Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel,

worin eine lange aus dieser Geschichte verschwunden gewesene Person wieder in dieselbe eintritt.

Einige Tage darauf, an einem Sonntagvormittag, als ich gerade mit meiner Privatkorrespondenz beschäftigt war, trat ein hoher, schlanker, junger Mann mit gebräunten Zügen, im eleganten Zivilanzug, das rote Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch, zu mir ins Zimmer und begrüßte mich mit einer Stimme, welche alle die teuersten Erinnerungen meiner Jugend in mir wachrief.

An der Stimme, an der Art, wie er unser heimisches: »Grüß Gott, Michel!« aussprach, erkannte ich Berthold von Rothenfluh.

Ich hatte ihn nicht mehr gesehen seit den Tagen, an deren einem wir mit unseren Schwestern und dem guten Fabian nach der Breunighalde gewandert waren. Die Jahre, unsere verschiedenen Stellungen im Leben, Unterschiede im Charakter und in der Lebensführung hatten uns getrennt, und es gib noch überdies einen Punkt, das Schicksal Hildegards, welcher geeignet war, diese Entfremdung bei mir zur Abneigung zu steigern. Aber dennoch, als er mich so herzlich ansprach, da war er nur wieder der Berthold, mit welchem zusammen ich alle die lustigen und tollen Streiche meiner Knabenzeit ausgeführt hatte. Alles andere war vergessen.

Berthold glich auffallend dem verstorbenen Freiherrn, in Zügen, Haltung und Manieren. Sogar die Eigenschaft, die Zipfel seines langen Schnurrbarts durch die Höhlung der linken Hand rollen zu lassen, hatte er mit Bodo von Rothenfluh gemein. Dieser war ein stattlicher Mann gewesen, Berthold war das auch. Freilich konnte man seinen hageren Zügen und eingesunkenen Schläfen unschwer anmerken, wie wild er seine Jugend verstürmt habe. Aber dennoch war seine Persönlichkeit keine verwüstete.

Ich mußte ihn unwillkürlich mit Herrn Theodor Kippling zusammenhalten und der Vergleich fiel sehr zu Gunsten Bertholds aus. Jener repräsentierte nur die gemeine Verderbnis der »goldenen Jugend« unserer Tage, dieser hatte in seiner ganzen Erscheinung noch immer etwas Nobles, Kühnes, fast Heldisches. Die Narbenspur, von einem Beduinensäbel zurückgelassen, stand seiner rechten Wange vortrefflich. Weniger ansprechend, falls man sie nicht als Ausdruck heftiger Leidenschaften oder finsteren Stolzes interessant finden wollte, war die tiefe dunkle Furche, welche zwischen seinen Brauen sich eingenistet hatte. In seinen tief in ihren Höhlen liegenden Augen war noch immer Feuer, aber es brannte unstet, düster, zwischen schwermütiger Ermattung und plötzlich wieder auflodernder Wildheit wechselnd. Im letzteren Falle wurde der Blick starr, stechend, unheimlich.

»Du siehst doch deinem Vater auf und eben ähnlich, Berthold,« sagte ich, als er vor mir stand, seine beiden Hände in den meinigen.

»Meinem Vater?« entgegnete er zögernd, und gesenkten Auges. »Ja, die Leute sagen es. Aber er ruhe in Frieden! Nicht allen Söhnen wird es so gut, ohne Vorwurf ihrer Väter gedenken zu können. Ich – nun, das läßt sich nicht ändern. Sprechen wir von etwas anderem.«

Als wir auf dem Sofa beisammen saßen, sagte er:

»Ich danke dir für die Herzlichkeit, mit welcher du mich empfangen hast. Du durftest es, denn Hildegard hat mir verziehen, weißt du? Ich sah sie im letzten Herbst. O, sie ist gut und großmütig – ein Engel! Und sie ist glücklich, wenigstens ruhig und zufrieden. Der Vorwurf wenigstens wäre von mir genommen.«

Seine Redeweise hatte etwas Abspringendes, Fragmentarisches. Es klang darin etwas wie bittere Reue an, welcher doch wieder der Stolz keinen Raum gewähren wollte.

»Die schönsten Bande knüpft doch das Jugendleben,« fuhr er fort. »Tor, wer sie mutwillig zerreißt! Denn kein Gott knüpft die so zerrissenen wieder zusammen. Hildegard hat mir verziehen, aber nur aus Mitleid, ich weiß es. Wie wäre alles, alles anders und besser gekommen! Ich stünde jetzt als ein geachteter Mann in dem Erbe meiner Ahnen, Hildegard mir zur Seite, mit liebevoller Hand die Dämonen von mir scheuchend, vielleicht schon Kinder, meine Kinder, schön und gut wie ihre Mutter, auf dem Schoße wiegend – du, Michel, als Freund und Bruder mir verbunden durch doppelt schöne Bande, denn Isolde –«

»Isolde? Bringst du mir keinen Gruß von ihr?«

»Nein. Ich sah sie seit dem letzten Herbst, wo ich Herrn und Fräulein Kippling von Rothenfluh zu ihr nach Lindach führte, nicht wieder.«

»Aber was macht sie?«

»Sie liebt dich und haßt mich.«

»O, Berthold, was sagst du? Mich, den Kommis, mich sollte Isolde von Rothenfluh lieben?«

»Wie anders? Sie hat dich von Kindheit auf geliebt, und ein Wesen wie Isolde liebt nur einmal.«

»Sie hat es dir gesagt?«

»Gesagt? Keinem Lebenden oder Toten, denk' ich.« »Aber wie sollte Isolde, das beste Herz auf Erden, dich, den einzigen Bruder, hassen? Unmöglich!«

»Und doch. Oder nimm statt des Wortes Haß das Wort Verachtung. Ja, Verachtung sprach aus den lakonischen Zeilen, womit sie mir neulich, als ich ihr angezeigt hatte, daß ich ruiniert sei, ihr Gütchen Lindach anbot.«

»Du erschreckst mich. Du bist ruiniert?«

»Ganz. Ich bin ein Bettler in Uniform.«

»Armer Berthold!«

»Es konnte nicht anders kommen. Ich hatte mich schon als Minderjähriger zu stark mit Wucherern eingelassen. Es ist alles dahin und vorbei.«

Dies sagte er mit verzweiflungsvoller Bitterkeit. Dann sah er eine Weile starr vor sich hin und fügte, wie völlig in seine peinlichen Gedanken verloren, hinzu:

»Alles dahin und vorbei, vergeudet, verlottert, verraft. Was hälfe mir auch Lindach. Es würde nur einen Tropfen ins Meer tragen heißen, auch wenn ich so gemein wäre, Isoldes Anerbieten anzunehmen. Das hieße zum Mord noch den Raub fügen.«

»Zum Mord? Berthold, du träumst!«

Er sah auf, blickte mich wild an und sagte mit einem hohlen Lachen:

»Nun ja doch, zum Mord, zum dummen, knabenhaft sinnlosen Mord alles Besten, was mir im Leben geboten war. Sieh mich nicht so verwundert an, Michel. Ich schwatze wohl töricht. Das kommt daher, daß ich schon lange, lange nicht mehr mein Herz eröffnet habe. Ich weiß, vor dir darf ich es.«

»Gewiß. Aber ermanne dich, mein guter Berthold. Noch kann alles wieder gut werden. Sieh mich an, ich war vor kurzem ebenfalls ein Bettler, denn ich besaß nur noch den letzten Patentaler von meiner seligen Mutter.« »Aber du hast ihn nicht vertan, du! Du hast entbehrt und gearbeitet. Der Herr Oberst Kippling, dessen Gast ich seit gestern abend bin, hat mir gesagt, was du kannst.«

»Nun ja, ich suchte meinem Schicksale zu Leibe zu gehen wie ein Mann und bin dabei bisher leidlich gut gefahren. Aber auch du bist ja ein Mann, und das Band da auf deinem Rock, obgleich mir widerlich ist, daß es unter fremden Fahnen erfochten wurde, es bezeugt doch, daß du etwas kannst, wenn du willst.«

»Dieses Band? Der Lohn für die tolle Reitertat eines Moments, wo ich mir statt aller Orden der Welt nur eine gut gezielte Kugel vor die Brust wünschte. Aber genug der Elegien, die dich langweilen müssen ... Ich bin sonst nicht so weich, lieber Michel, aber als ich dich wiedersah, kamen mir alle die guten alten Stunden und Tage wieder zu Sinne, die guten alten Zeiten daheim. Daheim? Das Wort hat einen so seltsamen Klang. Deine teure gute Mutter sang uns, als wir noch Kinder waren, ein gutes altes Lied vom Daheim. Es klang so eigen, so süß. Mir ist, als liege eine Ewigkeit voll Finsternis zwischen damals und jetzt.«

Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Seine Brust atmete schwer. Ich meinte, es müßten schwere Tränen zwischen den Fingern hervorquellen, womit er seine Augen verhüllt hatte. Sie blieben trocken, aber es war ein herzzerreißender Schmerz in seiner Stimme, als er sagte:

»Mehrmals schon lag mein Finger an dem Drücker des selbstmörderischen Pistols und wurde doch immer wieder zurückgezogen. Es sollte nicht sein. Und doch bin ich kein Feigling, sondern nur ein Nachtwandler.«

»Ein Nachtwandler? Du bist krank und sprichst irre, armer Berthold.«

»Nein, nein, ich bin ganz gesund, wenigstens – bei Tage.«

Er stand auf, ging ein paarmal langsam durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und sagte mit mehr Fassung:

»Ich lese Anteil in deinen Augen. Du bist noch der Alte. Sprechen wir vernünftig ... Weißt du, was die beiden Kipplinge aus Rothenfluh machen wollen?«

»Die beiden Kipplinge aus Rothenfluh? Nein.«

»Eine Fabrik.«

»Ha, jetzt geht mir ein Licht auf. Der Herr Oberst ließ einen Wink fallen –«

»Der Herr Oberst ist ein großer Spekulant, und sein Sohn ist es nicht minder. Ich bin dem jungen Spekulanten verpflichtet.«

»Du bist ihm verpflichtet?«

»Sehr.«

»Da nimm dich in acht!«

»Wenn es noch möglich ist. Ja, wenn es noch möglich ist, soll verhindert werden, daß die Halle meiner Vater vom Fabrikpöbel, vornehmem und geringem, entweiht werde ... nicht so fast um meinetwillen – ich möchte Rothenfluh am liebsten gar nicht mehr sehen – aber um Isoldes willen.«

»Mut, Mut, Berthold! Du hast dich noch nicht ganz selber verloren im wilden Wirbel des Lebens. Du hegst noch bessere Gefühle, denn du liebst deine edle Schwester. Laß uns von ihr reden. Wie lebt sie?«

»Sozusagen ganz einsiedlerisch. Sie hat persönlichen Verkehr nur mit Hildegard und brieflichen mit dem alten wunderlichen Großoheim, der für mich eine ganz mythische Person ist. Ich habe aber doch im Sinne, jetzt oder später das Felsenschloß des verschollenen Alten aufzusuchen. In dem Schreiben, in welchem mir Isolde Lindach anbot, sagte sie mir, sie habe in der Voraussicht, daß ich den Hof brauchen würde, den Großoheim um eine Zuflucht gebeten und dieselbe zugesagt erhalten ... Doch entschuldige, daß ich jetzt von anderem rede. Was hältst du von Julie Kippling?«

»Sie ist ebenso bizarr als schön, ebenso launig als originell.«

»Eine bündige Charakteristik. Sie war in dich verliebt oder ist es noch?«

»Glaube doch das nicht!«

»Bah, meinst du, ich habe es mich umsonst so viel kosten lassen, die Weiber kennen zu lernen? An der Art, wie Julie Kippling von dir sprach, merkte ich, daß sie, wenn nicht eine große Leidenschaft, so doch eine heftige Laune für dich haben oder doch wenigstens gehabt haben müsse.«

»Nun denn, so sprich getrost im tempus praeteritum

»Auch in bezug auf dich?«

»Ja, obgleich ich nicht leugnen will, daß die Gegenwart des schönen Mädchens zu verführerisch ist, um mich oder irgend jemand kalt zu lassen.«

»Wohl; aber du, ein Mann, dessen Gefühle noch frisch und gut sind, bist also nicht überzeugt, daß dein Lebensglück Julie heiße?«

»Nein.«

»Das ist mir lieb, sehr lieb. Denn ich will Julie Kippling heiraten.«

»Mein lieber Berthold, wenn wir beide zum Scherzen aufgelegt wären, würde ich mit dem Dichter zu dir sagen:

Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.«

»Und doch bin ich keineswegs so ganz gelassen. Ich verhehle dir nicht, daß seit Jahren nichts, aber auch gar nichts einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat wie dieses seltsame Mädchen.«

»Du liebst Julie?«

»Kaum. Kann ich überhaupt noch lieben? Mir ist, mit den anderen Idealen liege auch die Liebe weit hinter mir, in nebelgrauer Ferne. Aber es reizt mich, diese Julie, dieses verzogene Kind, diesen schönen Wildling, welcher mit dem Leben ein souveränes Spiel treibt, zu bändigen und zu zähmen. Du weißt nicht, wirst es nie erfahren, was es heißen will, wieder einen Reiz, irgend einen Reiz zu empfinden. Und dann ... Julie Kippling erbt eine Million ... mindestens ... Du siehst,« fügte er mit einem bitteren Lächeln hinzu, »auch der tollste Verschwender lernt zuletzt rechnen in einer Zeit, wo einem auf Schritt und Tritt in die Ohren geschrien wird, das Einmaleins sei Weisheit und Tugend und praktisch müsse man sein.«

Hier unterbrach der Eintritt Bürgers unser Gespräch. Ich stellte die beiden Herren einander vor, und die Unterhaltung ging auf gleichgültige Dinge über.


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