Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel.

Ein Abend vor den Lampen. – »Immens« gefühlvoll. – Der Herr Kandidat oder Professor. – Ein Literaturtraum. – »Die konservative Hetzpeitsche.« – Ansichten, Findungen und Ratschläge eines praktischen Genies. – Ein Zwischenakt und ein verflogener Jugendtraum.

Am Abend des Tages, an welchem mir mein Herr Prinzipal ein Privatissimum über praktische Philosophie las, hatte ich also die Ehre, Frau Lelia ins Theater zu begleiten, wo die Firma Ziegenmilch und Komp. einstweilen noch, bevor sie in die höheren Regionen der ersten Logenreihe emporstieg, auf zwei Sperrsitze im Parkett abonniert war.

Das Haus war und ist wahrscheinlich noch jetzt nicht gerade ein Kompliment auf den Geschmack und die Munifizenz einer Stadt, welche durch die unvergleichliche Schönheit ihrer Lage eine Menge von Fremden zur Ansiedelung lockt, durch Gewerbbetrieb und Handel große Wohlhabenheit, ja Reichtum erlangt hat und durch die wissenschaftlichen Anstalten, die sie besitzt, den Rang eines intellektuellen Mittelpunktes des ganzen Landes mit Recht beansprucht. Das Gebäude, außen ärmlich, innen kärglich, enthielt eine Bühne, deren Personal zu meiner Zeit mehr auf den Titel einer Bande als auf den einer Gesellschaft Anspruch machen konnte, und wenn man fragte, warum eine Stadt von dieser Bedeutung kein besseres Theater besitze, so erhielt man die Antwort, es gelte nicht für »vornehm«, theatralische Genüsse zu suchen, um so weniger, da es »vornehmer« Ton sei, »fromm« zu sein oder wenigstens zu tun. Die »vornehmen« Familien, besonders die Damen, suchten ihre ästhetischen Bedürfnisse lieber in Konventikeln zu befriedigen, und was die Herren beträfe, so würden dieselben allerdings fleißige Theaterbesucher sein, falls nur jener »Professor der höheren Plastik«, dessen Name, glaub' ich, Müller war, das ganze Jahr hindurch seine »lebenden Tableaus« aufführen oder auch eine Sennora Pepita allabendlich ihren gewänderverschiebenden Ole tanzen würde. Möglich, daß diese Behauptungen die purste Verleumdung waren, denn sie kamen aus dem Munde des Herrn Artur Puff, welcher für einen Satiriker galt. So viel indessen sah ich selber zu verschiedenen Malen, daß die Logen, namentlich die des ersten Ranges, sehr leer, Parterre und Galerie dagegen ziemlich voll waren.

Man gab heute das damals unvermeidliche »Lorle« der unvermeidlichen Birch-Pfeiffer, und Frau Lelia verriet schon während der ersten Szenen die gehörige Rührung. Sie war die dankbarste Zuhörerin von der Welt, meine schöne Nachbarin. Wenn droben auf der Bühne ein recht sentimentaler »Drucker« aufgesetzt wurde, seufzte sie jedesmal mit ihrem allerliebsten kleinen Mund: »Ach, wie gefühlvoll!« und bewegte malerisch ihren Fächer, und dabei hob sich ihr Busen so mächtig, daß mir ganz bange wurde, er möchte die Blondenchemisette sprengen. Als der Vorhang nach dem ersten Akte fiel, sagte sie eifrig:

»Wie glücklich Sie sind, Herr Hellmuth, in einem Lande daheim zu sein, wo das Volk noch so harmlos idyllisch und so gefühlvoll, so immens gefühlvoll ist.« – (»Immens« war das Lieblingswort von Madame. Wie ihr Herr Gemahl alles »enorm« fand, fand sie alles »immens«.) – »Bei uns zulande,« fuhr sie fort, »findet man solche Bauern nicht mehr. Ich weiß das noch von damals, wo sie zu uns in den ...« Käseladen kamen, wollte sie wahrscheinlich sagen, brach aber schnell ab, und zum Glück wurde dieses Abbrechen vortrefflich dadurch motiviert, daß eine rasselnde Stimme im nämlichen Augenblicke hinter uns sagte:

»Dummes Zeug! Birch-Pfeifferei! 's gibt weder auf Erden noch im Himmel solche marzipanene Bauern – wissen Sie?«

Die Stimme klang mir bekannt. Ich wandte mich überrascht um und sah mich dem roten Vollmondgesichte des berühmten Kandidaten Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel gegenüber.

»Mein Gott, Herr Kandidat ...«

»Professor, wenn's beliebt,« unterbrach er mich, indem er mir die Hand schüttelte und sich zu meinem Ohre vorbeugte. »Professor klingt vornehmer, und sind diese Republikaner und Republikanerinnen hier höllisch auf Titel versessen – wissen Sie?«

»Aber wie kommen denn Sie hierher?«

»Könnte die nämliche Frage an Sie richten. Habe aber eine Mission hier, eine kolossale Mission!«

»Eine Mission?«

»Freilich. Aber wollen wir nicht lieber in die Theaterrestauration hinübergehen? Spricht sich dort ungenierter. Habe Rücksichten zu nehmen, muß das Dekorum beobachten – wissen Sie?«

Ich folgte meinem Führer aus dem Saal, und während er mich durch ein enges Gewinde von Korridoren und Treppen geleitete, ließ er seiner Suada freien Lauf.

»Verfolgt einem doch diese Birch-Pfeiffersche Dramatik heutzutage überall, wie vordem den reisenden Briten das Lied von Marlborough – schrecklich!« sagte er.

»Aber, mein lieber Kandidat oder Professor ...«

»Warten Sie, warten Sie! Fällt mir da gerade ein, daß ich vorige Nacht einen kuriosen Traum gehabt, einen echtdeutschen Traum, einen Literaturtraum – wissen Sie? Träumte mir, wandelte in der Unterwelt umher, wie vorzeiten der Epistemon des alten Rabelais. Sah da schnakische Dinge, versichere Ihnen. Kam da ein Fürst daher, welcher in einem Gitterkorb, den er auf dem Rücken trug, eine erkleckliche Schar lyrischen und dramatischen Federviehs eingefangen hatte, ein Wiedererwecker der Tage der Medizi und Este. Herrgott, war das ein Geflatter und Geschnatter und Gepiepse! Nebenher tänzelte graziös ein berühmtester Sänger und bot mit allerliebster Stimme die allersüßesten Zuckerkandisstengel feil, während ihm ein edelster Mittroubadour Konkurrenz machte, indem er mit höchster Fistelstimme Inquisitionstörtchen à la Torquemada ausschrie. Weiterhin sah man diverses jungdeutsches Gesindel in Hofratsuniformen sich abmühen, der deutschen Charakterfestigkeit einen Weihetempel zu errichten, welchen ein deutsch-russischer Baron mit Braunemärchenfresken ausmalte. Daneben war die ganze Reihe von Selbstmördern aufgehangen, unglückliche Übersetzer, welche es nicht zu ertragen vermocht hatten, daß dem Sue die Tinte brandig geworden, und daß der Dumas den Fingerkrampf gekriegt. Dort links um die Ecke klagte ein Schwabe, daß man seine Schwarzwälder, seine leibeigenen Schwarzwälder widerrechtlich zu Bühnendiensten gepreßt habe. Trösten Sie sich, Landsmann, sagte eine majestätische Dame, ich habe Ihre Lorle unsterblich gemacht, indem ich sie durch meine dramatische Kaffeemühle laufen ließ. Ach was, versetzte der Landsmann unwirsch, ich werde Sie dafür belangen. Die majestätische Dame lachte dazu und setzte ihre Promenade durch die europäische Novellistik fort, unermüdlich ihre Kaffeemühle drehend, welche ein gigantischer Dramatiker aus Wien ihr vergeblich zu zerschlagen suchte, aus Brotneid vermutlich ... Ein dummer Traum!«

»Sehr!«

»Ja, was wollen Sie? Man muß doch das Recht haben, wenigstens manchmal bei Nacht privatim dumm sein zu dürfen, wenn man bei Tage öffentlich so gescheit, so höllisch gescheit sein muß, wie dermalen Ihr gehorsamer Diener, welcher Ihnen jetzt da drinnen zeigen wird, daß sein Gescheitsein bei Tage ihn in den Stand setzt, nachts nicht nur dumm zu träumen, sondern auch einem alten Freunde eine Flasche Champagner zu ponieren.«

Wir traten in das Büfettzimmer, der Wein kam, und ich bemerkte, daß Herr Rumpel eine wohlgefüllte Börse zog, denselben zu bezahlen, sowie, daß der alte Bummler nicht nur anständig, sondern sogar elegant angezogen war und seinen vorzeiten stets bloßen Stierhals in höchst respektable Vatermörder eingezwängt hatte.

»Sie scheinen in guten Umständen zu sein, mein lieber Herr Rumpel,« sagte ich. »Haben Sie eine Anstellung an einer der hiesigen Lehranstalten?«

»Allerdings, mein guter Herr Hellmuth,« versetzte er. »Ich habe eine Lehrstelle an einer der größten Lehranstalten inne, genannt Staat.«

»Wie?«

»Ich doziere öffentliche Meinung, wissen Sie?«

»Was?«

»Die Sache ist so ... Doch vor allem, kennen Sie das kolossal einflußreiche Blatt: ›Die konservative Hetzpeitsche‹?«

»Ich sah es ein paarmal bei meinem Prinzipal.«

»Prinzipal? Wie?«

»Nu ja, ich habe die Ehre, Kommis bei Ziegenmilch und Komp. zu sein.«

»Kommis, Sie? Bei Ziegenmilch und Komp.? Beim Styx, das ist klassisch, geradezu klassisch! Sie, der auch ohne Beihilfe des großen Dissertationenverfertigers Rumpelius eine ganz leidlich gelehrte Doktordissertation zustande gebracht hätte – Sie Kommis?«

»Nun, was ist da Verwunderliches daran? Ich erinnere Sie, daß der große Dichter, welchen Sie sonst gern zitierten, mal irgendwo gesagt hat:

Ein jeder Platz, besucht vom Aug' des Himmels,
Ist Glückes Hafen einem weisen Mann.
Lehr deine Not die Dinge so betrachten,
Denn mehr als alle Tugend ist die Not.«

»Da haben Sie und Shakespeare recht, sehr recht. Aber wenn ich erwäge, daß Sie, der himmelstürmende Student und quasi Poet, der, wissen Sie? jenes pyramidalische Trauerspiel schrieb, Kommis geworden sind, und daß ich, der Himmel- und höllenstürmende Kandidat, ich, der Revoluzer, Pantheist und Atheist von ehemals, jetzt Chefredakteur der hochkirchlichen und tiefkonservativen ›Hetzpeitsche‹ geworden bin, so wird mir so schuljungenhaft dumm zumute, daß ich nur gleich Ovids Verse hersagen möchte:

In nova fert animus mutatas dicere formas CorporaMich treibt der Geist, zu singen, wie Gestalten in neue Bildungen sich verwandelten.

Ja, 's ist zum Lachen. Aber man muß die Komödie des Lebens mitmachen. Muß man nicht? Was sagt der göttliche Brite?

... Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab;
Sein Leben lang spielt einer manche Rolle
Durch sieben Akte hin ...

Sieben Akte, das sind viele. Glaube, unter uns, nicht sehr daran, daß ich es in meiner Hetzpeitschenrolle bis zu sieben Akten bringen werde. Bin schon weit vorgeschritten im dritten Akt und ist dieser – wissen Sie? – in guten Komödien gewöhnlich der Kulminationspunkt des Stückes.«

»Aber wie kamen Sie denn überhaupt zu dieser Rolle?«

»Ganz wie Saul zu einem Königreich kam, nur gerade umgekehrt, daß heißt, ich war ausgezogen, ein Königreich, nämlich das Reich der Freiheit zu suchen, und fand zwar nicht meines Vaters Eselin, aber die mehrbesagte Hetzpeitsche.«

»Ihre Parabel macht mich nicht klüger.«

»So will ich unparabolisch sprechen. War mir das Dissertationsschreiben endlich verleidet, wissen Sie? Hat auch für einen genialen, wissenschaftlich gebildeten Mann etwas Unbequemes, wenn er keinen Tag, aber auch gar keinen, bis zehn Uhr morgens im Bette liegen kann, ohne von albernen Brummern belästigt, blockiert, belagert, berannt, bestürmt zu werden. Sehr ungemütlich das, wissen Sie? Beschloß also, mein undankbares Vaterland wieder einmal mit dem Rücken anzusehen, und kam in höchster Freiheitsglut hierher, um als Tyrannenerschütterer mit den Teilen und Winkelrieden, das heißt mit den hiesigen Liberalen zu fraternisieren, das heißt, mein Licht im Dienste der Republikanisierung Europas und der Völkersolidarität leuchten zu lassen. Freiheit, Gleichheit, Bruderschaft, Weltbürgertum usw. – wissen Sie? Platschte wie ein rechter Taps und Dörgel in die hiesigen Verhältnisse herein, wie ein rechter deutscher Biedermann, dem eine rosenrote Idealbrille auf der Nase sitzt, durch welche ihm die Schweiz aus der Ferne wie 'ne Platonische oder Rousseausche Phantasierepublik erscheint. Kolossaler, pyramidaler, mammutischer, mastodontischer Unsinn! – wissen Sie? Gerade so lächerlich, diese Ansicht vom hiesigen Lande, wie die Kehrseite derselben, auf welche unsere Hofmaler – wissen Sie? die Schweiz als einen ewig kochenden und brodelnden, Blitz und Donner, Tod und Verderben speienden Revolutionskrater hinmalen. Blödsinn! Wohl gescheit, wie ich bin – wissen Sie? roch ich bald Lunte. Sind die Schweizer keine so kosmopolitischen Esel wie wir, sind sie vielmehr rein praktische Leute, welche wie zuerst so auch zuletzt für sich selbst sorgen und sich um die anderen keinen Pfifferling kümmern. Weise das, sehr! Resolvierte mich, ebenfalls weise zu sein und – praktisch, höllisch praktisch. Eines schönen Morgens stand ich auf und deklamierte, ein Shakespearesches Thema variierend: Die hiesige Welt ist eine Auster, die ich mir mit meiner Feder öffnen will! Es lebe der Stil! Jener Stil nämlich – wissen Sie? – welcher sich der gerade herrschenden Zeitstimmung anschmiegt, wie das Badehemd den schönen oder unschönen Formen einer badenden Schönen oder Nichtschönen ... Beiläufig, wer ist die hübsche, runde, feine seidenbekleidete Dame, Ihre Nachbarin da drinnen im Parkett?«

»Meine Frau Prinzipalin.«

»Glücklicher, Sie!«

»Bitte, bitte. Sie brauchen nicht frivol zu blinzeln und zynisch zu lächeln. Es ist dazu nicht der entfernteste Grund vorhanden.«

»Recht so, in solchen Dingen muß ein Mann von Ehre diskret, höllisch diskret sein – wissen Sie?«

»Was ich weiß, ist, daß ich Sie bitten muß, nicht so albern zu schwatzen, oder dieses Glas ist das letzte, welches wir mitsammen trinken.«

»Ach, immer noch der alte burschenschaftliche Heißsporn, der auf die Lex castitatis schwört? Nun, chacun à son goût, leben in einem freien Lande. Aber würden Sie mir wohl den Gefallen tun, mich bei Ihrem Herrn Prinzipal einzuführen? Zutritt in guten Häusern zu haben, ist an hiesigem Orte sehr förderlich – wissen Sie?«

»Ich will es mir überlegen, aber Sie müssen mir vor allem versprechen, daß Sie sich verständig und anständig betragen wollen.«

»Und wie! Seien Sie ganz ruhig. Bin unter diesen praktischen Leuten hier selber sehr praktisch geworden. Fing damit an, daß ich einsah, mit den Liberalen sei nichts zu machen. Sind mißtrauische Bursche, haben kein Geld, das heißt sie haben, aber sind so knickerig, niederträchtig knickerig damit – wissen Sie? Zudem ist dermalen die aristokratische Partei obenauf. Ergatterte bald, wo Barthel den Most holt, und resolvierte mich, auch welchen zu holen, zu meinem Privatgebrauch – wissen Sie? Machte Bekanntschaft mit dem Führer der herrschenden Partei, war noch praktischer als er. Imponierte ihm – wissen Sie?«

»Womit denn?«

»Damit, daß ich so gelegentlich durchblicken ließ, ich sei im Besitz einer ganz neuen Weltwissenschaft. Hält mich jetzt der Mann für ein Weltgenie, wissen Sie? reines Weltgenie. Stellte ihm ungeheure Findungen in Aussicht.«

»Sie spielten den philosophischen und politischen Scharlatan?«

»Was wollen Sie? Die Welt will betrogen sein.«

»Und er verschluckte den Köder?«

»Gierig wie ein ausgehungerter Hecht. Machen nämlich die Liberalen dem Manne viel zu schaffen, braucht Hilfe, findet keine unter seinen Leuten. Talentlose Kerle, mittelmäßige Tropfe, kein Genie, kein Stil, aber Geld, viel Geld. Lebe jetzt flott, höllisch flott – wissen Sie?«

»Sie sind sehr praktisch, in der Tat!«

»Ganz gewiß. Erfand zuerst die Bezeichnung ›konservativ‹ für unsere Partei, um das hierzulande gehässige Wort ›aristokratisch‹ zu beseitigen. Stellte dann, so als Abschnitzel von meiner neuen Weltwissenschaft, eine ganz neue Physiologie oder Psychologie der politischen Parteien auf.«

»Wirklich?«

»Freilich. Fand, behauptete und bewies, daß der Mensch im Knabenalter radikal, im Jünglingsalter liberal, im Mannesalter konservativ und im Greisenalter reaktionär sei.«

»Und mit solchen ›Findungen‹ wußten Sie den Leuten hier zu imponieren?«

»Und wie! Sie glauben gar nicht, was alles ich mit dieser Lehre von den politischen Parteien ausgerichtet habe, seit ich sie in dem auf meinen Vorschlag von meinem Gönner gegründeten Blatt ›Die konservative Hetzpeitsche‹ allseitig entwickelte.«

»Und Sie meinen, mit solchem Firlefanz werde sich die herrschende Partei herrschend erhalten?«

»Hm, ist das eine kritische Frage. Unter uns, manchmal will mir selber scheinen, die konservative Hetzpeitsche knalle schon nicht mehr so lustig wie noch vor kurzem, und ihr Geknall finde keinen so begeisterten Widerhall mehr – wissen Sie? Sagte mir erst heute mein hochgestellter Gönner mit einem Seufzer, daß die Liberalen wieder Boden gewonnen hätten. Muß die bevorstehende Integralerneuerungswahl der gesetzgebenden Behörde die Sache entscheiden. Bin aber praktisch – wissen Sie? Werde mir beizeiten schon eine andere Karriere zu öffnen wissen. Bin nicht der Mann, mit einem untergehenden Fahrzeug unterzugehen. Tun das nur einfältige Ideologen, verrückte Schwärmer – wissen Sie? Leben in einem Lande, wo man die vorüberfliegende Fortuna resolut am Stirnhaar packen muß. Sag Ihnen das als aufrichtiger Freund. Praktisch und resolut! Das ist die Losung. Nur keine moralischen, will sagen idealistischen Skrupel! Halten einen sonst für einen Dummkopf, diese praktischen Schweizer – wissen Sie? Man muß heutzutage Amboß oder Hammer sein. Wußte das übrigens schon der alte Goethe in seinen Tagen. War eigentlich immer so – war es nicht? War es, beim Jupiter! Wer wird aber Amboß sein wollen, wenn er irgendwie Hammer sein kann? Praktisch! Praktisch! Praktisch!«

»Praktisch muß man sein, enorm Praktisch. So sagen auch Ziegenmilch und Komp.«

»Sagt er so? Respekt vor ihm. Verlange ungeheuer danach, des respektablen Mannes Bekanntschaft zu machen, die Madame eingeschlossen – wissen Sie? Folgen Sie immerhin, werter alter Freund, der Losung von Herrn Ziegenmilch und mir, und Sie werden gleich mir in diesem Lande der praktischen Leute ihr Glück machen. Ist ein prächtig Land, diese Schweiz, und sind die Leute hier so kolossal praktisch, daß sie es sich nie träumen lassen, andere könnten noch praktischer sein als sie. Schöne Gegend das – wissen Sie? Bedarf nur der rationellen Ausbeutung durch Leute von Genie, wie unsereiner ist, und so sage ich: Seien Sie meiner väterlichen Ermahnungen eingedenk; und ich prophezeie Ihnen in diesem Falle mit dem alten Horaz, der ja auch kein idealistischer Nebelpoet, sondern ein praktischer Gutsbesitzer und vortrefflicher Gourmand war:

...Hic tibi copia
Manabit ad plenum benigno
Ruris bonorum opulenta cornu
...«...Es werden dir
Hier aus wohltät'gem Füllhorn reichlich
Fließen des Landes Genüss' und Schätze.

Als wir in das Haus zurückkehrten, war die Tochter des Wadelewirtes schon zur Frau Professorin avanciert und Frau Lelia empfing mich mit einem Blicke, welcher böse gewesen wäre, wenn meine verehrliche Prinzipalin überhaupt hätte böse sein können – die gute Seele!

»Ach, Herr Hellmuth,« sagte sie, »Sie haben viel verloren, immens viel. Es war gar so gefühlvoll, wie das Lorle und der Maler steinhart sich gegenseitig ihre Gefühle offenbarten. Ich wollte, mein Vetter, Herr Artur Puff, wäre da gewesen, um zu sehen ...«

»Wie sich ein gefühlvoller Künstler bei Liebeserklärungen anstellt?«

»Ach nein! Gehen Sie doch: Wie mäschannt (méchant) von Ihnen. Sie gehören per se (per se ist eines der typischen Lieblingsworte der schönen und nichtschönen weiblichen Eingebornen der Stadt, von welcher hier die Rede) auch zu den Blasierten und Spöttern wie Herr Artur. Ach, die jetzige Männerwelt! Geldmachen, Zigarren rauchen und die süßesten Gefühle verspotten, das ist alles, was sie kann und tut.«

»Das ist nur zu wahr, Madame,« nahm – wir befanden uns nämlich im letzten Zwischenakt – der Herr Professor und Chefredakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« keck das Wort, seiner rasselnden Stimme einen möglichst süßen Ausdruck gebend und seine frechen Augen manierlich niederschlagend – »das ist nur zu wahr. Unsere jetzige Männerwelt ist bis an den Hals in den Sumpf des gemeinsten Materialismus versunken. Der grandiose Schiller hätte heute ganz andere Veranlassungen als in seinen Tagen, zu singen:

Und es herrscht der Erde Gott, das Geld.

Der unsterbliche Prophet des Idealismus würde, dichtete er jetzt, noch viel kläglicher klagen:

Freiheit lebt nur in dem Reich der Träume
Und das Schöne blüht –

Ja, Madame, das Schöne blüht mir noch da, wo die zarten Hände schöner und hochgestimmter Frauen es pflegen. So eine Priesterin des Schönen ist unsere schöne und allverehrte Charlotte Birch, geborne Pfeiffer.« – Vor kaum einer Stunde hatte der Halunke aufs wegwerfendste über die »Birch-Pfeifferei« sich ausgelassen. – »Und, Gott sei Dank, ihr erhabenes Streben, ihre gefühlvolle Poesie wird noch von gleichgestimmten Frauenseelen« – hier schoß Herr Rumpel aus seinen kleinen Augen einen so großen Blick auf meine Prinzipalin, daß diese sanft errötete – »verstanden und gewürdigt. Ja, Madame, bei ihnen, die sie das heilige Vestafeuer des Idealismus allein noch nähren, haben wir Männer in die Schule zu gehen. Das ahnte schon Altmeister Goethe, als er das tiefsinnige Wort sprach:

Willst du genau erfahren, was sich ziemt,
So frage nur bei edlen Frauen an.

Und noch expressiver huldigte Ihrem Geschlecht der Tyrtäos unserer Zeit, indem er, mit Grund an der Männerwelt verzweifelnd, von Ihrem Geschlecht die Lösung der großen weltgeschichtlichen Fragen erwartete und deshalb an dasselbe die heroische Apostrophe richtet:

Aber wollen mich die Männer
Nicht verstehn, die schwerverwirrten,
O, so höret ihr mich, Frauen!
Traget ihr ein Schwert in Myrten!«

Ein zweiter dreister Blick beschloß diese mit der gewohnten Zungenfertigkeit ihres Urhebers vorgebrachte Rede, und abermals errötete Frau Lelia sanft. Sie war gewiß in ihrem Leben noch nie mit so vielen Huldigungen und Zitaten auf einmal überschüttet worden, und ihre gefühlvolle Seele schwamm offenbar in Entzücken. Etwas verlegen wie sie war, konnte sie nur schüchtern sagen:

»Mein Herr, auf mich macht Charlotte Birch-Pfeiffer allerdings den Eindruck einer immensen Dichterin.«

»Immens? Ja, das ist das rechte Wort, gnädige Frau. An der Wahl dieses Wortes erkenne ich wieder den angeborenen ästhetischen Takt Ihres Geschlechtes.«

Dieses Kompliment und vollends der Titel »gnädige Frau«, welcher in der Schweiz selten einer Frau geboten wird, taten bedeutende Wirkung. Ich sah, daß der pfiffige Schelm im Handumdrehen meine Prinzipalin für sich eingenommen habe, und ich hätte, wie die Folge zeigen wird, gut getan, diese Bekanntschaft wo möglich nicht weiter gedeihen zu lassen. Aber die Wahrheit zu sagen, dieser »Zwischenakt« ergötzte mich höchlich, und so stellte ich den Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« in aller Form meiner Frau Prinzipalin vor.

Herr Rumpel setzte zu einer neuen Reihenfolge von Schmeicheleien an, als sich der Vorhang wieder hob und ihn zur Ruhe verwies.

Wer aber nicht zur Ruhe kam, sondern sehr in Unruhe geriet, war ich.

Indem ich mich nämlich umdrehte, um meinen Platz einzunehmen, streifte mein Blick die Proszeniumsloge rechter Hand und in der Loge einen jener, mit Herrn Ziegenmilch zu sprechen, enormen modischen Tubusse, deren zwei Mündungen denen von Sechspfündern gleichen.

Dieses Geschütz, von zwei zartbehandschuhten Damenhänden dirigiert, war auf mich gerichtet und blieb es, als droben auf der Bühne die schließliche Verbirchpfeifferung der Auerbachschen Novelle sich abzuspielen begonnen hatte.

Da ich an meinem damaligen Aufenthaltsorte noch nicht das Vergnügen gehabt hatte, irgend eine Dame außer Frau Ziegenmilch kennen zu lernen, so war es begreiflich, daß die beharrliche Neugierde der Logeninhaberin auch mich neugierig machte.

Die Dame saß ganz allein in der Loge, und da ich sie früher nicht bemerkt hatte, mußte sie erst lange nach Beginn des Stückes gekommen sein. Aber da ihr Kopf vorwärts geneigt und ihr Gesicht von dem fatalen Tubus beschattet war, konnte ich nur eine Fülle à la Grecque gescheitelten lichtbraunen Haares, eine prächtige Büste und zwei herrlich geformte, durch ihre blendende Weiße die Spitzenmanschetten beschämende Vorderarme sehen.

Endlich sanken diese Arme mit dem verwünschten Tubus auf die Logenbrüstung nieder und – o Himmel! – ich erkannte meine reizende, nur allzu unvergessene Reisebekanntschaft vom Gießbach und Faulhorn wieder.

Der Name Julie stieg mir laut aus der Brust in die Kehle, und ich mußte meine Lippen zusammenpressen, um ihnen denselben nicht entwischen zu lassen.

Sie mußte meinen überrascht fragenden Blick wahrgenommen, mußte bemerkt haben, daß ich in frohem Schrecken halb von meinem Sitze aufgefahren; aber kein Augenwink, keine Bewegung von ihrer Seite verriet die Wiedererkennung.

Sie fixierte mich noch eine Sekunde mit bloßen Augen und wandte dann diese großen schwarzen Augen, deren Feuer mit dem des funkenstreuenden Solitärs, den sie als Busennadel trug, wetteiferte, gleichgültig von mir ab und der Bühne zu.

»Sie hat dich wohl längst vergessen oder will vergessen, daß du sie einst gekannt und – geküßt hast, armer Junge!« sprach ich mit einem Seufzer bei mir. Dann hüllte ich mich in meinen dazumal, ach, sehr erkünstelten Stoizismus und sagte mir: »Bah, was weiter? Ein schöner Jugendtraum, verflogen wie soviele andere schöne Jugendträume.«

Ich beschloß, gar nicht mehr nach der Loge hinzusehen, tat es aber doch immer wieder, wobei ich mich bemühte, ebenfalls ganz gleichgültig auszusehen. Diese Heuchelei war indessen ganz überflüssig, denn Fräulein Julie nahm nicht die geringste Notiz mehr von mir.

Das ärgerte mich denn doch verteufelt, und in nicht eben guter Laune machte ich mich nach Beendigung des Stücks kurz von dem zugleich »genialen« und »praktischen« Herrn Rumpel los und führte meine Prinzipalin hinaus.

Als wir draußen die Vortreppe hinabstiegen, war eine Dame, welcher ein Livreediener den Schlag ihrer Equipage öffnete, gerade im Begriffe den Fuß auf den Tritt zu setzen, wandte sich aber halb, um ihren Mantel zurecht zu ziehen, und da fiel ihr Blick auf mich, den er aber nur flüchtig streifte, während er mit fast impertinent forschendem Ausdrucke einen Moment auf der Dame an meinem Arme haftete.

Es war Fräulein Julie; aber ich war zu stolz, auch nur mittels eines Blickes auf die frühere Bekanntschaft mich zu berufen, und was Frau Ziegenmilch betraf, so war sie zu sehr damit beschäftigt, den verehrungsvollen Abschiedsgruß des Redakteurs der »Konservativen Hetzpeitsche«, der uns gefolgt war, zu empfangen, als daß sie den forschenden Blick der jungen Dame beachtet hätte.

Diese schlüpfte rasch in ihren Wagen, der mit Pomp davonrollte, und ich schalt mich einen Dummkopf, daß ich dem Rädergerassel lauschte, bis es verhallte, aber ich tat doch so und fürchte sehr, Frau Lelia habe, während wir heimgingen, im stillen mit Recht gewünscht, statt ihres ungalant zerstreuten und einsilbigen Begleiters lieber den »immens« gefühlvollen und artigen Herrn Professur Rumpel an der Seite zu haben.


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