Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Fünftes Buch.

Die Söhne Mammons.

Erstes Kapitel.

Von Deutschen, Franzosen, Engländern und Südländerinnen. – Herr Kippling der Ältere stellt an den Autor eine zarte Frage und teilt ihm, »wunderlich zerstreut«, eine überraschende Neuigkeit mit.

Man hat häufig darüber geklagt, und nicht mit Unrecht, daß der Deutsche vermöge seines weltbürgerlichen Unbequemungstalentes nur allzugeneigt sei, in und ob der Fremde die Vorzüge seines Heimatlandes zu vergessen. Es möchte jedoch schwer zu bestreiten sein, daß auch unser Nationalgefühl während der letzten Jahrzehnte hinlänglich erstarkt sei, um das zerfahrene und verblasene »Ubi bene, ibi patria« entschieden nicht mehr als eine charakteristisch-deutsche Maxime anzuerkennen. Der Kosmopolitismus hatte seine Berechtigung und seine Mission, gewiß. Er ja hat uns aus dem Sumpfe mittelalterlicher Spießbürgerei herausgerissen und auf die lichten Höhen einer Weltanschauung geführt, die man den Gebildeten der Nation erst dann wird verleiden können, wenn das leuchtende Dreigestirn Lessing-Goethe-Schiller vom Himmel der Kultur gefallen sein wird. Allein bittere Erfahrungen haben uns gelehrt, daß die anderen Völker wohl zur Zehrung von unseren verschwenderisch ausgeteilten Geistesschätzen, nicht aber zu Gegenleistungen bereit sind. Mit anderen Worten, wir mußten erkennen, daß die anderen keineswegs kosmopolitisch gesinnt seien und der nationale Egoismus der Fremden hat auch uns endlich fühlbar gemacht, daß wir für uns selbst zu sorgen haben.

Ja, es ist bedeutend klarer geworden in den deutschen Köpfen. Man vergleiche nur die Sprache, welche zur Zeit der Halleschen Jahrbücher von den Wortführern der vorgeschrittensten Partei geführt wurde, mit der, welche denkende Patrioten – es gibt nämlich bekanntlich auch nichtdenkende und zwar eine schwere Menge – heute führen. Damals wollte ein zwar ehrlicher und wohlmeinender, aber oft geradezu hirntoller Titanismus Weltpolitik, lauter Weltpolitik machen; heute begnügt man sich, eine deutsche Politik zu wollen, und ist herzlich froh, wenn man im nationalen Fache sein gutes Auskommen findet. Schon damit ist viel gewonnen. Wir haben doch angefangen uns zu fühlen, und haben mit der Einsicht, daß wir von unseren sämtlichen Nachbarn, jenseits des Rheins wie jenseits der Weichsel, jenseits der Alpen wie jenseits des Kanals, keinerlei Förderung, wohl aber jederlei Hinderung, offene oder versteckte Befehdung zu erfahren haben, zugleich auch den Entschluß gewonnen, durch eigene Kraft etwas zu werden. Das ist freilich nur der Anfang des Anfangs, aber doch ist es besser, einmal angefangen zu haben, als zu warten, bis der zum Weltgerichte blasende Engel in Deutschland herumläuft und uns zuruft:

»Ihr Deutschen, wollt ihr nicht aufstahn?
Die Ewigkeit geht eben an!«

Was mich betrifft, ich könnte nicht sagen, daß mir durch die Fremde das Vaterland verleidet worden wäre. Ich nahm, was ich von fremden Völkern sah, wie es eben war, ohne günstiges oder abgünstiges Vorurteil. Selbst die mir anerzogene Abneigung gegen die Franzosen, welche ich, wie die Engländer, auf einer später zu erwähnenden Reise kennen lernte, war in meinen reiferen Jahren nicht mehr nachhaltig genug, um mich dieses Volk mit den Augen eines Patrioten aus der Turnschule Jahns nur als »schnöde Franzen« ansehen zu lassen. Dessenungeachtet habe ich kein Hehl, daß persönliche Berührungen mir keineswegs Liebe einflößten, weder für die Franzosen noch für die Engländer. Ich halte sie für die gefährlichsten, weil mächtigsten Feinde Deutschlands, und persönlich ist mir die bornierte Eitelkeit jener, der bornierte Hochmut dieser im höchsten Grade zuwider.

In der Tat, als Satan, der »Affe Gottes«, die Eitelkeit schaffen wollte, ist ihm ein Franzos dazwischen gelaufen, und da hatte er nicht mehr nötig jene zu schaffen. Eitelkeit, komödiantische Eitelkeit ist das Grundmotiv der französischen Geschichte. In der offiziellen Sprache heißt dieses Motiv »Glorie«, ein kokett ausgestopftes und beflittertes Ding, nach der gerade herrschenden Tagesmode so oder so angezogen. Aus Eitelkeit ermorden die Franzosen ihre Könige, aus Eitelkeit machen sie ihre revolutionären Purzelbäume, und wenn diese mißlingen, so bleiben die Gaukler im Kote liegen und beten den ersten besten Götzen an, welcher geschwind genug bei der Hand ist, ihnen den Fuß auf den Nacken zu setzen. Dann wird ihnen zuletzt wieder die Geschichte zu langweilig, und sie heben das alte Spiel von neuem an. Es hat in Frankreich nie eine Partei gegeben, weder Legitimisten noch Konstitutionelle noch Republikaner, welche gewußt hätte, was Gerechtigkeit und Humanität ist. Deutschland mag sich vor dieser französischen Nationaleitelkeit in acht nehmen, welche sich ohne Zweifel mit jedem, auch dem verworfensten Despoten verbünden würde, wenn dadurch der Zweck erreicht werden könnte, ein Opfer, wie etwa das linke Rheinufer, auf den Altar der Gloria Bulgivaga Parisiorum niederzulegen.Dies ist, wohlverstanden! im Jahre 1857 geschrieben und zuerst 1858 gedruckt worden. Seither haben die Ereignisse meine damaligen Äußerungen nur allzusehr gerechtfertigt, und hat das Jahr 1870 insbesondere bewiesen, was für ein elender Schwindel die sozialistischen Bruderschaftsphrasen der Franzosen waren. Und dennoch ließ sich – unglaublich aber wahr! – selbst noch nach Ausbruch eines Krieges, wobei es sich um Deutschlands Sein oder Nichtsein handelte, eine erkleckliche Anzahl von deutschen Gimpeln durch diesen abgestandenen Bruderschaftsphrasenleim abermals leimen, so sehr, daß sie zuungunsten ihres Vaterlandes und zugunsten des dasselbe »bis aufs Messer« bekriegenden Frankreichs ihre alten Gimpel- und Simpellieder herleierten. In den verräterischen Refrain: »Tut den lieben Franzosen doch ja nichts zuleide!« stimmten aber bekanntlich auch noch andere Vögel emsig mit ein: vaterlandslose Juden – ich meine unbeschnittene wie beschnittene – ferner Bursche, welche im preußischen Militär oder Zivil vergeblich an- und unterzukommen versucht oder in der kaiserlichen Schwindelbude in Paris, welcher »unsere Leut'« Fould, Pereire und Komp. vorstanden, ein bißchen mitgeschwindelt oder beim Plon-Plon und anderen Bonaparteschen Prinzenschaften und Prinzeßlichkeiten antichambriert hatten.
Note zur 2. Auflage v. J. 1871.

Wie bei den Franzosen die Eitelkeit, so entspringt bei den Engländern der Hochmut aus ihrer Ignoranz. Wie nach dem Glauben der Hindus ihre heilige Stadt Benares, so liegt nach dem Glauben John Bulls sein Land um 80 000 oder gar um 300 000 Stufen dem Himmel näher als die übrigen Teile des Erdbodens. Man würde aber irren, wollte man annehmen, solcher Glaube sei eben weiter nichts als die fixe Idee einer insularischen Bevölkerung. Es ist in diesem Wahnsinn Methode, kaufmännischer Kalkül. Da die Engländer die ganze Erde beschwindeln und ausbeuten, zugleich aber auch eine sehr fromme Nation sein wollen, so sind sie auf das sinnreiche Auskunftsmittel verfallen, alle übrigen Völker als untergeordnete Rassen, als Gojim im althebräischen Sinne anzusehen, die von Gottes und Rechts wegen der Beschwindelung und Ausbeutung durch das auserwählte Volk Englands preisgegeben seien. Ein grüngelber Faden von Heuchelei geht durch das ganze englische Wesen, von der kolossalen Heuchelei der englischen Verfassung an, unter deren Schutz etliche zwanzig Millionen Menschen daheim, etliche hundert Millionen in den Kolonien von etlichen tausend Familien ausgebeutet werden, bis herab zu der jämmerlichen Heuchelei, welche vorgibt, die beiden größten Dichter Englands, Shakespeare und Byron, seien mit der versauerten Prüderie einer einfältigen Pensionatsvorsteherin anzusehen. Wahrlich, wir Deutsche haben unsere großen Geister auch nicht auf Rosen gebettet, aber doch wäre bei uns im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr möglich gewesen, was in England in dieser Richtung geschah. Nie hat das stolze Albion einen freieren Geist, ein edleres Gemüt, ein liebevolleres Herz besessen, als der arme Shelley war. Und diesen Mann hat die grausame Gleisnerei seiner Landsleute aufs Brutalste angefeindet, im wörtlichen Sinne mit Faustschlägen mißhandelt, verdammt, geächtet, in den Tod gehetzt ... Ich bin überzeugt, das unerbittlichste Mißtrauen gegen die vor keiner Tücke zurückschreckende englische Selbstsucht wird mehr und mehr zum Katechismus eines Deutschen gehören müssen, welcher sein Vaterland liebt und nicht mehr jung genug ist, den Köder liberaler englischer Zeitungsphrasen zu verschlucken.

Italien und Spanien sind in ihrer dermaligen Verfassung nur Ruinen einer großen Vergangenheit, aber überall atmet auf diesen Ruinen der volle Hauch der Schönheit und Poesie. Beide Länder stehen in moderner Kultur gegen Deutschland unermeßlich weit zurück, aber wie ihr Unglück, so hat auch ihr schmerzliches Ringen nach Erneuung und Entwickelung etwas, was uns Deutsche sympathisch berührt. Auch wir sind ja ewig Ringende und Strebende, keine in ihrem Hochmut eingemummten englischen, keine in ihre Eitelkeit eingemauerten französischen Satisfaits. Und etwas könnten wir von den Südländern lernen, die Anmut der Lebensführung, den Adel und die Würde der Persönlichkeit, auch in der äußeren Erscheinung. Weiß der Himmel, ich bin mit dem alten Walter von der Vogelweide völlig einverstanden, daß in deutschen Landen die besten Frauen daheim seien; aber als standhafter Bekenner der Religion der Schönheit muß ich doch sagen, daß die südländischen Schönen manches besitzen, um was die nordländischen durchschnittlich sie beneiden sollten. Die Französin weiß die Grazie zu affektieren, die Italienerin und Spanierin hat sie. Stundenlang hab' ich in Rom Zügen von Wallfahrerinnen zugeschaut, die aus der Campagna hereinkamen. Die nächste beste junge Bäuerin aus den Albanerbergen entfaltet in Gang, Haltung, Blick und Gebärde eine harmonische Schönheit, wie bei uns keine wirkliche oder Theaterkönigin.

Weiter behellige ich den geneigten Leser mit aus meinen Reiseerinnerungen resultierenden Einfällen nicht, sondern führe ihn lieber ins Arbeitskabinett des Obersts und Kanonsrat Gottlieb Kippling, wohin ich am Tage meiner Rückkehr von jenseits der Alpen zur Erstattung eines Generalberichts berufen worden war.

Nachdem ich mich meines Geschäftes entledigt hatte, sagte der Herr Oberst:

»Ich war schon zum voraus durch Ihre Briefe instand gesetzt, Ihnen meine völlige Zufriedenheit mit den Ergebnissen Ihrer Reise zu bezeugen, Herr Hellmuth. Namentlich hat Ihr umsichtiges und energisches Benehmen hinsichtlich des Falliments der Firma Torti in Barcelona unser Haus vor einem sehr bedeutenden Schlag bewahrt. Die Summe, welche ich vorhin in unseren Büchern Ihnen gutzuschreiben Herrn Bürger angewiesen habe, soll Sie überzeugen, daß Sie nicht umsonst für uns gearbeitet haben. Ich hoffe, auch in Frankreich und England, wohin Sie wohl schon nach einigen Wochen gehen sollten, um eine wichtige Kombination durch Ihre Anwesenheit zu fördern, wird Ihren Eifer das Glück begleiten ... Jetzt aber von etwas anderem. Wie stehen Sie mit meiner Tochter Julie, Herr Hellmuth?«

Natürlich überraschte mich diese Frage nicht übel. Ich wußte in der Tat nicht, was ich darauf antworten sollte, um so weniger, als ich Fräulein Kippling seit meiner Rückkehr noch nicht einmal gesehen, geschweige denn gesprochen hatte.

»Nun?« fragte Herr Kippling etwas ungeduldig, mich unter dem Rande seiner Brille hervor scharf fixierend.

»Sie sehen mich so verblüfft, Herr Oberst,« versetzte ich, »daß ich mich vergebens bemühe, den Sinn Ihrer Frage zu finden.«

»Wirklich? So will ich mich denn deutlicher ausdrücken, erwarte aber, daß Sie Offenheit mit Offenheit erwidern. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich meine Tochter liebe, vielleicht zu sehr, weil ich ihre Launen gewähren ließ, ohne beizeiten dagegen einzuschreiten. Jetzt, fürchte ich, ist es zu spät dazu, denn Julies hübscher Kopf ist zugleich ein Eisenkopf, das heißt, wenn es ihr gerade einfällt, einen solchen aufzusetzen. Nun, das ist schon so, wie es ist, und ein praktischer Mann weiß, daß man mit Bedauern und Wünschen nichts gegen Tatsachen ausrichtet. Genug davon ... Es muß zwischen Julie und Ihnen, unmittelbar vor meiner Tochter Abreise nach Baden-Baden, etwas vorgegangen sein, was einen bedeutenden, ich möchte sagen einen gewaltsamen Eindruck auf sie machte. Was war es?«

»Wenn Sie diese Frage in Fräulein Kipplings Gegenwart an mich richten wollen, werde ich sie vielleicht beantworten können, aber auch nur vielleicht.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ein Mann von Ehre nie ein angelobtes Schweigen bricht.«

»Und wenn ich Ihnen, als meinem Kommis, befehle, zu reden?«

»In diesem Falle werde ich auf die Ehre, Ihr Kommis zu sein, lieber verzichten als ein Tropf zu werden.«

»Überspanntheiten! Unpraktisches Zeug! Wenn ich Sie nun beim Wort nähme?«

»Versuchen Sie es!«

Der Herr Oberst schob seine Brille über die Stirn hinauf, als wollte er sich die Rarität von Menschen, welcher ihm, dem Kommandanten von Millionen, so zu kommen wagte, mit ganzem Gesichte betrachten. Ein unbeschreiblich höhnischer Ausdruck lag in seinen Augen, welche in diesem Moment ganz auffallend an die Hohnblicke seiner Tochter gemahnten. Aber Kommandanten von Millionen sind in der Regel keine Brauseköpfe, sondern Leute von Selbstbeherrschung. Die Brillengläser senkten sich langsam wieder in ihre frühere Stellung, und mit einem natürlichen oder erkünstelten Lachen sagte mein Herr Chef:

»Kommen Sie, wir wollen vernünftig sprechen und alle unpraktische Erhitzung vermeiden. Sagen Sie mir, war es Julie, welche Sie Schweigen geloben ließ?« »Ich habe Schweigen gelobt. Das muß Ihnen genügen.«

»Es genügt, denn ich verstehe Sie, und so hatte ich denn nur zu sehr Grund, zu fürchten, meine Tochter habe sich kompromittiert.«

»Kompromittiert?«

»Nun ja, ich denke, Gottlieb Kipplings einzige Tochter kompromittiert sich, wenn sie sich zur Liebelei mit einem Kommis ihres Vaters herabläßt.«

Der Stolz hatte sich nie wilder in mir aufgebäumt, als er bei dieser Äußerung des Millionärs tat. Das Blut schoß mir ins Gesicht, und mein Blick mußte kein sanfter sein, denn der Herr Oberst machte unwillkürlich eine begütigende Gebärde.

»Mein Herr,« sagte ich mit so viel Ruhe, als ich aufbringen konnte, »wenn vorausgesetzt werden könnte, die einzige Tochter von Gottlieb Kippling hätte sich so weit kompromittiert, daß sie sich zu einem Kommis ihres Vaters herabließ, so entstünde noch die Frage, ob sich der Kommis seinerseits so weit kompromittiert hätte, von der fraglichen Herablassung Gebrauch zu machen.«

»Sie sind stolz, Herr, und Sie führen eine Sprache, wie sie Gottlieb Kippling nicht zu hören gewohnt ist. Aber es mag sein. Praktische Leute legen auf Formen nicht mehr Gewicht, als unumgänglich nötig ist. Das Wesentliche der Sache ist: Sie lieben Julie nicht?«

»Nein.«

»Gut. So, wie ich meine Tochter kenne, glaubte ich ihrem Benehmen gegen Sie abmerken zu können, daß zwischen ihr und Ihnen das phantastische Ding im Spiele sei, was junge Leute Liebe nennen. Wenn ich mich getäuscht habe, desto besser.«

»Herr Oberst, ich will nicht verbergen, daß es Stunden und Tage gab, wo ich glaubte, es müßte ein unermeßliches Glück sein, wenn Fräulein Kippling das von Ihnen so verächtlich bezeichnete Gefühl für mich hegte. Aber einerseits dämpfte das Bewußtsein meiner Stellung meine Wünsche, andererseits –«

»Andererseits?«

»Andererseits – da wir nun doch einmal in dieses zarte Thema eingetreten sind – andererseits mußte ich fürchten, daß, wenn es überhaupt möglich wäre, daß Fräulein Kippling das bezeichnete Gefühl für mich hegte, dasselbe noch viel zu flüchtiger Natur wäre, um darauf eine Zukunft zu bauen.«

»Sie schmeicheln meiner Tochter nicht eben sehr. Wenn Sie sich aber geirrt hätten?«

»Ich kann es nicht glauben. Fräulein Kippling ist eine zu geniale Natur –«

»Ja, das ist eben der Jammer! Was haben mich Julies Genialitäten nicht schon gekostet! Wieviel Ärger, wieviel Verdruß haben mir diese Genialitäten schon bereitet! Und doch kann man dem Kinde trotz alledem nicht böse sein. Jeder Mensch hat so seine Schwäche. Die Schwäche von Gottlieb Kippling heißt Julie ... Sehen Sie, Herr Hellmuth, ich danke Ihnen für Ihre in dieser Sache bewiesene Ehrenhaftigkeit – denn ich müßte nicht die Augen eines Vaters im Kopfe haben, wenn ich nicht wüßte, daß Julie Ihnen mitunter in einer Art und Weise entgegenkam, welche anderen jungen Männern Ihres Alters völlig den Kopf verdreht hätte – ja, ich danke Ihnen für Ihre Ehrenhaftigkeit dadurch, daß ich ganz offen sein will. Ich hatte in Beziehung auf meine Tochter gewisse Absichten, ganz verständige Absichten, die aber nun, fürchte ich, so oder so durchkreuzt werden sollen. Nun, es ist mir so vieles gelungen im Leben, daß ich mich resignieren muß, wenn mir einmal etwas, freilich etwas Wichtiges, mißlingt.«

Der Herr Oberst schwieg nachdenklich, er war zuletzt fast weich geworden.

Wunderliche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Wäre ich nur gewiß, daß mich Julie wirklich liebte, dachte ich, in dieser Stunde könnte ich vielleicht einen glücklichen Sturm auf das Herz ihres Vaters machen. Und hatte sie denn nicht unter brennenden Küssen mir zugeflüstert, daß sie mein Weib werden wollte? Dieser Gedanke übergoß mein Herz mit Glut. Aber der schroffe Wechsel der Empfindungen, welcher meinem Verhältnis zu Julie seit seinem Entstehen eigen gewesen, blieb auch jetzt nicht aus und verschloß mir den Mund ... In späterer Zeit, als ich endlich über alle diese peinliche Unklarheit hinaus war, fand ich, daß nichts meinen Zustand, während ich in Julies Zauberkreis gefangen war, besser bezeichnete als jene Stelle am Eingang des zweiten Teils von Goethes ewigem Gedicht, wo der vom Schlafe erwachte Faust in die aufgehende Sonne schaut, um geblendet und »schmerzdurchdrungen« zurückzufahren und in die Worte auszubrechen:

So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ew'gen Gründen
Ein Flammenübermaß – wir stehn betroffen.
Des Lebens Fackeln wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist's Lieb'? Ist's Haß? Nie glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer?«

Herr Kippling unterbrach sein und mein Sinnen plötzlich wieder mit der Frage:

»Kennen Sie vielleicht die Kinder des verstorbenen Freiherrn Bodo von Rothenfluh?«

»Bertold und Isolde von Rothenfluh?« versetzte ich, über diese Frage nicht weniger verwundert, als ich es über die frühere meines Chefs gewesen war.

»Ja, den Freiherrn und das Freifräulein dieses Namens,« sagte er.

»Freilich. Ich bin ja mit ihnen aufgewachsen, wie man zu sagen pflegt.«

»Ach ja, ich vergaß, das heißt, ich erinnere mich, daß – hm, ich bin heute wunderlich zerstreut ... Natürlich kennen Sie die Geschwister Rothenfluh ... Meine Kinder haben in Baden-Baden die Bekanntschaft des Freiherrn gemacht, an der Spielbank, glaub' ich. Der junge Herr ist, wenn ich recht gehört habe, kürzlich zum Rittmeister in seinem Regiment avanciert, nachdem er sich auf einem Feldzug gegen die Kabylen oder andere Wilde in Algier, den er als Volontär unter den französischen Fahnen mitgemacht, durch tollkühne Bravour ausgezeichnet hatte. Im übrigen sei er ruiniert und sein Gut so völlig verschuldet, daß er sich kaum noch ein oder zwei Jahre werde halten können, wenn es gut gehe. Meine Kinder haben ihn nachher in der Residenz, wo sein Regiment garnisoniert, besucht und auf seine Einladung hin auch einen Ausflug mit ihm nach Rothenfluh gemacht, in dessen Nähe auf einer Art Bauernhof – sein Name ist mir entfallen – sie auch Fräulein von Rothenfluh kennen lernten. Julie ist entzückt von dieser schönen Einsiedlerin und – nun, es könnte sich aus diesen Bekanntschaften manches entwickeln. Theodor sagt, das Schloß Rothenfluh sei zur Anlage von industriellen Etablissements wundervoll gelegen. Herrliche Wasserkraft, Arbeitslöhne sehr billig, Holz überreichlich vorhanden. Außerdem, meinem Sohne wäre es in mehrfacher Beziehung gesund, wenn er eine Frau hätte, die er respektieren müßte ... Nun, wir werden ja sehen. Der Freiherr wird demnächst zum Gegenbesuch hierher kommen und vielleicht seine Schwester mitbringen. Wir wollen gelegentlich mehr von der Sache sprechen, denn ich glaube, daß Sie mir über dieses und jenes Auskunft und Nachweis geben können. Inzwischen ruhen Sie sich aus, treffen Sie beizeiten Ihre Vorbereitungen, zu jeder Stunde, wenn es nötig werden sollte, wieder abreisen zu können. Ja, und ... apropos, ich muß Sie bitten, morgen früh Punkt zehn Uhr hierher zu kommen. Bedarf Ihrer Dienste in einer Geschäftsangelegenheit, die recht gedeihlich zu werden verspricht ... Daß im übrigen meine Tochter von unserer Privatunterhaltung nichts erfahre, brauche ich einem Manne, der so schweigen kann wie Sie, nicht erst anzuempfehlen. Adieu für heute.«

Ich ging ganz betäubt hinweg. Die Geschwister Kippling hatten die Geschwister Rothenfluh kennen gelernt und daraus »könnte sich manches entwickeln«? War der Herr Oberst wirklich nur in der Zerstreuung so gesprächig gewesen oder, wenn nicht, was hatte er mit seinen vertraulichen Mitteilungen beabsichtigt?


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