sagte ich, »welchem Umstande ich das Glück verdanke, Ihnen in dieser Halbwildnis zu begegnen?«

»O,« versetzte sie, »ich schäme mich so immens ... Sehen Sie, ich glaubte, alle Leute müßten mir's ansehen, was für eine leichtfertige und törichte Frau ich sei. Ich hatte einmal von diesem einsamen Tale reden hören und bin da heraufgestiegen, um meine Scham und meinen Kummer in der Einsamkeit zu verbergen. Ich wollte schon gestern und vorgestern und ehevorgestern an Oskar schreiben, wagte es aber aus immenser Furcht nicht. Ich wünschte zu sterben, aber der Tod kam nicht und heute mußte ich aus der Herberge in Vättis fort, weil –«

Sie stockte und ward womöglich noch röter als zuvor. Es war auch wirklich für eine Frau, welche sich, wie man in der Schweiz zu sagen pflegt, in »hablichsten« Umständen befand, keine Kleinigkeit, zu gestehen, daß ihr das Geld völlig ausgegangen sei.

Um ihr Zartgefühl zu schonen und sie um so leichter zu bewegen, zu Oskar Ziegenmilch und Komp. heimzukehren, dichtete ich ein wenig und sagte, der mehrerwähnte Oskar habe mir ausdrücklich aufgetragen, seine teure Lelia mit allem Nötigen zu versehen, falls ich so glücklich wäre, sie zu treffen.

Entweder nahm sie in ihrer Aufregung diese Poesie für Wirklichkeit, oder sie hatte Takt genug, wenigstens so zu tun. Aber eine Frau, die jahrelang Käse ausgewogen hat, ist in Geldsachen skrupulös, und so sagte sie denn mit sehr gesenkten Augen und einem »immensen« Seufzer:

»Hat Ihnen mein lieber, guter Oskar – ach, jetzt weiß ich Unglückliche erst, welch ein liebes, gutes Manni er ist – hat er Ihnen nichts von meinem Schmuckkästchen und – und von dem Taschenbuch mit – mit Geld gesagt?« »Doch, meine liebe Frau. Aber Herr Ziegenmilch ist ein ebenso nobler als praktischer Mann. Wissen Sie, was er in betreff der erwähnten Gegenstände zu mir sngte?«

»Was? Um Gottes willen! Sie spannen mich auf die Folter.«

»›Wenn nur‹ sagte er, ›mein Liseli – entschuldigen Sie, er gebrauchte diesen Ausdruck –‹«

»Der liebe, liebe Mann! Ja, ich will wieder sein Liseli sein. O, Herr Hellmuth, ich habe in diesen kummervollen Tagen einsehen gelernt, was ich mir seit langer Zeit schon für immens törichte Grillen in den Kopf gesetzt. Wenn dieser Kelch an mir vorübergeht, will ich wieder sein, wie ich vormals in der Spiegelgasse war. Ach, damals ist eine glückliche Zeit gewesen ... Aber was sagte mein lieber, guter Ziegenmilch?«

»Er sagte: ›Wenn nur mein Liseli wieder heimkäme! Der Schmuck und das Taschenbuch, welche Dinge sie aus Versehen mitgenommen, sie mögen meinetwegen zum Henker – rumpeln.‹«

Das mir unwillkürlich entwischte Wortspiel setzte die gefühlvolle Seele der kleinen Runden in Zornflammen.

»Der Elende!« rief sie aus, wieder weinend, aber jetzt vor Entrüstung. »Der gemeine Mensch, den ich wie einen Propheten und Heiligen verehrt hatte! ... Er hatte mich von Konstanz über den Bodensee nach Lindau, von dort zurück nach Rorschach und von da das Rheintal herauf nach Chur geführt, wo er, wie er vorgab, mich in einen Kreis von Erleuchteten einführen wollte. Statt dessen entlarvten an dem genannten Orte seine – ach, wie soll ich mich ausdrücken, ohne vor Scham in die Erde zu sinken? – seine immens unzarten Zumutungen mir die ganze Schwärze seiner Seele. Ich machte aus meiner Empörung kein Hehl und – und am Morgen darauf war der Schändliche, der Heuchler, der – der – verschwunden und –«

»Und hatte Schmuckkästchen und Taschenbuch mitgenommen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun, meine liebe Frau Ziegenmilch, Sie müssen sich das nicht weiter anfechten lassen. Ihre Geschichte ist nur eine Illustration mehr zu dem vor fünfhundert Jahren in den Rosenlauben von Schiras von dem alten Hafis, der freilich ein Erzketzer war, gedichteten Text:

Traue keinem Heiligen!
Süße Worte spricht er;
Aber in der Kutte steckt
Immer ein Halunke.«

Lelias gefühlvolle Seele war durch ihre Erlebnisse in Chur und dann durch die dreitägige Einsamkeit in Vättis so mürbe gemacht worden, daß sie sich widerstandslos meinem Anerbieten fügte, sie über Valens nach Ragaz hinab zu geleiten, von wo sie mit der Nachtpost nach Hause zurückkehren sollte. Auf dem.Wege durch den Bergwald abwärts, erfuhr ich zum Dank von meiner Schützlingin, daß Fräulein Kippling mit ihren zwei Reisegesellschaftern allerdings durch Vättis gekommen sei und dort einen Führer über den Kunkelpaß genommen habe. Etlichen von den Wirtsleuten in Vättis aufgeschnappten Äußerungen der drei Reisenden zufolge – Frau Ziegenmilch selbst hatte es nämlich nicht für gut befunden, der »hochmütigen, spottsüchtigen« jungen Dame unter die Augen zu kommen – hatten dieselben die Absicht gehabt, nach Chur und von da in die Engadiner Berge zu gehen.

Nachdem ich demnach mein gutes Werk nach Möglichkeit vollendet, das heißt die kleine, runde, zerknirschte Exentführte sicher in dem Postwagen untergebracht hatte, fuhr ich selber in entgegengesetzter Richtung mit der Abendpost nach der Hauptstadt Graubündens hinauf. Dort, im Hotel zum Steinbock traf ich wieder sichere Spuren von den von mir Gesuchten.

Diese Spuren wiesen richtig ins Engadin, wohin ich mich am folgenden Tage ohne Zögern auf den Weg machte. Aber jenseits des Julierpasses ging die Fährte aus oder, tauchte wenigstens nur strichweise wieder auf. So in Samaden, Sankt Moritz, Pontresina. Eine vage Vermutung deutete ins Bergell hinüber.

So vertiefte ich mich denn ganz aufs Geratewohl in die erhabenen Wildnisse der Berninakette.

Es ist dafür gesorgt, daß die Größe und Schönheit der schweizerischen Alpenlandschaften nicht von Touristenfüßen platt getreten werden kann. Szenen, wie das obere Reußtal oder das Haslital oder Rosenlaui, Grindelwald, die Wengernalp, das Öschinen- und Gastertal, das Faulhorn, der Wildstrubel, aus dessen Gletschern die »sieben Brunnen« der Simme hervorspringen, der Blick vom Rohrbachstein am Rawyl auf die Walliser Bergkolosse, die Gemmi und der Gornergrat, das Äggischhorn und die Bellalp sie bieten, werden neu und groß bleiben, solange ein Menschenauge sie betrachtet. Aber um den Vierwaldstätter See her und über dem Berner Oberland lagert doch schon eine widerwärtige Touristenatmosphäre, in welcher eine noch widerwärtigere Touristenindustrie gar üppig gedeiht. Es stoßen einem da auf Schritt und Tritt doch gar zuviele rotgebundene Murrays und Bädekers und Krinolinenballons von allen Farben auf. Die Kultur leckt schrecklich zudringlich an jenen Gegenden herum. Dahinten dagegen, in den Bündner Alpen, da gibt es noch weite Strecken, wo die Alpenuatur in jungfräulicher Majestät und Einsamkeit thront. Wenigstens fand ich sie noch so, als ich sie daselbst suchen ging.

Denn, seltsam, als ich erst ein paar Tage durch diese herrlichen Wildnisse gestreift, hatte ich den eigentlichen Zweck meines Hierseins so ziemlich vergessen. Nicht zum erstenmal, aber jetzt stärker als früher erfuhr ich den selenlösenden Zauber der Alpenwelt. Was kümmern einen in diesen reinen Lüften die kleinen Interessen und dumpfen Sorgen der Welt da drunten? Ein Odem primitiver Poesie geht von diesen Felskolossen, diesen in der Morgensonne glühenden Firnen, diesen stürzenden Gletscherbächen aus, hebt die Brust, weitet die Seele und erfüllt sie mit reinen Gedanken und süßen Träumen. Was du je Schönstes und. Bestes gesehen, gelesen, erlebt, wird wieder in dir wach, oder auch gehst du in seliger Selbstvergessenheit immer weiter hinein in die heilige Einsamkeit.

Aber ich hatte doch unrecht zu sagen, die Kultur habe noch nicht in die prachtvolle Öde hineingegriffen, welche ich durchwanderte. Denn ich sollte komisch genug erfahren, daß selbst die entlegensten Alpentäler vor der Zivilisation, wenigstens in der Erscheinungsform der Polizei, nicht mehr sicher seien.

Ich hatte am dritten Abend meiner Streiferei in einer einsamen Sennhütte eingesprochen und mich, nachdem ich meinen Hunger mit jener Alpenspeise gestillt, welche den mysteriösen Namen Käsappen führt, reisemüde auf die duftenden Schwaden des Heugadens gestreckt. Die Augen fielen mir bald zu, aber nach einiger Zeit erweckte mich Stimmengeräusch in dem anstoßenden Raum der Hütte, welcher nur durch eine schadhafte Bretterwand von meiner Schlafstätte getrennt war. Ich unterschied die Stimme meines Wirtes, des Sennen, und noch zwei andere, mir gänzlich unbekannte Männerstimmen. »Potz Herrgöttlihagel!« sagte die eine. »Das war' nun schön, Vale, wenn er's doch nicht wäre. Sind dem Kerl den ganzen Tag nachgestrichen, über Stock und Stein, über Steige, die eigentlich ein Christenmensch gar nicht gehen sollte. Und jetzt sollt's der Unrechte sein. Kaibisch dumm das!«

»Ja, weißt du, Sale,« erwiderte die andere unbekannte Stimme, »ich hatte gleich so meine Zweifel, als wir den Kerl da unten beim Feisisbach näher zu Gesicht kriegten. Sagte dir ja, seine Postur passe nicht zum Signalement.«

»Ach was, Vale, du willst immer ein Doktor G'scheitle sein. Man kann eben einem Vaganten das Signalement nicht recht anmessen, wenn man ihn nur so flüchtig und gar nur von hinten zu sehen kriegt. Aber, sag' ich, was hat ein Mensch in dieser verflucht einsamlichen Weltgegend, wo's nicht einmal Schnaps, geschweige Wein gibt, herumzustrolchen, wenn er kein schlechtes Gewissen hat?«

»Da ist was d'ran, Sale.«

»'s ist eben so ein verrückter Dütschländer,« mischte sich der Senn ins Gespräch. »Steigt seit einigen Jahren dann und wann so ein Fremder da herum und lugt sich an unseren Bergen schier die Augen aus. Kuriose Leute, diese Dütschländer, schätz' ich.«

»Ja, lauter Halbnarren, bim Eid!« meinte der Sale. »Wenn's wirklich ein Dütschländer ist, wie Ihr an seiner Sprache gemerkt haben wollt, Senn, so hab' ich mir, bim Strahl, in diesen kaibischen Bergen umsonst Blasen an die Füße gelaufen. Und Ihr sagt, der Kerl habe einen großen schwarzen Bart?«

»Den hat er.«

»Könnte aber auch ein falscher Bart sein. O, man kennt, bim Eid, die Finten der fürnehmen Spitzbuben.«

»Aber Sale, er habe ja auch dunkelbraune Augen. Die können doch nicht falsch sein.«

»Das ist wahr, Vale,« gab der Sale widerwillig zu. »Aber weißt du was? Wollen uns den Kerl morgen früh doch ordentlich anlugen. Ist er's nicht, so haben wir, bim Strahl, die rechte Fährte verloren. Und doch wiesen alle Anzeichen auf diese kaibische Gegend. Aber jetzt wollen wir schlafen, denn ich bin hundshagelsmüd'.«

Das Gespräch verstummte, und ich hörte nur noch, wie sich die Männer auf den um die Feuerstelle herlaufenden Bänken zum Schlafen zurechtrückten.

Für mich hatte der Gedanke, für einen Spitzbuben gehalten worden zu sein und zwei Diener der öffentlichen Sicherheit einen ganzen Tag hinter mir hergezogen zu haben, etwas so Ergötzliches, daß ich darüber bald wieder einschlief.

Als ich mir in der Morgenfrühe den Heudunst aus den Augen gerieben und die Halme von den Kleidern geschüttelt hatte, ging ich hinaus, um mich an dem Plumpen Rohrbrunnen vor der Hütte zu waschen. Eigentlich hätte ich ein Bad gewünscht, denn es ist in diesen bündnerischen Sennhütten ein Schmutz, und zwar nicht ein toter, sondern auch ein lebendiger, von welchem sich kein Idyllendichter von Theokrit bis auf Hebel herab träumen ließ. Solche kleine Unzukömmlichkeiten muß man bei wirklichen Alpenwanderugen mit in den Kauf nehmen.

Der Vale und der Sale standen schon da, beide zwar im Zivilanzug, allein ihre ehrenwerten Physiognomien trugen so deutlich den Polizeistempel, daß ich mir von Herzen gratulierte, kein Spitzbube zu sein. Ich bemerkte wohl, daß sie mich mit vigilierenden Blicken ansahen, und daß der Sale heimlich ein Blatt Papier hervorzog, ohne Zweifel das Signalement des Verbrechers, auf den sie fahndeten, um die Angaben desselben mit meiner Erscheinung zu vergleichen. Diese Vergleichung mußte aber nicht das gewünschte Resultat haben, denn der Sale sagte leise zum Vale: »'s ist nüt, bim Eid!« und hierauf frühstückten wir in aller Freundschaft mitsammen, das heißt wir aßen Käse und tranken, in Ermangelung des Brotes, Milch dazu. Dann verließen die beiden Herren von der Polizei die Hütte und gingen das schmale Hochtälchen abwärts, während ich aufwärts weiter wanderte.

Der Senn hatte mir nämlich von einer mächtigen Kaskade gesagt, die wenige Wegstunden von der Hütte entfernt aus einem der Gletscherfelder des Bernina hervorstürze. Diese wollt' ich noch sehen, dann zu der Hütte zurückkehren und von da meinen Weg talabwärts suchen. Aber es kam anders. Ich kehrte nicht wieder an den Ort zurück, denn inmitten der Bergwildnis, wo ich an jenem Tage nur einen Wassersturz suchte, sollte ich plötzlich in abenteuerliche Szenen und erschütternde Katastrophen versetzt werden.


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