Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Sechstes Kapitel.

Autor läßt sich's abermals beigehen, den Lauscher zu spielen. – Edelmann und Geldmann. – Wer den irrenden Ritter in der alten Halle bewillkommnete. – Von Augen, die sich küssen. – Ein praktischer Mensch und ein Sonderling.

Es war spät geworden, bevor ich, in mein Zimmer zurückgekehrt, den Schlaf finden konnte. Aber ich will den geneigten Leser nicht mit den stürmischen Gedanken behelligen, die mich bis lange nach Mitternacht auf meinem Lager wach hielten. Endlich gewann der ermüdete Leib doch über die beunruhigte Seele die Oberhand, und ich schlief dann bis weit in den Morgen hinein. Als ich aufgestanden war und mich angezogen hatte, zeigte meine Uhr eine Stunde, um welche nur städtische Langschläfer, nicht aber rüstige Alpenwanderer das Lager verlassen.

Mein Zimmer erschien mir bei Tageslicht noch verblichener und veralteter, als es gestern bei Kerzenlicht ausgesehen hatte. Im ganzen Hause hörte ich kein Geräusch, keinen Ton. Entweder mußte ich mich von den bewohnten Räumen weitab befinden, oder es mußte hier die Hauswirtschaft einen merkwürdig stillen Gang gehen.

Ich öffnete die Türe zum Balkon und trat hinaus, wäre aber fast wieder zurückgetreten, geblendet von der Morgenpracht, in welcher die Gebirgsgruppe des Bernina vor mir stand. Die Morgennebel dampften aus den Talgewinden empor und umwallten, in den Lichtkreis der Sonne tretend, wie purpurne Gürtelbänder die Hüften der stolzen Bergriesen. Aber ich brachte der Größe dieses Schauspiels heute nur ein halbes Herz entgegen. Meine Füße strebten unwillkürlich der kleinen Treppe zu, welche zur Zinne emporführte. Doch bezwang ich mich und lenkte mein Auge wieder zu den Felsen und Firnen hinüber. Aber ich sah in all dem Wallen und Wogen und Glühen da drüben nur eins, nur die weiße Gestalt der holden Beterin von gestern abend. So schön und heilig war mir Isolde nie zuvor erschienen. Jetzt trat kein anderes Bild mehr trübend und trügend vor das ihrige; jetzt wußte ich, daß ich ihr mit ganzer Seele sagen durfte: Ich liebe dich!

Wahrend ich dieser Möglichkeit, glücklich zu sein, nachsann, vernahm ich mir zu Füßen zwei Männerstimmen, die mir sogleich bekannt vorkamen. Sie mußten aus dem kleinen Garten kommen, welcher an dieser Seite des Schlosses angelegt war, da der Balkon, worauf ich stand, nicht, wie mir in der Nacht geschienen hatte, über die Schloßklippe hinausging. Wenigstens erblickte ich zwischen dem Gebälke der hohen Balustrade hindurch einige Fragmente von Taxushecken, welche andeuteten, daß hier Vorzeiten eine Gartenanlage französischen Stils existiert hatte.

Die Sprechenden da unten kamen näher, ohne daß ich sie jedoch zu Gesicht bekommen hätte. Sie standen unter dem Balkon still, und ihre Stimmen ließen mir keinen Zweifel mehr übrig: ich hörte Berthold von Rothenfluh und Herrn Kippling den Jüngeren.

»Deshalb ist also mein Suchen vergeblich gewesen?« sagte ich mir. »Hierher, in dieses weltverlorene Schloß haben sie sich gewendet? Hierher zielte vielleicht ihre Reise von Anfang an? Und wenn der Freiherr da ist, so wird wohl auch Fräulein Julie nicht weit weg sein. Aber wie kam Isolde hierher? Wie hatten die anderen ihr Hiersein erfahren? Oder führte, wie mich selber, auch die drei nur der Zufall auf diese Felsenklippe?«

Der Dialog unten störte mein Selbstgespräch. Ich machte eine halbe Wendung, in mein Zimmer hineinzugehen, allein schon die ersten Worte, die ich von drunten vernahm, bannten mich auf meinen Platz.

»Ich bin der Sache müde,« sagte Herr Theodor Kippling, »um so mehr, da ich es in dieser abscheulichen Einöde nicht länger aushalten kann. Was soll man mit diesen ewiglangen Tagen und mit den noch längeren Nächten anfangen, da hier alles mit den Hühnern zu Bette geht? Und überhaupt, diese ganze alte Scharteke von einem Burgungeheuer ist mir unheimlich.«

»Was wollen Sie denn?« entgegnete Berthold beschwichtigend, aber doch mit einer so deutlichen Nuance von Stolz in der Stimme, daß man leicht merkte, er betrachte den Sohn des Millionärs als meilentief unter sich stehend. »Was wollen Sie denn? Isolde ist einmal hier, und Sie haben da die beste Gelegenheit, ihr den Hof zu machen.«

»Was Hab' ich von dem Hofmachen? Und nicht einmal das läßt ja das stolze Fräulein zu. Je länger ich in ihrer Nähe lebe, desto dichter scheint die unsichtbare Scheidewand zu werden, welche sie zwischen sich und mir aufgeführt hat. Ich will mich nicht länger zum Narren haben lassen.«

»Mein lieber Herr Kippling, meiner Schwester fällt es gewiß im Traume nicht ein, Sie zum Narren zu haben. Das Kurze und das Lange von der Sache ist, daß meine Schwester Sie gar nicht haben will.«

»Und Sie sagen mir das mit so kaltem Blute?«

»Freilich, warum denn nicht?«

»Wie, Herr Baron, ist dies die Art, wie Sie Ihren Verpflichtungen gegen mich nachkommen?«

»Ich habe mich nach dieser Seite hin Ihnen nur verpflichtet, meiner Schwester Ihre Werbung vorzutragen und zu empfehlen. Es geschah dies redlich in dem Briefe, in welchem ich Isolden anzeigte, daß wir mitsammen wieder Rothenfluh besuchen würden, wo Sie dann die Gelegenheit ergreifen wollten, Ihren Gefühlen mündlichen Ausdruck zu geben. Die einzige Antwort Isoldes war, wie Sie wissen, daß sie vom Lindachhof abreiste und hierher ging, zu dem alten Sonderling von Großoheim.«

»Ja, das weiß ich, und ich weiß auch, daß der Agent, welchen ich aus Gründen der Liebe und aus Gründen des Geschäfts in Rothenfluh unterhielt, glücklich erlauerte, daß Ihre Schwester in diese dumme Wildnis geflohen. Ich hielt das aber nur für ein Sprödetun, wie das die Mädchen so an sich haben, denn sonst hätte ich mich sicherlich nicht dazu hergegeben, mit Ihnen und Julie tagelang die abscheuliche Bergkletterei zu teilen. Aber was hat mir das alles geholfen? Das stolze Fräulein tut ja, als ob ich gar nicht da wäre.«

»Das ist Ihre Sache. Ich konnte Ihnen meine Schwester nicht verkaufen. Würde ich auch dazu das Recht gehabt haben, so hätte ich doch schwerlich den Willen gehabt.« " Peste!Sie nehmen diese Sache verzweifelt kühl, mein Lieber. Sie versprachen doch, mich in meiner Werbung um diese stolze Schöne zu unterstützen, deren Stolz und Sprödigkeit meine Liebe nur noch mehr befeuern.«

»Als ich Ihnen meine Unterstützung versprach, wußte ich noch nicht, was ich jetzt zu wissen glaube!«

»Was?«

»Daß Isolde schon gewählt hatte.«

»Wen?«

»Meinen und ihren Jugendgespielen, Michel Hellmuth.«

»Was? Den lumpigen Kommis meines Vaters? Bah.«

»Herr Kippling, Ihr Herr Vater sagte mir, Michel Hellmuth sei ein tüchtiger und braver Mann, und hören Sie, mein Bester, lassen Sie sich ein für allemal sagen, ich habe die Ehre, Herrn Hellmuth trotz allem, was zwischen uns liegt, meinen Freund nennen zu dürfen, und ich dulde nicht, daß in meiner Gegenwart übel von meinen abwesenden Freunden geredet werde. Ich habe in der Familie Hellmuth, unter deren Dache ich die besten und glücklichsten Tage und Jahre meines Lebens verbrachte, ohnehin eine unbezahlte und unbezahlbare Schuld kontrahiert ... Doch das gehört nicht hierher... Sie aber, Sie sollen mit Achtung von Michel Hellmuth sprechen – verstehen Sie mich?«

»Bah!« entgegnete Herr Kippling, dieser kavaliermäßigen Zurückweisung geldprotziger Gemeinheit gegenüber geschmeidig einlenkend. »Bah! wozu das Pathos? Lohnte sich wahrhaftig der Mühe! Das fehlte noch, daß zu den übrigen Fatalitäten unserer Situation noch ritterlicher Nonsens hinzukäme. Wie wird Ihnen denn, mein Herr Doppelschwager in spe, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr hochgelobter Michel um Julie herumgestrichen?«

»Hm, ich kenne die Geschichte. Fräulein Julie hat sie mir von A bis Z erzählt. Sie besitzt die Tugend der Aufrichtigkeit im höchsten Grade, das heißt wenn sie gerade die Laune anwandelt. Julies Erzählung zufolge ließe sich aber, vielleicht mit mehr Recht sagen, sie sei um Michel herumgestrichen. Ich weiß, es hing nur von ihm ab, daß Julie seine Frau wurde.«

»Ha, ha, ha! Nicht auch vollends! Dazu hätten Kippling Vater und Kippling Sohn doch auch ein Wort zu sagen gehabte«

»Hm, was Kippling Sohn betrifft, so kümmert sich dessen Schwester blutwenig oder vielmehr gar nicht um ihn, und was Kippling Vater angeht, so habe ich starke Gründe, zu vermuten, daß er seiner Tochter seinen Segen nicht vorenthalten hätte.«

»Ach was, das sind Schnurren! Und überhaupt, so ein Geplausche ist unpraktisch und unersprießlich. Wir wollen als verständige Männer reden, um zum Ziele zu kommen. Ich bin Geschäftsmann, das heißt ein praktischer Mensch, mein lieber Herr Baron, und da ich das Geschäft dieser Doppelheirat einmal entriert habe, so will ich es in Bälde zu Ende geführt oder aber in bäldester Bälde abgebrochen wissen.«

»Nach Belieben, mein Herr.«

»Bitte nur nicht empfindlich! Nonsens das, unpraktisches Zeug! Lassen Sie uns kaltblütig und sans phrase sehen, wie die Sache liegt. Sie, Herr Baron, wollen meine Schwester zur Freifrau, ich will die Ihrige zur Frau Kippling machen. Über Standeshindernisse sind Sie hinaus, denn Sie wissen recht wohl, daß heutzutage Kapitalienbriefe die Adelsbriefe mehr als aufwiegen. Adelsvorurteile sind auch auf seiten Ihrer Schwester nicht vorhanden, ich weiß es. Weiter: Sie, Herr Baron, sind ökonomisch ruiniert.

Das ist eine Tatsache, eine mißliche Tatsache, ich gebe es zu, aber immerhin eine Tatsache, und in Geschäften kommen nur Tatsachen in Betracht. Ich schlug Ihnen zuerst namens der Firma Kippling vor, ein Arrangement mit Ihren Gläubigern zu treffen, deren Zahl, ich weiß es, Legion ist, das heißt die Firma Kippling wollte diese Gläubiger abfinden – wie? das wäre unsere, der Firma Kippling Sache gewesen – und dafür sollte ihr das zufallen, was von Ihrem väterlichen Besitztum überhaupt noch übrig ist, das heißt das Schloß Rothenfluh samt dem unmittelbar dazugehörigen Güterkomplex, gelegen in der gleichnamigen Gemeindemarkung in Deutschland. Wir, die Firma Kippling, beabsichtigten daselbst die Anlage eines industriellen Etablissements, weil dafür Lokalität und Gegend günstige Vorbedingungen zu bieten schienen. Sie wollten aber auf diesen Vorschlag nicht eingehen, und da ich inzwischen die Ehre hatte, Ihre Schwester kennen zu lernen, und dadurch auf den Einfall kam, dem Erben des Millionärs Kippling müßte die besagte Dame, nicht weil, sondern obgleich sie ein Freifräulein ist, ein armes Freifräulein, denn Lindach ist nur eine Bagatelle, als Frau nicht übel anstehen, so schlug ich eine Modifikation des Geschäftes vor. Sie sollten Julie, der eine Neigung für Sie angeflogen war, heiraten und mit ihr die Gelder, welche nötig sind, Sie herausreißen; ich dagegen sollte Fräulein Isolde heimführen. Unter der Voraussetzung und Bedingung, daß unsere beiderseitigen – verstehen Sie wohl? unsere beiderseitigen Wünsche verwirklicht würden, brachte ich es dazu, ich, Theodor Kippling, daß die Firma Gottlieb Kippling, um Subhastation, Schuldenbetrieb, Wechselklagen und dergleichen Fatalitäten mehr von Ihnen abzuwenden, Ihren Gläubigern Bürgschaft leistete, im mutmaßlichen Wertbetrage dessen, was von der großen Herrschaft Rothenfluh überhaupt noch übrig ist. Diese Bürgschaft sollte bis zum ersten September laufenden Jahres gültig sein und ist es. Heute schreiben wir den zehnten August. Das Soll der Geschwister von Ruthenfluh ist aber, wenigstens was Fräulein Isolde angeht, im Kipplingschen Hauptbuche immer noch ein bloßes Soll. So ist die Sachlage. Ist sie so, Herr Baron?«

»Ja, mein Herr. Aber es ist gar nicht nötig, mich daran zu erinnern.«

»Doch, mein Bester. Ihr Herren Kavaliere wißt nicht, daß Geschäft Geschäft und Zeit Geld ist, aber wir Geschäftsleute wissen es. Heute schreiben wir, wie gesagt, den zehnten August; am ersten September läuft unsere Bürgschaft aus. Unser Geschäft in diesem alten Eulennest hier muß also längstens binnen fünf bis sechs Tagen abgemacht sein, denn die Formalitäten zum Abschlüsse des ganzen Arrangements nehmen die noch übrige Zeit vollauf in Anspruch. Also, mein Herr Baron, es ist nicht meine, sondern Ihre Sache –«

Diese Worte hörte ich nur noch undeutlich, denn die Redenden hatten ihren Standpunkt verändert, und im gleichen Augenblicke vernahm ich hinter mir in der Öffnung der Türe meines Zimmers die dünne Stimme des alten Hausmeisters – ach Gott, wie sah er erst bei Tage alt aus! – welcher mich mit einer tiefen Verbeugung fragte, ob es Monsieur beliebe, zum Frühstück zu kommen.

Ich folgte dem Vorangehenden auf einem anderen Wege, als wir gestern abend gemacht hatten, und gelangte über verschiedene öde Gänge zu einer breiten Treppenflucht, Welche in das untere Stockwerk hinabführte. Hier gingen wir über einen Vorplatz, und dann öffnete mir der Alte die Flügeltür einer weiten Halle mit vom Alter gebräuntem Eichengetäfel, welche als Speisezimmer diente.

Am oberen Ende einer langen schwerfälligen Tafel war in altfränkischem Geschirre ein Frühstück serviert, und da saßen Isolde und Julie, beide schön wie der Morgen. Aber ich sah nur jene, und das Herz klopfte mir gewaltig.

Die beiden Mädchen – außer ihnen war niemand in der Halle – erhoben sich bei meinem Eintritte, und ich war einigermaßen überrascht, daß sie durch mein Erscheinen weiter nicht überrascht schienen.

»Ah, da kommt ja der irrende Ritter,« rief mir Julie entgegen und schwenkte zum Gruße mit komischer Anmut die Butterschnitte, welche sie in der Hand hielt. »Willkommen im verzauberten Schlosse! Sie sollen alsogleich zwar nicht einen vollen Humpen, aber doch eine volle Tasse Milch von meiner Hand kredenzt erhalten.«

Isolde bot mir die Hand und sagte:

»Willkommen, lieber Michel! Der alte Hausmeister hat mir in der Frühe angezeigt, daß du als verirrter Wanderer gestern abend auf der roten Fluh angelangt seiest. Ich konnte erst gar nicht daran glauben – die, Freude war zu groß –«

»Aber meine erst, Isolde, meine erst!«

Weiter konnte ich nichts sagen, aber ich hielt die teure Hand fest in der meinigen.

»Kinder,« rief Julie lachend aus, »habt euch doch um's Himmels willen nicht so verschämt lieb. Küßt euch! Ich sehe ja doch, wie eure Augen sich küssen.«

Isolde errötete leise über diese Profanation, allein das liebe Lächeln ihres Mundes bezeugte mir, daß sie nicht willens sei, die Behauptung Julies in betreff des Augenkusses Lügen zu strafen. Sie führte mich zum Tische, aber ich hatte noch nicht Platz genommen, als Berthold und Herr Kippling eintraten.

Die beiden Herren mußten von meiner Anwesenheit noch nicht wissen, denn sie waren offenbar höchlich überrascht, mich zu sehen. Auf Bertholds Stirne, welche noch düsterer und gefurchter war als bei unserer letzten Zusammenkunft, glomm ein schwacher Freudenschimmer auf, und er schüttelte mir herzlich die Hand.

»Das hätte ich wahrhaftig nicht gehofft,« sagte er, »daß der wilde Sturm von letzter Nacht einen so alten guten Freund auf die rote Fluh wehen würde.«

»Ja, – diantre und diable!« meinte Herr Kippling noch gedehnter, als er sonst zu sprechen pflegte, »Sie kommen allerdings überraschend, Herr Hellmuth. Aber der Wind wird sie wohl nicht hergeweht haben, denk'ich.«

Er ließ bei diesen Worten einen unverschämt lauernden Blick zu Isolde hinübergehen, welche aber denselben gar nicht beachtete. Nichtbeachtung charakterisierte überhaupt ihr Benehmen gegen den Sohn des Millionärs, wie ich bald bemerken konnte, und es lag darin weder Hochmut noch Unhoflichkeit. Sie nahm seine Anwesenheit wie etwas, was man nicht ändern könnte, aber eben auch nicht weiter beachten müßte. Julie behandelte ihren Bruder mit der offenen Geringschätzung, welche ich ihm gegenüber, schon an ihr gewohnt war. »Wäre dieser Mensch nicht zufällig meines Vaters und meiner Mutter Sohn,« hatte sie mir früher einmal gesagt, »was ginge er mich an? Was habe ich mit ihm gemein?« Ich füge gelegentlich noch hinzu, daß vielleicht gerade diese Stellung Julies zu ihrem Bruder das trauliche, freundschaftliche Verhältnis, welches zwischen ihr und Isolde waltete, gefördert haben mochte. Wie dankte ich es der launischen Schönen, daß ihre seines Ortes erwähnte Begeisterung für Isolde augenscheinlich eine wirkliche und dauernde war! Dagegen schien das Verhältnis zwischen Berthold und Julie nicht eben große Vorschritte gemacht zu haben. Ich bemerkte keine bedeutenden Symptome von Verständnis und Innigkeit zwischen ihnen. Berthold war meist düster und zerstreut, oft ganz in sich versunken und teilnahmlos, weniger seiner Schwester als Julie gegenüber, welche ihrerseits ihn bald mit nachsichtiger Zärtlichkeit, bald wieder mit einer Art Scheu oder Furcht behandelte. Was mich betrifft, mir flößte er tiefes Mitleid ein. Er glich einem müdgehetzten Wilde, das sich unrettbar in die Jägernetze verstrickt hat. In seinem Auge wechselte der Ausdruck dumpfer Ergebung in das Verhängnis mit dem geheimer Angst oder auch geheimen Zornes.

»Nein, Herr Kippling,« sagte ich, »der Wind hat mich nicht auf die rote Fluh geweht, wie, scheint es, dieses alte Haus oder die Klippe heißt, worauf es steht. Ich wußte nicht, daß ich Sie hier treffen würde. Aber dennoch komme ich zu Ihnen, gerade zu Ihnen.«

»Zu mir? Woher denn?«

»Aus Ihrer Vaterstadt, von wo ich, im speziellen Auftrag Ihres Vaters, am Tage nach dem großen Brande von Kipplingsruhe abgereist bin.«

»In Kipplingsruhe hat es gebrannt?«

»Ja, mein, Herr. Hier dieses Briefpaket, welches ich Ihnen von seiten Ihres Vaters zustelle, wird Ihnen das Nähere sagen.«

Er trat mit dem Paket in eine Fensternische, um es zu öffnen. Wir anderen setzten uns zum Frühstück, und wie ich merkte, mußte Julie gerade ihren zärtlichen Tag haben, denn sie überschüttete Berthold mit allerhand neckischen Fragen. Der Arme! Er versuchte zu lächeln und liebenswürdig zu sein, aber ich sah wohl, wie er sich Zwang antat. Ich nahm mir vor, ihm bei erster Gelegenheit zu sagen, daß ich Zeuge seines Morgengespräches mit Herrn Kippling gewesen sei, und dann mit ihm zu Rate zu gehen, ob sich denn gar kein Ausweg aus dem Wirrsal seiner Lage ausfindig machen ließe.

Ich wollte eben ansetzen, Isolden von unserem Freunde Fabian in Frohdorf zu erzählen, als Herr Kippling aus der Fensternische herüberrief:

»Saubere Neuigkeiten – diable! Denke Dir, Julie, Kipplingsruhe abgebrannt, gänzlich abgebrannt.«

»Was gehen mich Geschäftssachen an?« lautete die Antwort der Schönen.

»So? Seh mal einer den tollen Leichtsinn,« fuhr Herr Kippling fort, in seinen Papieren weiter lesend ... »Der Schaden ist ungeheuer trotz aller Assekuranzen. Kenne das... werden Jahre vergehen, bis wir an dem Platz wieder solches Geld machen können wie bisher ... Verdammt das! Und kaum war ich fort, als der Unsinn geschah ... Was, der kleine Nickel, das Gritli Zündt hat das Feuer angelegt? Und die sitzt? Quer, sehr quer! ... Aber was ist das?«

Er brach ab. Ich fixierte ihn und bemerkte, daß sein verwüstetes Gesicht fahl wurde. Sein Auge begegnete dem meinigen, und er kehrte sich ab. Die Hand, in welcher er die Papiere hielt, sank ihm an der Seite herab – Banknoten flatterten aus dem Kuvert auf den Boden – mit der anderen trommelte er an den Fensterscheiben. Nach einer Weile kehrte er sich wieder um und sagte mit einer Stimme, die diesmal weniger schleppte als zitterte:

»Herr Hellmuth, auf einen Augenblick – darf ich bitten?«

Ich trat zu ihm. Er zog mich in einen entfernten Winkel der Halle und sagte leise:

»Kennen Sie den Inhalt des Briefes, den ich soeben gelesen?«

»Wie sollte ich?«

»Ich meine – verstehen Sie? nur die Umrisse dieser dummen Geschichte.«

»Was ich weiß, ist, daß Kipplingsruhe ein Raub der Flammen wurde, daß das arme schöne Kind, das Gritli Zündt, am Morgen nach dem Brande in heller Verzweiflung zur Stadt gelaufen kam, sich im See ertränken wollte und, als dieses mißglückt war, sich als Anstifterin des Brandes bekannte.«

»Ja, ja, und weiter?«

»Daß auch die Frau Regel, Ihre Wirtschafterin, verhaftet wurde.«

»Und weiter?«

»Weiter nur noch, daß Ihr Herr Vater mir auftrug, Sie aufzusuchen, Ihnen diesen Brief zuzustellen und Sie, sobald Sie denselben gelesen, zu fragen, ob Sie seinem Wunsche, nein, seinem Befehle nachkommen wollten. Im bejahenden Falle soll ich es ihm persönlich, im verneinenden brieflich melden.«

»Weiter wissen Sie nichts?«

»Nein.«

»Nun,« bemerkte Herr Kippling wieder ganz in seiner gewöhnlichen Redeweise, »so will ich Ihnen sagen, daß ich noch etwas mehr weiß, nämlich, daß mon cher papa, ein so praktischer Mann er sonst ist, wunderlicherweise ganz vergessen zu haben scheint, daß sich mit Geld alles machen, alles ausgleichen läßt. Vielleicht ist er dieser seiner Vergeßlichkeit jetzt bereits inne geworden, und so werde ich mir die Freiheit nehmen, seinen Wunsch als nicht geäußert anzusehen, um so mehr, da ich, mein lieber Herr Hellmuth, hier in diesem verteufelten Eulennest ein wichtiges Geschäft, ein außerordentlich wichtiges Geschäft habe, das abgemacht sein muß, bevor ich daran denken kann und will, abzureisen. Ein praktischer Mensch wie ich läßt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.«

Damit ging er hin, hob die zu Boden gefallenen Banknoten sorgfältig auf, steckte sie ein, setzte sich zu Tische und frühstückte mit bestem Appetit.

Als wir aufstanden, sagte ich zu Berthold, ich möchte ihn, nachdem ich sofort einen Boten zur nächsten Poststation expediert haben werde, ersuchen, mich dem Schloßherrn, seinem Großoheim, vorzustellen, damit ich demselben für die mir widerfahrene gastliche Aufnahme meinen Dank bezeigen könne.

»Ja, lieber Michel,« versetzte der Freiherr, »das dürfte Schwierigkeiten haben, welche du nur allenfalls mit Isoldes Hilfe überwinden kannst. Ich selber habe den Burgherrn noch nicht gesehen, obgleich ich der Sohn seines Neffen bin.«

»Was?«

»Ei, ja doch. Du weißt ja wohl noch aus unserer Knabenzeit, was für wunderliche Sagen über den Großoheim umgingen. Seitdem er sich vollends hierher, auf die rote Fluh, den Stammsitz derer von Rothenfluh – Fluh oder Flüh heißt man hierzulande einen Bergrand, eine Felsenzinne oder Felsenklippe – ja, seitdem er sich hierher zurückgezogen, ist es mit seiner Menschenscheu oder seinem Menschenhaß – was weiß ich? – vollends ganz arg geworden. Der alte Papagei von Hausmeister, dessen alte Frau, der alte Torwart und noch so ein Dritteldutzend alter Geschöpfe, lauter Fossilien aus der Rokokozeit, hausen hier mit dem alten Sonderling auf dem alten Stein, hinter der meist bei Tag und jedenfalls immer bei Nacht aufgezogenen Fallbrücke. Er für seine Person hat seit Jahren den großen westlichen Turm der Burg nicht mehr verlassen. Dort hat niemand Zutritt als der alte Hausmeister und neuestens, wie ich glaube, Isolde. Da soll er, höre ich, mit seinen Büchern und physikalischen Instrumenten wohnen wie ein Zauberer in seiner Höhle. In die Vortüre zu seinen Zimmern ist eine Öffnung eingeschnitten und mit einem eisernen Schieber versehen; durch diese Luke bezieht er seine Bedürfnisse, und da erscheint er, wenn er Audienz zu geben geruht. Denn zu ihm hinein darf kein Mensch, selbst der Alte im grünen Papageifrack nicht. Allmonatlich an einem bestimmten Tage erscheint der Wirtschaftsverwalter, welcher in dem kleinen Dorfe da hinten im Tale wohnt, und legt Rechenschaft über die Einkünfte ab, welche der Großoheim aus seinen in der Gegend verstreuten Weiden und Sennereien bezieht: Was bei diesen Abrechnungen nicht der Papageigrüne als zur Führung des einfachen Haushalts notwendig in Beschlag nimmt, weist der Großoheim sogleich den Armen der umliegenden Talschaften zu, die deshalb auch diesen sonderbarlichen Alten vom Berge gehörig verehren. – Auf eine gewisse Anfrage von meiner Seite,« setzte Berthold leiser hinzu, »ließ mir der Großoheim herübersagcn, seit Jahren halte er darauf, daß seine Einkünfte bei Heller und Pfennig aufgehen, und für den Fall seines Todes habe er sein Besitztum, nach Abzug der für seine Diener bestimmten Legate, wohltätigen Anstalten vermacht. Du ersiehst aus letzterem,« schloß mein Jugendfreund mit einem sardonischen Lächeln, »daß ich mich nicht sehr aufgefordert fühlen konnte, mir um die persönliche Bekanntschaft mit dem Alten sonderliche Mühe zu geben. Im übrigen ist er gastfrei, und du brauchst dir gar kein Gewissen daraus zu machen, seinen Veltliner zu trinken, der in der Tat sehr trinkbar ist.«


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