Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

Eine jener alten Geschichten, die immer neu bleiben. – Das verzauberte Hauptbuch. – Doktor Schwindelhabersches Augenwasser und ein wunderliches Augenleiden. – Autor kommt jemand »verheiratet« vor und erhält ein Billett zugesteckt.

Am folgenden Tage brachte die »Konservative Hetzpeitsche« zwei Artikel, deren erster von der sittlichen und politischen Bedeutung des Handels, deren zweiter mit Bezugnahme auf die gestrige Lorelei von der dichterischen Berechtigung der Frauen handelte. Beide Artikel waren brillant geschrieben, so zwar, daß sich jeder Kaufmann einbilden konnte, er machte, während er rein nur für sich »machte«, eigentlich Weltgeschichte, und jede Abonnentin einer Leihbibliothek, sie sei zum mindesten eine halbe Sappho oder Sand.

Herr Rumpel hatte sozusagen diese beiden Artikel als seine Vorläufer und Anmelder in das Ziegenmilchsche Haus gesandt, denn am nächsten Tage kam er selbst, und zwar unter dem Vorwande, mich zu besuchen, seinen »alten liebwerten Freund«, wie er sich auszudrücken geruhte. Wir waren gerade im Begriffe, vom Mittagstische aufzustehen, und so konnte ich nicht umhin, den Herrn »Professor« meinem Prinzipal in aller Form vorzustellen.

Herr Ziegenmilch, ein Stockkonservativer, wie genau angesehen, so ziemlich alle Geschäftsleute, die überhaupt eine politische Meinung haben, nahm den Redakteur der Hetzpeitsche, welcher damals in Wahrheit keine kleine Rolle spielte, mit großer Artigkeit auf und überhäufte denselben mit Komplimenten über seinen gestrigen Leitartikel, welchen er »enorm, aber auch ganz enorm« fand, und zwar ebenso »enorm praktisch« als »enorm geistig«. (Beiläufig bemerkt, wo wir geistreich oder geistvoll sagen, sagen die Schweizer kurzweg »geistig«. Anfangs kommen einem Ausdrücke wie zum Beispiel: »Das ist ein geistiger Pfarrer; er hat gestern eine geistige Predigt gehalten« – sonderbar vor.) Auch Frau Lelia, nachdem sie eine Viertelstunde lang die geziemende bescheidene Zurückhaltung beobachtet hatte, fand Gelegenheit, ihr Wort anzubringen und dem Herrn Professor für seinen »immens gefühlvollen« Frauenartikel Dank zu sagen. Herr Rumpel seinerseits führte seine Rolle mit höchster Meisterschaft durch, indem er sich gleichsam in zwei Hälften teilte. Die eine dieser Hälften, die dann doch wieder durch das Band einer göttlichen Sicherheit, um nicht zu sagen Unverschämtheit, verbunden wurden, waren Herrn Ziegenmilch zugekehrt und praktisch jeder Zoll, die andere, Frau Ziegenmilch zugewandt, schillerte in allen Farben identischer Gefühlsamkeit. Er blieb auch nicht zu lange, der Schlaukopf, sondern empfahl sich, nachdem er meinem Prinzipal einige mysteriöse Winke über eine in der europäischen Geschäftswelt bevorstehende Geldkrisis gegeben und ihm dabei kordial die Hand geschüttelt, und nachdem er für Madame ein »immens geistiges« Wort über ihre Lieblingsdichterin George Sand hingeworfen und ihr in ehrfurchtsvoll galanter Weise die runde Patschhand geküßt hatte. Herr Ziegenmilch begleitete den Vielgewandten bis unten an die Treppe und sagte ihm dort noch mit Emphase: »Es wird mir eine große Ehre sein, Herr Professor, wenn Sie mein Haus häufig mit Ihrer Gegenwart beehren wollen.«

Armer Ziegenmilch! dachte ich und ging an meine Arbeit, entschlossen, bei erster Gelegenheit meinem Prinzipal eine verständliche Andeutung zu geben, daß es nicht immer »praktisch« sei, sich mit renommierten Leuten von der Gattung des Herrn Rumpel einzulassen. Die Gelegenheit fand sich auch einige Tage später, allein ich erzielte mit meiner Warnung nur, daß mir Herr Ziegenmilch deutlich zu verstehen gab, er fände es seltsam, daß ich, wie es scheine, eine so »enorme« Persönlichkeit, wie mein Landsmann sei, nicht zu würdigen wüßte.

So sind die Menschen, sie wollen lieber zehn Lügen als eine Wahrheit hören. Wer ihrer Eitelkeit, ihren Vorurteilen schmeichelt, der hat sie. Auch eine jener alten Geschichten, die immer neu bleiben.

Der Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« wurde von jenem Tage an ein viel und gern gesehener Gast bei Ziegenmilch und Komp. Ich fühlte weiter keinen Beruf, ihm das Terrain streitig zu machen, wohl aber fühlte einen solchen Beruf Herr Artur Puff, der in Herrn Rumpel einen gefährlichen Konkurrenten sehen mochte, weniger einen Konkurrenten um Frau Lelia, als vielmehr um den Bordeaux und die Manilas ihres Herrn Gemahls. Herr Puff, ein Ultraradikaler, erhob also innerhalb der Wände des Ziegenmilchschen Hauses einen kleinen satirischen Krieg gegen den Schwinger der Konservativen Hetzpeitsche, allein Herr Rumpel schwang diese wirklich mit so viel Humor, daß der satirische Malerstock seines Gegners nicht dagegen aufkommen konnte. Herr Puff räumte aber dennoch das Feld nicht, sondern es kam zwischen ihm und seinem Gegner zu einem bewaffneten Waffenstillstand, dessen Hauptbedingung war, besagten Bordeaux gemeinsam zu trinken und besagte Manilas gemeinsam zu rauchen. »Ein unverschämter Schuft, dieser hergelaufene Rumpel!« pflegte dann Herr Puff zu mir zu sagen. »Er lügt, daß die Balken krachen; aber er weiß amüsierlich zu lügen, das muß man ihm lassen.« – »Ein höllisch grüner Junge, dieser Puff!« äußerte dagegen Herr Rumpel. »Hat die kuriose fixe Idee, ein Künstler zu sein; aber er trinkt gut und ist im ganzen ein pläsierliches Kerlchen – wissen Sie?«

Ich ging also an jenem Tage, wo sich Herr Rumpel so erfolgreich bei uns einführte, an meine Arbeit und nahm das Hauptbuch vor, um die restierenden Einträge zu machen. Da ich aber im Kontor einen Brief von Fabian an mich vorgefunden, so schoben sich die lieben Züge des Freundes, der mir schrieb, daß er seine Primiz gefeiert habe und jetzt im Begriffe sei, ein Vikariat anzutreten, immer wieder an die Stelle der eintönigen Zahlen, die ich im Soll und Haben zu registrieren mich bemühte. Neben Fabians Gesicht tauchten auch andere liebe Gesichter auf den weißen Blättern vor mir auf, das Hildegards, das Isoldes, und hinter diesem – ich mochte wollen oder nicht, und weiß der Himmel! ich gab mir alle erdenkliche Mühe, nicht zu wollen – das reizende Gesicht, welches ich vorgestern abend in der Proszeniumsloge wiedergesehen hatte. »Sie ist noch schöner geworden, diese Julie,« sagte ich bei mir, »viel schöner als damals, wo sie nicht so beleidigend gleichgültig gegen mich tat.«

»Ach was!« unterbrach ich mich unwillig, »dummes Zeug!« und schlug das Blatt um, damit ich das verführerische Gesicht los würde.

Aber leider, es erschien auch auf dem folgenden Blatte wieder, inmitten einer Reihe mit mechanischem Eifer von mir hingemalter Zahlen.

Ich wandte meine Augen, um sie zu zerstreuen, von dem Hauptbuche ab und dem auf den Laden hinausgehenden Fenster zu, aber – mein Gott! dort hinter den Spiegelscheiben stand ja wieder Fräulein Julie, kein Phantom der gaukelnden Phantasie, sondern leibhaftig, wahrhaftig in der ganzen Wirklichkeit ihrer schönen Erscheinung.

Gerade dem Fenster gegenüber vor dem Ladentische stehend, auf welchem zwei unserer Ladenjungfern den Inhalt von allerhand Schachteln und Schächtelchen geschäftig vor ihr ausbreiteten, mußte ihr Blick auf mir geruht haben; denn als ich plötzlich aufsah, erhaschte ich noch einen Blitz der schwarzen Augen, die sich sofort auf die Verkaufsgegenstände senkten.

Als sie sich nicht wieder erhoben, brummte ich erbost in mich hinein: »Nun mein Fräulein, wenn Sie mich absolut nicht sehen wollen, will ich Sie auch nicht sehen!«

Sprach's und beugte mich tiefer, als nötig gewesen wäre, auf das unglückselige Hauptbuch nieder, ungeheuer bemüht, in den Zahlenreihen mich zu orientieren, die ganz anarchisch vor meinen Augen herumtanzten.

»Ein so dummer Junge wie du, ist mir noch gar nicht vorgekommen!« schalt ich mich im höchsten Zorne, als die Türe aufging und eines der Ladenmädchen hereintrat mit den Worten:

»Herr Hellmuth, eine Dame wünscht von Ihnen eine genaue Gebrauchsanweisung des neuerfundenen Dr. Schwindelhaberschen Augenwassers zu erhalten.«

Was war da weiter zu machen, als dem Verlangen der Dame nachzukommen?

Ich ging also hinaus und machte dem schönen Fräulein eine tiefe Verbeugung. Sie erwiderte dieselbe mit einem kaum merklichen Neigen des Kopfes, wie es eben eine Dame der reichen und vornehmen Welt einem armen Teufel von Kommis zuteil werden läßt.

Ein Fläschchen des genannten Arkanums in der Hand haltend, winkte sie mich mit der anderen an ein Fenster und sagte:

»Mein Herr, ich las gestern eine sehr poetisch stilisierte Annonce über die wunderbaren Wirkungen dieser Tinktur. Darf ich,« fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu, »vielleicht fragen, ob ich die Ehre habe, dem Autor dieses vortrefflichen Gedichtes gegenüberzustehen?«

Als sie so sprach, zischten und kicherten aus den voll auf mich gerichteten Augen der Schönen tausend Schlänglein des Spottes mich an, und um ihre Mundwinkel ward für einen Augenblick wieder jener Eidechsenzug sichtbar, den ich schon früher bemerkt hatte.

Ich nahm mich aber tapfer zusammen und erwiderte so kommishaft gemessen als nur immer möglich:

»Mein Fräulein, Klimpern gehört überall zum Handwerk, und Geschäft ist Geschäft, wie mein Herr Prinzipal zu sagen pflegt.«

»Sie wollen sagen, Geschäft sei Schwindel und Schwindel sei Geschäft?«

»Nun ja, wenn es Ihnen beliebt. Aber leiden Sie wirklich an den Augen?«

»Was geht das Sie an, mein Herr?«

»Nichts, mein Fräulein.«

Sie drehte das Fläschchen heftig zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte noch leiser, als sie bisher gesprochen hatte:

»Ich leide wirklich an den Augen, das heißt, ich habe die wunderliche Illusion, manchmal, besonders bei schlechter Beleuchtung, zum Beispiel in unserm Theater hier, wildfremde Menschen für alte Bekannte zu halten.«

»Wunderlich, in der Tat!«

»Nicht wahr?«

Ihr Auge, dessen Ausdruck so rasch wechselte, wie die Gedanken im Menschenherzen, blitzte mich zornig an. Aber ich hielt den Zornblitz aus, ohne zu zucken. Wahrscheinlich hatte sie erwartet, ich würde mich als einen alten Bekannten zu legitimieren suchen, das heißt mich vor ihr demütigen. Allein ich wollte dem Dämchen zeigen, daß ein Gentleman auch als Kommis doch immer Gentleman bleibt.

Vielleicht las ihr durchdringender Blick so etwas in meinem Auge, denn sie sagte merklich milder als vorhin:

»Auch vorgestern abend, im Theater, spielten meine Augen mir so einen Streich. Denken Sie, mein Herr, ich hätte wohl eine Viertelstunde lang darauf geschworen, in Ihnen einen alten, guten Bekannten zu erblicken« – sie betonte das »guten« so schelmisch-zärtlich und begleitete es mit einem so reizenden Lächeln, daß ich große Mühe hatte, gefaßt zu bleiben – »als ich Sie im Parkett sitzen sah, Ihrer Frau Gemahlin zur Seite.«

»Da war in der Tat eine bedeutende Illusion im Spiele, mein Fräulein. Ich bin nicht verheiratet.«

»Nicht? Seltsam! Sie kamen mir doch so ... so ... wie soll ich sagen? ... nun ja, so verheiratet vor.«

Alle Teufelchen des Spottes mitsammen hätten das Wort »verheiratet« nicht so auszusprechen vermocht, wie Fräulein Julie es aussprach. Es klang, so absonderlich das dem geneigten Leser vorkommen mag, ja, es klang ganz wie »heruntergekommen«, aber doch auch wieder nicht beleidigend, sondern so entschieden komisch, daß ich laut auflachte.

»Sehen Sie, mein Herr,« sagte Fräulein Julie, ihre Rosenlippen für einen Moment im Lächeln so weit öffnend, daß dahinter der weiße Schmelz ihrer Zähne sichtbar wurde, »sehen Sie, wenn Sie die ernste Amtsmiene eines Repräsentanten der Firma Ziegenmilch und Komp. beiseite legen und lachen, so kehrt meine wunderliche Illusion wieder.«

»Merkwürdig! Aber noch merkwürdiger ist, daß Ihre Illusion mit anderen Illusionen die Eigenschaft zu teilen scheint, epidemisch zu sein. Mir kam nämlich schon vorgestern im Theater der illusorische Einfall, ich sei früher einmal irgendwo einer jungen Dame begegnet, die ...«

»Genug!« fiel sie mir rasch und laut ins Wort, auf eines der Ladenmädchen blickend, welches sich neugierig in unserer Nähe zu schaffen machen wollte. »Ich werde genau nach Ihrer Gebrauchsanweisung verfahren, mein Herr. Haben Sie die Güte, mir das Fläschchen einzuwickeln oder einwickeln zu lassen.«

Sie trat an den Ladentisch, zog ihre Börse, bezahlte und wandte sich nach der Türe. Ich hatte inzwischen ihren Befehl erfüllt und überreichte ihr das Dr. Schwindelhabersche Arkanum.

In dem Augenblicke, wo ihre behandschuhten Finger meine Hand streiften, fühlte ich in dieser ein glattes Papierstückchen.

Ich schloß sie rasch und öffnete mit der anderen der Weggehenden die Türe. Sie ging hinaus, meine tiefe Verbeugung unbeachtet lassend, und ich vermied es, ihr nachzusehen. Dagegen eilte ich möglichst schnell ins »Kontorkabinett«, stellte mich dort in den sichersten Winkel und entfaltete das heimlich empfangene Billett.

Auf duftiges Seidenpapier waren mit einer nachlässig kühnen, doch ungleichen und wie in Sprüngen sich bewegenden Hand die Worte geworfen:

»Schickte es sich für mein ›zartes‹ Geschlecht, so würde ich mit jenem französischen Satiriker zu Ihnen sagen: Que diable! qu'allez-vous faire dans cette galère? So aber frage ich manierlich: Wie kann es denn ein Mensch Ihres Schlages – nämlich des Schlages, wie er in Zeiten war, wo es deutsche Studenten gab, die das Loswerden von perfiden Steinen auf steilen Steigen zu allerlei Unfug zu mißbrauchen verstanden – ja, wie können Sie es denn in dieser Ziegenmilchschen Sudelküche des Unsinns aushalten? Pfui! ... Oder schmeckte Ihnen doch die Ziegenmilch – Sie verstehen mich, mein Herr Exführer von weiland – ja, schmeckte Ihnen doch vielleicht die Ziegenmilch besser, als ich zu Ihrer Ehre annehmen will? ... Also Sie sind Kaufmann geworden? Seltsam, doch qu'importe? Nur dauern Sie mich, daß Sie in der abscheulichen Bude vergraben sein sollen. Ich will Ihnen daher im Vertrauen sagen, daß ich zufällig, aber bestimmt weiß, im Kontor der großen hiesigen Firma Gottlieb Kippling sei eine gute Stelle offen, die Stelle eines Korrespondenten, welcher, wenn er Talent und Lust dazu hat, auch mit wichtigen Missionen nach europäischen und außereuropäischen Handelsplätzen betraut wird. Da kann einer ein ganz anderer Antonio oder, wenn Sie wollen, ein anderer Shylock werden als bei Ziegenmilch und Komp. Wollen Sie es probieren? In diesem Falle rate ich Ihnen nur noch, Herrn Gottlieb Kippling gegenüber so gescheit als möglich zu sein, denn er ist es auch.

Julie


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