Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Buch.

Theorie.

Erstes Kapitel.

Eine Warnungstafel. – Von einem heiligsten Wunder. – »Treib das Kalb aus!« – Ein Gewissensbiß und ein altes Sprichwort. – »Ade nun, ihr Lieben!« – Eine Haarschnur, ein Dolchstoß und eine schwarze Kluft. – Debüt in der Renommisterei. – Jung und töricht.

Indem ich die Feder wieder ansetze – Leser! schon dieser hausbackene Ausdruck kann dir verraten, daß du es mit einem ziemlich altfränkischen Menschen zu tun hast – also, indem ich wieder die Feder ansetze, meine Denkwürdigkeiten oder, bescheidener gesprochen, meine Erinnerungen weiterzuführen, muß ich als ehrlicher Mann hier eine Warnungstafel aushängen.

Darauf steht geschrieben: »Man hüte sich vor Illusionen!« Nämlich ich kann der zarten Leserin und dem gewiegten Leser, welche dieses Buch zur Hand nehmen sollten, durchaus nicht versprechen, daß dasselbe den neuesten Zuschnitt novellistischer Mode tragen werde. Ich bin jederzeit gern meinen eigenen Weg auf meine eigene Weise gegangen, und so schreib' ich auch. Ich verstehe mich nicht auf die novellistische Schmeichelkunst, in deren Besitze die beliebten Erzähler des Tages je nach der gerade herrschenden Windströmung heute der Fürstenschaft und morgen der Pfaffheit zu Hofe kriechen, da dem Adel schmeicheln und dort die Bourgeoisie streicheln, hier die liebe Bauersame mit Hegelei überzuckern und weiterhin das Proletariat zur Quintessenz der Menschheit erheben. Ich vermag mich schlechterdings nicht zu jener Höhe liebedienerischer und dabei geschäftemacherischer Verlogenheit hinaufzuschwindeln, von welcher Höhe herab unsere großen Novellisten je nach der novellistischen Nachfrage den Baron oder den Kaufmann, den Professor oder den Dachdecker, den Pastor oder den Bauer, den Schulmeister oder den Fabrikarbeiter den Leuten als ein Ideal vorzudemonstrieren wissen. Auch in der Pariser Romanküche, wo man Katzen in Fasanen verwandelt und Frösche zu Krammetsvögeln herrichtet, bin ich nicht in die Schule gegangen. Ich verstehe nichts von solcher Kochkunst. Zwar werde ich im weiteren nicht bloß, wie bislang, Idyllisches, sondern leider auch modernst Leidenschaftliches und sogar Schreckliches zu erzählen haben, aber ich gestehe zum voraus meine Ungeschicklichkeit, solchen Gerichten jenes Parfüm französischer Fäulnis anzuraffinieren, welches ja auch in deutschen Damenboudoirs so wohlgelitten ist oder wenigstens noch vor kurzem war. Ich schreibe sozusagen ganz zwecklos und zunächst zu meinem eigenen Vergnügen, habe auch die altväterische und, wie ich wohl einsehe, sehr unzeitgemäße Neigung, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Das ist töricht und doppelt töricht zu einer Zeit, wo die Poloniusse, welche auf Verlangen in einer und derselben Minute eine Wolke für ein Kamel oder für ein Wiesel oder für einen Walfisch ansehen, zu Dutzenden in der Literatur herumlaufen. Aber es kann doch, in Gottes Namen, nicht jeder ein Polonius sein. Es werden daher in meiner Erzählung keine Diebe und Mörder figurieren, die eigentlich philosophische Tugendspiegel sind, es werden darin auch keine Marienblumen und andere Magdalenen heilig gesprochen, und selbst die Bauern – denn auch von Bauern werde ich zu reden haben – werde ich auftreten lassen, ohne sie vorher zum Umkleiden und Parfümieren in eine ästhetische Trödlerbude zu schicken, sogar auf die Gefahr hin, daß ihre »natürliche« Natur ihnen den Zutritt in Kreisen versperre, wo überhaupt nur Masken gern gesehen sind.

Nachdem ich so meinem Gewissen genug getan, kann ich nur sagen: Leser, bleib zurück oder komm mit! Entschließest du dich zum Mitkommen, so wirst du ein Stück Leben sehen, wie es ist. Das Gewöhnliche wie das Ungewöhnlichste, das Alltägliche wie das Furchtbarste, was ich dir erzählen werde, ist mit photographischer Treue aus der Wirklichkeit herausgegriffen.

Als eines der höchsten und heiligsten Wunder »in dieser Welt des Atmens« ist mir immer erschienen, daß eine Mutter nie müde wird. Diese Liebe, wahrlich, sie ist, wie das Hohelied singt, »stark wie der Tod«. Ja, man könnte, ohne gerade ein Schwärmer und Phantast zu sein, sich manchmal einbilden, daß Mutterliebe selbst über Tod und Grab hinausdauere. Hast du nie einen Moment erlebt, wo du, niedergedrückt vom tiefsten Leid, verzweiflungsvoll aufblickend, plötzlich wieder jene Augen voll Beschwichtigung und Trost auf dir ruhen fühltest, jene Augen, die deinem ersten Blicke begegneten, die Augen deiner Mutter, welche hingegangen, während ein letzter Segenswunsch für dich auf ihren erblassenden Lippen verzitterte? Der Mutter Segen baut den Kindern Häuser – ja, und er tut noch viel Besseres, Heiligeres: er verleiht dem Menschen das Bewußtsein, daß es Bande gebe, die nur dann brechen können, wenn die Kreatur aus dem Kreise des Menschlichen hinausgerissen wird ins Ungeheure, wo der Mensch nur noch ein gräßliches Zerrbild seines Wesens ist. Wenn ein Muttermord geschieht, fällt vor Entsetzen ein Stern vom Himmel, sagt ein tiefsinniges Volkssprichwort. Ich glaube das, die Physiker und Astronomen mögen es noch so lächerlich finden.

Und doch trägt die Summe von Zärtlichkeit, Sorge und Schmerzen, genannt Mutterliebe, welche eine längere Zifferreihe bildet als die englische Staatsschuld, oft so kärgliche Zinsen. Das mag, zur Ehre der menschlichen Natur sei es gesagt, daher kommen, daß man, was man an einer Mutter habe, erst dann recht weiß, wenn man sie nicht mehr hat.

Diese Betrachtung stieg unwillkürlich in mir auf, als ich erzählen wollte, welche Mühe sich meine Mutter gab, daß meiner Ausrüstung zum ersten Flug in die Welt nichts fehlte. Ich sehe sie noch, wie sie mit Beihilfe Hildegards meinen Koffer packte. Ach, zu jedem Stück, welches da hineinkam, legte sie ein liebevolles, vorsorgliches Wort, gleichsam ein Stück ihres zärtlichen Mutterherzens. Ganz unten hatte sie ohne mein Vorwissen ein halb Dutzend alter Maria-Theresientaler versteckt, eingewickelt in ein kleines schwarzseidenes Tuch, welches sie früher um den Hals getragen. Dieses Geld war der letzte Rest vom Inhalt des »Sparhafens«, welchen sie aus ihrer Kindheit mit in die Ehe herübergenommen. Ich wußte, wie sie an diesen Talern hing, deren jeder einen glücklichen Tag ihrer Jugend bezeichnete, und als ich daher beim Auspacken des Koffers den kleinen Schatz vorfand, gelobte ich, daß er mir heilig sein sollte. Ganz wurde dieses Gelöbnis freilich nicht gehalten – ach, ein Student hat so schwache Augenblicke und so dringende, ganz unabweislich dringende Ausgaben! – aber einen der sechs Maria-Theresientaler hab' ich doch durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch gerettet, und er ist mir ein echter und rechter Hecketaler gewesen. Auch das schwarze Seidentuch hab' ich noch, und nie, ich darf es sagen, ist mein Blick darauf gefallen, ohne daß ich mit zärtlichem Danke seiner vormaligen Trägerin gedacht hätte.

Aber damals, als sie so sorgfältig meinen Koffer packte, stand ich dabei und sah ihrer Mühwaltung ohne besonderen Anteil zu. War mir doch der Kopf von den Vorahnungen akademischer Herrlichkeit voll. Wenn mir recht ist, wälzte ich im Gemüte die höchst wichtige Frage, welches studentische Korps ich mit meinem Beitritt beehren sollte. Ich nahm es daher ziemlich leicht, als die Mutter ein abgegriffenes altes Büchelchen oben auf den hochgestapelten Inhalt des Koffers legte mit den Worten: »Sieh, Siegfried« – die Gute hätte mich seit jener Szene unter dem Apfelbaum um keine Welt mehr anders als Siegfried genannt – »das ist das Gebetbüchle, worin ich dich lesen lehrte. Früher war es das meine, und ich hab's noch von meiner Mutter selig. Du wirst nicht mehr darin lesen ... ich weiß, ich weiß ... aber tu es mir zuliebe, hörst du? und wirf manchmal einen Blick auf das arme alte Ding. Es wird dich an die andächtigen Stunden deiner Kinderjahre, an gute Vorsätze und an mich erinnern.« – »Ja, ja, Mutter, schon recht,« versetzte ich ziemlich zerstreut, – »und da, leg nur gleich das andere Buch dazu.«

Damit zog ich einen dicken, in Schweinsleder gebundenen Elzevir-Duodez aus der Tasche, eine Ausgabe des Euripides, welchen ich bei meinem vorhin abgestatteten Abschiedsbesuch bei dem guten Benefiziaten von diesem »in memoriam« erhalten hatte. Der alte Hairle hatte sich nur schwer von diesem Schatze getrennt. Hätte er doch nur gewußt, wie verteufelt wenig mir daran lag! Dreimal nahm er die schweinslederne Herrlichkeit vom Büchergestell, und dreimal wanderte sie wieder auf dasselbe zurück. Beim vierten Anlauf endlich war das Buch, von einem schweren Seufzer begleitet, aus seiner Hand in die meine übergegangen ... Meine Mutter, welcher schon das gelehrte Äußere des Elzevir imponierte, wurde vollends von heiligem Respekt erfüllt, als sie einen Blick auf das Innere warf und auf dem vergilbtem Schmutzblatt vor dem Titel eine lange Reihe griechischer, von der Hand des Magisters geschriebener Hieroglyphen wahrnahm. Mit ehrerbietiger Achtsamkeit legte sie den Euripides neben das Gebetbuch und schloß den Kofferdeckel, während ich ein Lächeln verbiß. Hatte doch Dominus Zipfelius als letzte Anmahnung für seinen zur Universität abgehenden Zögling auf jenes Blatt einen der fulminantesten Ausfälle des griechischen Tragikers gegen die »Weibsstücker« geschrieben.

Am Abend vor unserer – Fabians und meiner – Abreise machte mein Vater noch einen langen Gang durch die heimischen Fluren mit mir.

Da gab er mir, nach seiner Art mehr in der Form kordialen Gespräches als in sauertöpfischer Predigtweise, seine väterlichen Lehren und Warnungen.

»Du wirst jetzt,« sagte er unter anderem, »ein sozusagen ganz freier, auf dich selbst gestellter Mensch sein. Genieße diese Freiheit, aber vergiß nie, daß sie doch nur die Vorbereitungszeit auf die schwere Pflicht des Lebens ist. Die Jugend will ein bißchen toben, das ist ihre Art und sogar ihr Recht, aber hüte dich, mit dem Inhalt des schäumenden Jugendbechers so töricht verschwenderisch umzugehen, daß nichts mehr darin übrig bliebe als der bittere Bodensatz der Reue. Die so mit der akademischen Freiheit wirtschaften, sind nach ihrem durchstürmten Triennium nur noch jammerselige Philister. Treibe immerhin das Kalb aus, wie die Engländer sagen, ja, treibe immerhin das Kalb aus, mein Junge! Wenn es nicht in der Jugend ausgetrieben wird, manifestiert es sich oft im Alter noch als ungebärdigster Ochse. Sei meinetwegen ein flotter Bursch, aber nie überschreite auch nur halben Fußes die Grenzlinie zwischen Flottheit und Gemeinheit. Hinsichtlich des Geldes werde ich nicht knauserig gegen dich sein, aber präge tief in dein Gedächtnis, daß ich dir jetzt sage: Du bist nicht der Sohn eines reichen Mannes! Es hätte vielleicht ... doch das gehört nicht hierher ... Du bist zum Theologen bestimmt, aber gib dir neben deinem Berufsstudium redliche Mühe, dich zum Menschen, zum deutschen Manne auszubilden, zum deutschen Manne, hörst du? Ich weiß, du hegest Liebe für unsere vaterländische Geschichte, unsere Literatur, unsere Altertümer – pflege diese Liebe! Denn siehst du, man mag sagen, was man will, trotz alledem und alledem ist Deutschland das edelste Land der Erde. Von uns, von unserem Gedankenhort zehren alle übrigen Nationen. Mögen sie es leugnen, die Undankbaren, was tut es? Der deutsche Geist rastet trotzdem keinen Tag, keine Stunde, keine Minute auf seinem stillen Eroberungszug durch die Welt ... Halte fest an deiner Freundschaft mit dem Fabian. Sie hat, ohne daß er oder du es merktest, schon bisher heilsam auf dich gewirkt. Eure Wege werden zwar nicht immer dieselben sein können, schon deshalb nicht, weil Fabian in das klösterliche Theologenstift eintritt; aber dessenungeachtet suche seinen Umgang, wo du kannst. Tue ihm Gutes, unterstütze ihn, aber in zarter Weise, hörst du? Denn dein Freund ist ein lebendiger Beweis des Satzes, daß die Kinder der Armen oft das feinste Gefühl haben. Und nun noch das, ja, noch das: ich sehe es voraus, Michel, daß du bei deinen theologischen Studien Kämpfe des Zweifels durchzumachen haben wirst. Ja, es wird so kommen. Kämpfe sie wacker, mein Knabe, und nie – sei dieser Bitte eingedenk! – nie laß davon auch nur eine Silbe gegen deine Mutter verlauten. Ihre Frömmigkeit ertrüge das nicht, nein, sie ertrüge es nicht, weißt du? ... Und vergiß es nicht, du wirst eines Tages zu deinem Leide erfahren, daß man nur eine Mutter hat.«

Nach einer Pause sagte ich: »Es liegt mir noch etwas auf dem Herzen, Vater.«

»Was?«

»Der Freiherr ist doch immer recht gütig gegen mich gewesen, und als er mir heute noch ein reiches Geschenk mit auf den Weg gab, schämte ich mich fast, es anzunehmen.«

»Warum?«

»Von wegen dem Stein, weißt du?«

»Stein? Stein? Was für ein Stein?«

»Der falsche Mithrasstein.«

»Aha, der liegt dir auf dem Herzen? Siehst du nun, Bursch, daß das Unrecht eine Spur hinterläßt, welche sich nicht verwischt?«

»Ich mein', ich sollte dem guten Herrn die Sache noch aufdecken, bevor ich gehe.«

Mein Vater schwieg eine Weile nachdenklich und sagte dann:

»Nein, es geht nicht. Aber sei dir dies ein warnender Fingerzeig, daß es leichter sei, unrecht zu tun, als es wieder gut zu machen. Der Freiherr hat so großes Wesen aus seinem angeblichen Funde gemacht, hat so vielen Leuten davon gesprochen, daß es ihn, wie es nun einmal ist, tief schmerzen und kränken müßte, zu erfahren, daß er durch einen leichtsinnigen Bubenschwank gefoppt worden sei. Wir müssen ihm, bei aller Achtung vor deinem wenn auch ziemlich verspätet sich regenden Redlichkeitsgefühl, diese Kränkung ersparen. Seine Illusion macht ihn glücklich und, ach, die Menschen können ja überhaupt ohne Illusionen nicht leben. Sie bedürfen derselben wie des täglichen Brotes. Aber, Michel, keinen Mithrassteinschwank mehr, hörst du? Nie mehr! Diese Erfahrung kann dich lehren, wie sinnvoll das alte Wort von dem unbedacht geschleuderten Stein sei. Es paßt hierher, wie eigens dafür gemacht – bei Wodan und Frouwa!«

Am andern Morgen in aller Frühe zogen wir aus, der Fabian und ich, in nordwestlicher Richtung durchs Gebirge, die Wandertaschen auf dem Rücken. »Denn,« sagte mein Vater, »seit die Studenten das Fußreisen zu verlernen anfangen, geht's bergab mit der Studentenromantik.« Wir sollten an diesem Verfall keine Mitschuld tragen und demnach zu Fuße reisen.

Endlich war der herbe Augenblick des Abschieds von der Mutter und der Schwester vorbei, welche letztere – ich hatte es wohl bemerkt – heute zwar ungenierter, aber trotzdem doch fast etwas weniger traurig war als neulich, da der Berthold wieder fortgemußt hatte. Ich hielt es nach Art eines jungen Guckindiewelt für mannhaft, den strömenden Tränen meiner armen Mutter, die ihren Michel, wollte sagen ihren Siegfried zum erstenmal für längere Zeit scheiden sehen mußte, eine gefaßte, das heißt erkünstelte frohe Zuversicht entgegenzusetzen, und brachte mit etwelcher Anstrengung sogar einen leidlichen Abschiedsscherz zuwege; aber als nun unter der Haustüre noch unsere beiden alten Mägde, die Theres und die Annem'rei, so redlich mich anweinten, als auf der obersten Hausstaffel, während meine Mutter mir ihr letztes »Behüt' dich Gott!« auf Lippen und Wangen küßte, Don Murr mit einem Geschnurre, das mir sehr elegisch vorkam, sich an meinen Beinen rieb und von der untersten der alte Hylas so herzbrechend zu mir heraufblickte, als wollte er sagen: »Ade, seh' dich nimmermehr!« und als wir nun durch den Garten gingen, wo jeder Zoll Erde mich an meine glückliche Kindheit erinnerte – da, ja, da kam mir ein verteufelt unmannhaftes Schlucken in die Kehle und ich tat, als trocknete ich die Tränenspuren, welche meiner Mutter letzte Umarmung auf meinen Wangen zurückgelassen. Aber es war auch das Naß meiner eigenen Augen dabei.

Der Vater wollte uns noch eine Strecke weit das Geleite geben, und als wir erst den Garten hinter uns hatten, schritten wir rüstig in den frischen Oktobermorgen hinein.

Wir kreuzten den Schloßpark. Dort zur Rechten hob sich der große westliche Turm des Freiherrnsitzes aus den alten, schon halb entblätterten Ulmen empor. Aus der Wand, welche der Turm flankierte, sprang der zierliche Erker vor, in welchen Isoldes Zimmer auslief. Ich meinte, es müsse sein wie in einem Fouquéschen Roman, das heißt, ich schmeichelte mir mit der leisen Hoffnung, das Burgfräulein würde am Erkerfenster erscheinen, um mir mit weißem Tuch noch einen letzten Gruß zuzuwinken.

So romantisch kam es nun freilich nicht, aber besser. Denn während ich nach dem Erker hinstarrte, stieß mich Fabian leise an und sagte: »Da kommt das gnädige Fräulein.«

Und wirklich, Isolde kam uns langsam entgegen, hart beim Krähenkloster, wo mir damals der Bruder Jehan ein glückverheißendes Orakel erteilt hatte.

»Was tust du schon so früh hier, liebes Kind?« fragte mein Vater, und es war fast, als klänge seine Stimme nicht so liebevoll, wie sie sonst immer klang, wenn er mit dem jungen Mädchen sprach.

»Der schöne Morgen,« versetzte sie ... »ich wachte so früh auf und ... und ...«

Sie errötete leise und stockte, als wollte sie sich auf Angabe eines stichhaltigen Grundes für ihren Frühgang besinnen.

Aber Isolde von Rothenfluh hat nie eine aussprechen können und so, vielleicht auch ermutigt durch die helle Freude, die bei ihrem unerwarteten Erscheinen in meinen Augen funkelte, fuhr sie treuherzig fort:

»Ich dachte mir, daß ich euch noch hier begegnen könnte, und ich wollte dem Fabian noch Adieu sagen und ... auch dem Michel.«

»So macht die Sache rasch ab, Kinder,« sagte mein Vater. »Gar zuviele Rührung taugt nichts beim Antritt einer Reise.«

Isolde griff mit der Hand in die Chatelaine, welche an ihrem Morgenkleide hing, und reichte sie dann dem Fabian hin, welcher schüchtern einen Händedruck erwiderte, der, wie ich nachher erfuhr, kein leerer war. Das gute Kind hatte seinen Spartopf geleert, um dem armen Studenten ein Viatikum zu reichen, das ihn reicher machte, als er sein Leben lang gewesen war.

Fabian, der, allen kameradschaftlichen Umgangs mit Isolde ungeachtet, zu ihr stets »hinaufgeblickt« hatte »als zu einem Wesen höherer Art«, stotterte Dankesworte, die sehr schlecht »gesetzt« waren und die das junge Mädchen dadurch abschnitt, daß es sich zu mir wandte.

Ich habe es nie vergessen, wie sie damals vor mir stand und nach kurzem Zögern die Augen zu mir aufschlug. Es war darin etwas von dem Ausdruck, womit sie vor einiger Zeit an der Breunighalde den Scheinschlafenden angesehen hatte.

»Michel,« sagte sie, uneingeschüchtert durch die ernsten Blicke, womit mein Vater mich betrachtete, »Michel, unsere Hildegard hat mir gesagt, daß sie vergessen, dir eine Schnur für deine Uhr zu flechten. Da hast du eine. Ich hab' sie schnell noch für dich geflochten.«

Sie zog die Schnur hervor, geflochten aus ihren wunderschönen Haaren, und neigte sich gegen mich, mir sie umzuhängen.

Da ward mir doch, weiß der Himmel, ganz Fouquésch zumute, und ohne Zweifel hätt' ich, wäre nur mein Vater nicht anwesend gewesen, mein Knie gebeugt, um die Gabe in Empfang zu nehmen.

So aber begnügte ich mich, die Mütze abzunehmen und den Kopf vorzubeugen.

Isolde legte mir die Schnur um den Nacken und flüsterte kaum hörbar:

»Vergiß mich nicht!«

»Nie, niemals!« wollte ich leidenschaftlich ausrufen, aber das Wort blieb mir in der Kehle stecken. Meine Augen sagten es aber statt des Mundes so deutlich, daß Isolde die ihrigen senkte.

So trat sie zurück, bot mir die Hand, erwiderte leise den heftigen Druck der meinigen und sagte:

»Behüt' dich Gott, Michel, und sei brav!«

»Gut so, liebes Kind, und du, Michel, merke dir das,« sagte mein Vater. »Brav sein heißt die Pflichten erfüllen, welche unsere Stellung im Leben uns auferlegt. Und jetzt wollen wir gehen.«

Wir gingen. Das Herz quoll mir in der Brust, und bei jedem Schritt glaubte ich umkehren zu müssen, um der geliebten Jugendgespielin noch ein herzlich Wort zu sagen, allein ich bezwang mich und schritt mechanisch fürbaß.

Aber bei der nächsten Biegung des Weges mußte ich mich doch umschauen.

Da stand Isolde wie festgebannt unter den alten Bäumen und hielt ihr Tuch an die Augen gedrückt. Ob sie weinte? Ich blieb einen Augenblick stehen. Sie bemerkte es und winkte mir mit dem weißen Tuch einen letzten Gruß zu. Dann entzog mir die Krümmung des Weges den Anblick der teuren Gestalt.

Wir schritten schweigend talwärts, verfolgten eine Strecke weit den Lauf des Baches und stiegen dann rechter Hand den Bergwaldsteig hinan. Uns allen dreien war das Herz schwer.

Als wir auf dem Plateau, wo sich der Wald lichtete, angelangt, auf die einzeln stehende Blutbuche zugingen, bis wohin mein Vater uns begleiten wollte, sagte er:

»Wenn der Mensch seine Heimat verläßt, muß er sich immer darauf gefaßt machen, bei seiner Wiederkehr vieles verändert zu finden. Es wird euch wohl auch so gehen.«

Ich sagte nichts, obwohl mir diese Worte wie eine Einleitung zu Bedrohlichem klangen.

»Da ist zum Beispiel das junge Fräulein,« fuhr der Vater fort – warum sagt er nicht schlichtweg Isolde, wie sonst? dachte ich – »die werdet ihr, wenn ihr übers Jahr in die Ferien kommt, wohl nicht mehr zu Hause treffen.«

»Was?« platzte ich heraus.

»Ja, siehst du, Michel, ich vergaß, dir gelegentlich zu sagen, daß das Fräulein dem ältesten Sohne des Grafen Zackstein drüben im Fränkischen zur Frau bestimmt ist ...«

»Isolde?«

»Freilich, Fräulein Isolde ...«

»Und sie wird ihn nehmen?«

»Warum denn nicht? Wie kommst du mir vor, Junge? Es ist eine alte Vereinbarung zwischen dem Freiherrn und dem alten Grafen, welche vorzeiten Kriegskameraden waren.«

Ich mußte unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen fassen, so gewaltsam schnürte es sich mir in der Brust zusammen.

Mein Vater mochte diese Gebärde wahrgenommen haben, denn er fuhr mit weicherer Stimme fort:

»Es ist eine in jeder Beziehung glückliche Partie und eine standesgemäße. Der Freiherr Bodo hält, obwohl der humanste Mann von der Welt, dennoch viel, sehr viel auf seinen Stand und dessen Stellung, besonders in solchen Dingen. Wer möchte ihn deshalb tadeln? Der junge Graf Zackstein wird eines Tages der Erbe sehr reicher Besitzungen. Er ist eine höchst einnehmende Persönlichkeit, ein trefflicher Kavalier. Er hat eine Zeitlang in der diplomatischen Laufbahn gedient und ist jetzt auf Reisen gegangen ...«

»Er mag zum Teufel gehen!« dachte ich.

»Als ich diesen Sommer in der Residenz war, hörte ich viel Gutes von ihm ...«

»Ich schlag' ihn aber doch tot, wo ich ihn finde!« schwur ich bei mir. »Bei seiner Zurückkunft soll das förmliche Verlöbnis mit unserm Fräulein stattfinden. Bis dahin wird unser Fräulein mit ihrer Gouvernante bei ihrer Tante, der Schwester des Freiherrn, in der Residenz leben, um da den letzten Schliff zur großen Dame zu erhalten, die sie künftig sein wird.«

Mein Vater hielt eine Weile inne, als zitterte die väterliche Hand, die aus Liebe, ja aus Liebe – das fühlte ich doch dunkel zwischen all der Qual hindurch – das Messer in die Brust des Sohnes gesenkt hatte. Dann setzte er, um zu vollenden, was er mußte, hinzu:

»Wahrscheinlich, lieber Michel, wirst du unser Fräulein erst als Gräfin wiedersehen.«

Mir läutete es vor den Ohren wie von einer Riesenglocke, und vor meinen Augen flackerten Irrwischlichter. In ihrem Scheine sah ich plötzlich die ungeheure schwarze Kluft, die Standeskluft vor mir klaffen, welche mich von Isolde trennte ... Jetzt begriff ich mit einem Schlag, was der Kampf der Plebs gegen das Patriziat im alten Rom und was der Bauernkrieg zur Reformationszeit zu bedeuten gehabt habe, und begriff auch das Jahr 1789 und, ja, auch Danton und Saint-Just und Robespierre. Der Schmerz ist mitunter der Geschickteste aller Lehrer.

Der Tumult meiner Gefühle zu jener Stunde war ein zu heftiger, als daß er mir eine deutliche Erinnerung an die Einzelheiten des Abschieds von meinem Vater übrig gelassen hätte. Genug, als ich sozusagen zu mir selbst kam, fand ich mich mit Fabian allein auf der Heide, über welche unser Weg hinlief. Die Sonne stieg schon höher und höher, und immer noch schritt ich schweigend zu und immer zu, der Fabian schweigend mir zur Seite, nachdem wiederholte Versuche von seiner Seite, ein Gespräch anzuknüpfen, mißlungen waren.

Bei leidenschaftlichen Menschen – und ich war in Jugendtagen so ziemlich ein solcher – sind aber schroffe Übergänge in den Stimmungen nicht ungewöhnlich, und so kann es den allfälligen Leser meiner Geschichte nicht überraschen, wenn ich sage, daß den achtzehnjährigen Burschen, welcher vorhin aus Verzweiflung ohne weiteres in die erwähnte schwarze Kluft kopfüber sich gestürzt hätte, wäre dieselbe nur gerade in natura vorhanden gewesen – plötzlich eine wildlustige Laune anwandelte.

»So, Fabiane, Fabiantor, Fabianissime,« rief ich meinem Gefährten zu, indem ich mich unter einen Baum am Wege in das absterbende Heidekraut warf – »so, jetzt hätten wir den ganzen Kram und Quark hinter uns und sind endlich unsere eigenen Herren. Tu den Schnappsack auf, Mann, tu den Schnappsack auf, sag' ich. Meine Mutter hat noch was Gebratenes für uns hineingesteckt, und da ist Wein in meiner Reiseflasche. Ich bring' dir's zu, Fabiane Fabianorum, da trink – es lebe die Freiheit! Es lebe der Unsinn! Es lebe der Teufel und seine vermaledeite Großmutter!«

Der Freund sah mich mit großen Augen an.

»Was hast du denn?« fragte er.

»Was ich habe? Nichts oder, halt, ja, eine unbändige Freude hab' ich.«

»Das freut mich. Und sieh, ich bin auch gar nicht so traurig, wie ich gestern fürchtete, daß ich heute sein würde.«

»Traurig? Was fällt dir ein? Mir ist ungeheuer lustig zumute, auf Cerevis! Ja, so frei und so lustig ... hm, ich könnte ... ja, was wollte ich denn eigentlich gleich sagen?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich bin auch ganz hellauf, weil meine Mutter sich beim Abschiede ganz gefaßt benahm ... Du weißt, die arme Frau hat nur mich auf der weiten Welt, und ich fürchtete, wie gesagt, sie würde sich gar zu sehr grämen, als ich fort mußte ... und ... und ...«

»Was und?«

»Alle Leute im Dorfe sind beim Abschiede noch so freundlich gegen mich gewesen ... und das gnädige Fräulein war so großmütig – sieh nur her! – und, ja, Hildegard war zuletzt noch so gut mit mir, so recht herzlich gut ...«

»Halt ein mit deiner Litanei, empfindsamer Maikäfer du! Ich sag', zum T..., das heißt nicht gerade zum Teufel, aber doch sonst wohin mit den Weibsstückern! Unser Magister hat ganz recht; sie taugen alle keinen Pfifferling. Er hat's aus dem Euripides gelernt. Hätt' ich nur meinen Koffer mit der alten Scharteke da, ich wollt' dir's vorlesen.«

»Ach geh doch', Michel! Ich hab's wohl gesehen, was du für Augen machtest, als dir das gnädige Fräulein die Haarschnur gab und ...«

»Jetzt mach mich nicht rabiat, Fabian, hörst du? Ich bin ohnehin schon so fuchsteufelswild ... Doch bah, sie heiratet den Grafen Zickzack oder wie der Kerl heißt. Mir einerlei, ganz einerlei – was geht's mich an? Müßte ja Tinte gesoffen haben, wenn ich mich darüber ärgern wollte, – so müßt' ich, auf Cerevis! Sie heiratet standesgemäß, natürlich, ganz in der Ordnung! Wappen zu Wappen, gleich und gleich gesellt sich gern ... Möchte nur zuvor gelegentlich dem Kerl ein paar Rippen zerbrechen. ... Sie kriegt jetzt den letzten Schliff zur großen Dame ... gut, schon recht ... mira! Untertäniger Diener, gnädige Frau Gräfin ... ich kümmere mich kein Brosämle darum und ... he, wir wollen eins singen, Fabiane, und gib die Flasche her! Steig' dir ein Quärtle, Mann, und damit basta und hurra!«

Ach, während ich mich in solchem Kraftgepolter erging, stand mir das Weinen näher als das Lachen, und während jetzt der Fabian für einen Augenblick den Kopf wandte, drückte ich Isoldes Haarschnur verstohlen an die Lippen.

So töricht ist die Jugend. ... Aber, o, wie süß ist es, jung und töricht zu sein!


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