Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel.

Ein Privilegium der Jugend. – Zwei Fahnenträger einer bewegten Zeit. – Die Hegelsche Philosophie und ein apostolisches Wort. – Titanismus, – Gibt es Ahnungen? – Ein erloschener Stern und ein Gebet. – Die gesprengte Kette. – »Segen über euch!« – Eine Tote in Blumen.

Es war eine geistig hochbewegte Zeit, in welche meine Studienlaufbahn fiel, und ich besaß Empfänglichkeit genug, um an dieser Bewegung lebhaften Anteil zu nehmen. Das Feuer meiner Seele lodert heute nicht mehr so hoch und heiß wie damals, aber noch immer glüht – dank den Göttern! – in mir jenes something unearthly, wie Byron es nannte, jener der Zentralsonne, der Weltseele entsplitterte Funke, der in jedem Menschen, welcher nicht ein bloßer Erdenkloß, glimmt und glostet. Darum, wie manche meiner jugendlichen Illusionen tot und ab sind, vermag ich doch noch nicht mit skeptischem Lächeln auf jene Tage zurückzublicken, wo auch ich, in bescheidenster Weise freilich, mitwob an dem bunten Gewebe von politischen, sozialen und literarischen Theorien, welche die Praxis des Lebens mit so rauher Hand zerriß. Nein, noch jetzt kann ich mich nicht bemitleiden ob dem jugendlich gläubigen Enthusiasmus, womit ich mich umtrieb in Regionen –

Wo auf Weltverbesserung
Wünsche kühn sich lenken ...

Die Jugend besitzt das kostbare Vorrecht, sich einbilden zu dürfen, es sei ebenso leicht als notwendig, die Welt aus ihren Fugen zu reißen; denn sie hat noch nicht mit Hamlet daran verzweifeln gelernt, dieselbe wieder einzurenken. Und dann – wäre die Jugend nicht allzeit revolutionär gesinnt gewesen, wahrlich, die Weltgeschichte wäre längst zum toten Sumpfe geworden.

Die brütende Schwüle der Restaurationszeit hatte sich in dem Gewitter der Julirevolution entladen. Durch ganz Europa ging ein frisches Aufatmen. Eine neue literarische Epoche kündigte sich an: die moderne, welche die Erbschaft der klassischen, der Goethe-Schillerschen, wie der romantischen übernahm, um sie weiteren Entwickelungen zugrunde zu legen. Zwar sind, wie bekannt, bislang keineswegs alle die »Blütenträume« gereift, welche in der Literatur der dreißiger Jahre auftauchten, nicht einmal die spezifisch literarischen. Aber das steht fest, daß in Literatur und Leben damals überall die Anfänge neuer Gestaltungen gemacht wurden.

Deutschland, welches ja überhaupt die mit so vielen Schmerzen, Demütigungen und Opfern erkaufte Ehre genoß, für die anderen Nationen zu denken, Deutschland war wiederum der Hauptschauplatz dieser geistigen Umwälzung. Die oppositionellen Anläufe der Restaurationsperiode, das Mißbehagen an der Nichterfüllung der patriotischen Hoffnungen, welche noch von den Befreiungskriegen her in den Gemütern lebten, der Schmerz über des Vaterlandes Zersplitterung und politische Nullität, der Sturz der Bourbons, die Erhebung Belgiens, die Insurrektion Polens, die Revolutionsversuche in Italien und Spanien, die demokratische Reformbewegung in den schweizerischen Kantonen, ferner der Byronsche Skeptizismus und Weltschmerz, die sibyllinischen Orakel der Rahel und Bettina, die Hegelsche Philosophie als unerbittlicher Kritizismus alle wissenschaftlichen Disziplinen durchdringend und durch Strauß auf die Urkunden des Christentums angewandt – das waren so die Faktoren der Bewegung im deutschen Geistesleben von damals. Nach der politischen Seite hin stand Börne, nach der poetischen hin stand Heine an der Spitze derselben ... Börnes Briefe aus Paris! Es ist schon nur noch wie die Erinnerung an einen Traum, wenn man heute an diese in Druckpapier gewickelten, in allen Farben eines verzweifelnden Humors spielenden Flammen zurückdenkt. Und doch war ihre Wirkung auf die deutsche Jugend eine unermeßliche. Ein junger Poet jener Tage hat aus diesen Episteln eine »Neue Bibel« zusammengereimt, und sie waren in der Tat die Bibel des deutschen Radikalismus. Wenigstens eine Zeitlang. Denn bald machten sich deutsche Bedenken gegen das Französische in jenen Ergüssen einer zornvollen Freiheitsliebe geltend. Auch in mir, der ich in der Antipathie gegen das Franzosentum erzogen worden war und der ich es auch jetzt in reiferen Jahren und nach eigener Anschauung nur als einen wunderlichen Mischmasch von Äffischem und Tigerlichem ansehen kann. Gott helfe mir, ich wünsche gewiß so lebhaft als irgend einer, daß der schöne Traum von der Völkersolidarität zur Wirklichkeit werde, daß ein Tag komme, wo alle Nationen frei, glücklich und durch die Bande brüderlicher Liebe miteinander verbunden sein werden; aber ich müßte den teuren Glauben an die Zukunft meines Volkes aufgeben, wenn ich wünschen wollte, daß die Zukunft nach französischer Schablone zugeschnitten werden sollte. Das wollte doch im Grunde Börne, und sein Irrtum rührte daher, daß er sich mit der närrischen Illusion trug, der Phrasenmantel, womit die Franzosen bei Gelegenheit ihre krasse Selbstsucht, ihren komödienhaft eitlen Dünkel verhüllen, berge wirklich eine kosmopolitische Realität. Börne war ein großes und edles Herz, keine Frage. Aber er vergaß, daß man ein Volk nicht zur Freiheit und Selbstachtung erzieht, indem man es vor sich selbst und vor dem Ausland erniedrigt ... Heine kann als Politiker nicht in Betracht kommen, überhaupt nicht als ernsthafte Person. Wenn aber die Zaubermelodien seiner Liederbücher, wenn das witzfunkelnde Antithesensspiel seiner Prosa selbst eine bis auf die letzten Hefen eingetrocknete Seele, wie die des Friedrich von Gentz, in lautes Entzücken versetzten, so braucht nicht erst gesagt zu werden, daß eine strebsame Jugend der Wirkung eines solchen Geistes sich nicht entziehen konnte. Ich weiß noch ganz gut, daß ich einige Tage lang in einer Art von seliger Trunkenheit umherging, als ich zuerst mit dem »Buch der Lieder« bekannt geworden war. Ich gab mich, wie tausend andere, dem gewaltigen Zauber hin, ohne auch nur im entferntesten daran zu denken, daß diese Lyrik bloß das Produkt einer der Fäulnis sich zuneigenden Hyperzivilisation sein könne ... Heines satirische Kraft ist eminent. Seit Rabelais ist so etwas nicht wieder dagewesen. Man hat Heine den modernen Aristophanes genannt, während er sich selbst irgendwo – also doch einmal in seinem Leben bescheiden – mit Kunz von der Rosen, dem Hofnarren Karls V., verglich. Er war aber mehr, er war der Hofnarr seines ganzen Jahrhunderts, dem er noch auf dem Sterbebette die lachendsten Witze vorgerissen hat.

Die burschikose Ungeniertheit, womit Heine und mehrere seiner Mitstrebenden die Hegelsche Philosophie propagierten, hat zu dem Ansehen derselben in weiteren Kreisen nicht wenig beigetragen. Die aschgraue Dialektik des königlich preußischen Staatsphilosophen nahm sich im Brillantfeuer Heineschen Witzes viel einladender aus, in der Tat sehr einladend und appetitlich. Unter den Fanfaren eines übermütigen Humors wurde das Hegelsche Evangelium vom Mensch-Gott verkündigt, und auch ich erfuhr mit großer Genugtuung, daß die göttliche Idee in meinem Ich zum selbstbewußten vernünftigen Geist geworden sei. Nur schade, daß der inkarnierte Gott seine Göttlichkeit mitunter in so ungöttlichen Dingen manifestieren mußte, wie zum Beispiel im »Pumpen«. Aber ich ließ mich das wenig anfechten und setzte mich, für eine Weile wenigstens, mit einem: »Gott ist alles, was da ist« – über die empfindlichsten Stöße hinweg, welche die Wirklichkeit meiner Hegelschen Theorie beibrachte. Freund Fabian wollte von dieser nichts wissen, und machte mich auf die gewundenen Mentalreservationen und perfiden Verklausulierungen in Hegels System aufmerksam. »Wenn du,« sagte er, »im Pantheismus Befriedigung suchst, so halte dich wenigstens an unsere alten Mystiker. Im Tauler und Böhm ist hundertmal mehr Seele und Poesie als im Hegel.«

Fabian kannte mich. Er wußte, welchen beschwichtigenden Einfluß Dichterworte auf mich übten, und schrieb mir daher eines Tages, nach einem langen Gespräch über das Zweifelhafte und das Tröstliche der pantheistischen Weltanschauung, die schöne Strophe von Anastasius Grün ins Stammbuch:

Ich aber weiß, des Daseins Ring, der helle,
Er ist in einem ungeheuren Bogen
Durch Stern und Baum, durch Rosen, Sonnenbälle,
Durch Menschenherz und Engelsbrust gezogen –

und fügte dann mündlich hinzu, er für seine Person finde volle Beruhigung in jener Paraphrase eines Wortes des Apostels Paulus: »Alles ist aus Gott, durch ihn und zu ihm geschaffen: in ihm leben, weben und sind wir; wie er es im Beginne gewesen, wird er auch am Ende wieder alles in allem sein und alles aufnehmen in den stillen Kreislauf seiner ewigen Harmonie.«

Das war nun schon recht: ein stilles, resigniertes Gemüt, wie Fabian eins war, konnte sich damit wohl zufrieden geben. Aber ein leidenschaftlich Herz wie das meinige schlug lange nicht kühl genug, um sich durch solche Theosophie länger als auf Momente schweigen und schwichtigen zu lassen.

Jeder Mensch, dessen Gedanken überhaupt über die Katechismussphäre hinausgehen, erlebt eine Periode des Zweifels, eine Revolution in seinem Innern, die ihn, je nach dem Stärkegrad seiner Gefühle, mehr oder weniger unglücklich macht. Seichte Köpfe fahren dabei am besten. Sie brechen einfach mit der Autorität und ergeben sich einer gedankenlosen Gleichgültigkeit, die jeder Beschäftigung mit höheren Problemen achtsam aus dem Wege geht und jede Frage nach des Menschenlebens Sinn und Frommen als Schnickschnack ansieht, welchen man den »stubengelehrten Zungendreschern« überlassen müsse. Ja, sie sind glücklich, diese Gleichgültigen, denn –

Sie stört nicht im Innern
Vergeblicher Streit ...

Und nicht nur das. Sie sind oft auch recht wackere Menschen, so recht das, was man praktische Naturen nennt. Sie sind – oder können es wenigstens sein – gute Familienväter, zahlungsfähige Bürger, die an die Lehre vom beschränkten Untertanenverstand zwar nicht glauben, aber dieselbe doch für ganz »praktisch« halten, daneben nach »sauren Wochen frohe Feste« feiern, auch »des guten Scheines wegen« nicht unfleißig zur Kirche gehen, die kleinen Ziele des Lebens mit Geschicklichkeit verfolgen und die großen einfach in den Bereich des »Mythus« oder des »Humbug« verweisen.

Die anderen aber – und es muß doch wohl auch solche Käuze geben – die anderen, in deren Adern ein Tropfen von jenem Blute rollt, welches die Titanen dereinst zur Empörung gegen die Götter trieb, können sich der ruhelosen Frage: Warum ist der Mensch? Und warum ist er so, wie er ist? nicht entschlagen. Es ist freilich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, das heißt, der Titanismus wird schließlich immer seiner Ohnmacht inne. Allein wenn sich jenes furchtbare Warum? mit schöpferischem Genie verbindet, so entstehen titanische Fragezeichen, die wie prächtige Blitze das Dunkel, in welchem wir tappen, nicht erhellen, aber zeigen. Das Buch Hiob, der äschyleische Prometheus, Wolframs Parzival, Hamlet, Don Quijote, Faust, Childe Harold – das sind solche fragende Blitze, nicht vom Himmel zur Erde, sondern von der Erde gen Himmel geschleudert ...

In einer lauen Sommernacht erfaßte mich mitten im bacchischen Gewühle eines Kommerses eine tiefe Traurigkeit. Gibt es Ahnungen und wirft wirklich, wie jener englische Poet meint, »Zukünftiges seinen Schatten voran«? Stehen Seelen, die sich lieben, in einem Rapport, dessen Geheimnis keine Wissenschaft zu durchdringen vermag? Genug, mich überkam eine düstere Ahnung, welche durch das Getöse studentischer Freude, das mich umgab, nur noch peinigender gemacht wurde. Ich stürzte hinaus, eilte die stillen Gassen hinab, ging über die Brücke und warf mich in die dunkeln Baumgänge auf der Wiese am andern Ufer des Flusses, welcher die Gärten und Häuser der Stadt bespült. Eilenden Fußes durchlief ich die Alleen, als wollte ich der dumpfen Angst entfliehen, die mich verfolgte.

Dieses persönliche Gefühl heftiger Traurigkeit wurde, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu einem menschheitlichen. In jener Stunde empfand mein Herz den Krallendruck des Weltschmerzes. Aus dem Baumschatten hervortretend, starrte ich verzweiflungsvoll hinauf in den Ozean der Welten, in welchem unsere schöne, arme Erde wie ein Tropfen verschwimmt, und unwillkürlich drängten sich mir die Worte des Dichters auf die Lippen:

O, wer löst mir das Rätsel des Lebens?
Das qualvoll uralte Rätsel,
Worüber schon so manche Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter und tausend andere
Arme, schwitzende Menschenhäupter –
Sagt mir, was bedeutet der Mensch?
Woher ist er gekommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?

Sie funkeln ruhig weiter, still und groß, die ewigen Lichter des Firmaments. Sie gaben keine Antwort. Aber der Schmerz der Kreatur schreit doch nie ganz vergeblich zur Natur. Es liegt eine besänftigende, seelenlösende Magie in dem Schweigen der Sommernacht. Der Fluß schickte einen einladend kühlen Hauch zu meiner heißen Wange herauf, ich warf die Kleider von mir und tauchte mich tief in das erquickende Element, während der Mond hinter den fernen Bergen heraufkam und sein mildes Licht über das sacht rauschende Wasser hinstreute.

Erfrischt, beruhigt, von quälenden Gedanken befreit, wandelte ich dann noch lange unter den Weiden am Ufer. Ans der Ferne tönte gedämpft das silberne Lachen einer Mädchenschar, welche in einer versteckten Gartenbucht weiter oben am Flusse badete. Damit mischte sich der Ton einer Flöte, welcher aus dem offenen Fenster eines der Häuser unter dem Schloßberg herankam. Vielleicht hauchte ein Liebender in diesen schmelzenden Tönen seine Sehnsucht aus.

Ich sah nach dem wohlbekannten, bescheidenen Bürgerhause hinüber, dessen kleiner Garten mit der niedrigen Mauerzinne hart an den Fluß stieß. Wie oft schon war ich zu allen Jahres- und Tageszeiten da vorübergegangen, um mit Blicken ehrerbietiger Scheu das Erscheinen des hageren, hochgewachsenen Greises mit dem Silberhaar zu erharren, der dort aus seinem Erkerzimmer in den kleinen Garten herauszutreten pflegte, auf der Stirne die dreifache Majestät des Genius, des Unglücks und des Alters! Auch jetzt stand er dort an der Brustwehr, und das Mondlicht fiel voll auf dieses Antlitz, von welchem die vieljährige Nacht des Wahnsinns den Stempel des Göttlichen noch nicht ganz hatte verwischen können. Er ging hinein und schlug drinnen auf dem Klavier, dem treuen Gefährten seiner Einsamkeit, die melancholische alte Melodie an: »Mich fliehen alle Freuden«, die ich ihn schon so oft hatte variieren hören, kam dann wieder heraus und blickte mit seinen großen geisterhaften Augen lange in das gestirnte Firmament empor. Suchte er dort den Stern seiner Jugend, seines Lebens: »Diotima?« ... Vielleicht war es eine Täuschung des Mondlichtes, aber ich glaubte große Tränen in diesen Dichteraugen blinken zu sehen, die vormals mitten in unserem deutschen Norden den Genius von Hellas in der ganzen Schöne seiner göttlichen Nacktheit erblickt hatten, in diesen Dichteraugen, welche in heiligen Weihenächten in jener Gartenlaube am Leutrabach in Jena den Blicken Schillers begegnet waren. Überkam ihn die Erinnerung an süße Mondnächte seines Lebensmorgens? Peinigte auch ihn das uralte, qualvolle Rätsel des Lebens? Tönte ihm noch einmal, ein Widerhall aus früherer Zeit, »Hyperions Schicksalslied« in der Seele auf? ... Ich selber sprach es leise und andächtig vor mich hin, und die tiefsinnigen Worte wirkten tröstend auf mich wie ein frömmstes Gebet.

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien,
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksalslos wie der schlafende
Säugling atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller,
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn.
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrelang ins Ungewisse hinab.


Am folgenden Tage eilte ich spornstreichs der Heimat zu. Um Mittag hatte ich einen Brief erhalten, worin der Vater eine gefährliche Erkrankung der Mutter meldete. Es sei, schrieb er in abgebrochenen Worten, das Schlimmste zu befürchten. Ich sollte eilends kommen, die Kranke verlangte sehr nach mir. Eine Stunde darauf saß ich auf einem Postklepper, der schaumbedeckt bei der nächsten Station anlangte. Ich ließ mich durch die Nacht nicht aufhalten, aber die mancherlei Verzögerungen auf den Poststationen ließen mich erst am folgenden Morgen auf der letzten, in unserem Heimatstädtchen, anlangen, von wo ich, so rasch als meine Füße mich trugen, in unsere Berge hinaufeilte.

Es war Erntezeit und auf den Feldern, durch welche mein Weg führte, waren Sensen und Sicheln in Tätigkeit. Sobald ich die Markung von Rothenfluh betreten hatte, sprach ich die erste Schnittergruppe um Nachrichten über das Befinden meiner Mutter an. Ich wußte wohl, daß das ganze Dorf daran lebhaftesten Anteil nähme. Die guten Leute erkannten mich nicht sogleich wieder; ich war während meiner Abwesenheit noch bedeutend gewachsen und jetzt ein Bursch von ansehnlicher Länge, mein Gesicht hatte sich gebräunt, und außerdem wurde dasselbe durch einen langen Schnurr- und Knebelbart maskiert. Dann, als ihnen meine hastigen Fragen die Erinnerung schärften, hieß es: »Ach, Herr Jeses, Herr Jeremle, 's ist der Michel, dem Kons'lenten sein Michel ... Ja, die Frau Kons'lentin liegt halt tief im Bett drin ... sie tut übel dran sein ... aber der lieb' Gott wird die gut' Frau g'wiß noch nit zua sie nehma ... Doch, Herr Michel, seht, da kommt numme grad' der Dokter.«

In der Tat, der alte Doktor aus der Stadt, unser mir wohlbekannter Hausarzt, fuhr gerade in seiner alten Kalesche den Weg herab, der vom Dorfe nach der Stadt führte. Ich eilte dem Gefährt entgegen und bat den alten Herrn, einen Augenblick zu halten.

»Ah, Sie sind's, Michel, will sagen, Herr Hellmuth?« sagte er, als er mich erkannt hatte, »Gut, daß Sie kommen. Die Kranke verlangt sehnlichst nach Ihnen ... Es steht leider nicht gut mit ihr, gar nicht gut ... Sie müssen sich wie ein Mann fassen, da Sie ja wie ein solcher aussehen ... Ihre Mutter, die gute Seele, hat sich ihre Krankheit geholt, indem sie Fräulein Isolde, die am Typhus darniederlag, Tag und Nacht pflegte. Wenn nicht heute noch eine günstige Krisis eintritt ... Sie verstehen mich ... Ich muß jetzt zur Stadt, komme aber mittags wieder heraus.«

Die letzten Worte verstand ich nur noch halb, denn ich lief schon wieder eilends die Straße hin. Eine Viertelstunde darauf befand ich mich unter dem Dach des elterlichen Hauses. Ach, wie war es da unheimlich still und wie verweint waren die Gesichter der alten Theres und alten Annem'rei!

Doch ich will nicht zu ausführlich sein in meinen Erinnerungen an jene trübe Zeit. Es gibt Schmerzen, die man nur andeuten darf, wenn man sie nicht entweihen will, und zudem, hier handelt es sich um ein Leid, von welchem jeder glaubt, nur er habe es in seiner ganzen Tiefe empfunden.

Mein Vater kam mir auf der Treppe entgegen. Ich sah es seinen Augen wohl an, wie sehr er sich Gewalt antun mußte, um nicht in Tränen auszubrechen.

In das Krankenzimmer getreten, fand ich dort Hildegard und Isolde an dem Bette sitzend, dessen Vorhänge zugezogen waren. Beide Mädchen konnten bei meinem plötzlichen Erscheinen einen leisen Ausruf nicht unterdrücken.

Der Vater legte den Finger auf die Lippen, aber das Mutterherz hatte den unwillkürlichen Laut schon verstanden.

»Siegfried, Siegfried, du bist da!« klang es schwach und doch wie jubelnd hinter dem Vorhang.

Im nächsten Augenblick kniete ich an dem Bett, und fieberheiß hielten die Mutterarme meinen Kopf umschlungen...

In der folgenden Nacht – ach, der Tag hatte keine heilsame Krisis gebracht – wachten Isolde und ich allein bei der Kranken. Ich hatte den überwachten Vater mit sanfter Gewalt genötigt, wenigstens für eine Stunde sein Schlafzimmer aufzusuchen, und Hildegard, die dazu nicht zu bewegen gewesen, war in einem Lehnstuhl am Fenster vor Übermüdung eingenickt.

Isolde, selbst kaum von einer schweren Krankheit genesen, saß mir blaß und kummervoll gegenüber, und schweigend bewachten wir die schweren, unregelmäßigen Atemzüge der Mutter, die gegen Mitternacht endlich den Schlummer gefunden hatte. Er währte nicht lange, aber als die Kranke jetzt die Augen wieder aufschlug, erschienen sie mir klarer und weniger verstört als vorher.

Sie ließ ihre zärtlichen Blicke von Isolde zu mir und von mir zu Isolde gehen und bat dann diese, das Tischchen mit der Lampe näher ans Bett zu rücken.

»Soldchen, liebes Kind,« sagte sie, »sieh doch den Michel, nein, den Siegfried an. Ist er nicht recht stattlich geworden?«

Isolde senkte die Augen, und ein leises Rot glomm ihre blassen Wangen an.

Die Mutter betrachtete mich lange und liebevoll, und es war, als drängte sie einen schweren Seufzer zurück, der ihre Brust hob, als sie zu mir sagte:

»Siegfried, mein Kind, ich werde bald von dir gehen.«

»O, Mutter, sprich nicht davon! Es kann nicht sein.«

»Doch, doch, sieh, ich fühl' es wohl. Es ist Gottes Wille so .. weine nicht, Kind ... Mütter müssen sterben, aber sie möchten ihre Kinder glücklich zurücklassen.«

Und sie richtete sich, soweit es ihre Schwäche gestattete, in ihren Kissen auf, sah mich wieder lange an und fuhr fort:

»Ich weiß, mein Kind, du tatest es mir zu Liebe, als du dich entschlössest, ein Geistlicher zu werden ... Still, still ... laß mich ausreden ... Ich wollte nur dein Glück, dein zeitliches und ewiges. Aber deine Briefe ... es ist, obgleich du mir es verbergen wolltest... aus Liebe, ich weiß es ... es ist etwas in deinen Briefen, was mir Zweifel au deinem geistlichen Beruf erregte.« »Sprich nicht so, Mutter. Du sollst mich in Chorrock und Meßgewand sehen, ich schwöre ...«

»Nein, halt ein, Kind, du sollst dich nicht ins Unglück hinein schwören ... Sieh mich an ... Dein Herz ist nicht beim Altar ... und ich ... ich entbinde dich von deinem Versprechen.«

Mir war, als spränge eine Kette, die mir schon lange die Brust umschnürt hatte, klirrend entzwei, und unwillkürlich streifte mein Blick zu Isolde hinüber. Die Mutter bemerkte es und sagte, ihre Erschöpfung noch einen Augenblick bewältigend:

»Kinder, gebt mir eure Hände.« Wir taten es.

»Ihr seid mitsammen aufgewachsen,« sagte sie schwach und bemühte sich, Isoldes Hand in die meinige zu legen ... »Ihr seid früher wie Bruder und Schwester gewesen ... und jetzt... o, ihr habt einander lieb ... ich weiß es ... O, Kinder ...«

Sie sank zurück und geisterhaft flüsternd, schon wie aus einer andern Welt, zitterten noch die Worte über ihre Lippen:

»Segen über euch!«

Sie war eingeschlummert.

Unter der mütterlichen Hand ruhte die Hand Isoldes in der meinigen. Sie wagte es nicht, aus Scheu, die Schlummernde zu stören, ihre Hand wegzuziehen, und ich, ich hätte es nicht um eine Welt getan.

Der Morgen kam, und mit ihm trat der Tod in das Haus. Das Bewußtsein der Kranken kehrte nur noch dann und wann für Augenblicke zurück. In einem solchen lichten Moment segnete sie Hildegard und sagte zu meinem Vater: »Liebster Fritz, der Siegfried soll nicht geistlich werden; aber brav und gut soll er werden, so gut und brav wie sein Vater.«

Ein letzter Blick der Liebe fiel bei diesen Worten auf ihren Gatten. Dann zog sich das Leben mehr und mehr aus den Augen der Kranken zurück, und ihre Vorstellungen verwirrten sich. In traumhaften Phantasien, durchwoben vielleicht von Erinnerungen an glückliche Stunden, erging sich der scheidende Geist.

Ganz zuletzt kamen noch in gebrochenen Lauten die Worte von ihren bebenden Lippen: »Du Hast recht, Fritz ... verzeih mir ... ganz recht ... es war ... es war ... eine Linde.«

So starb sie in unsern Armen, das Haupt an die Brust des Vaters gelehnt.

»Michel,« sagte am Abend der Freiherr zu mir, welcher gekommen war, die Pflegemutter seiner Kinder noch einmal zu sehen, »Michel, sieh dir dieses Gesicht an. Wie ruhig und heiter es ist! ... Sie ist jetzt bei meiner seligen Elisabeth ... Wollte, ich wäre auch dort.«

Und der gute Mann trocknete sich die Augen und atmete schwer.

Ich bemerkte, daß er in den letzten Jahren sehr gealtert war. Sein Schnurrbart war schneeweiß, und tiefe Falten lagen auf seiner Stirn.

Wir beide befanden uns allein im Totenzimmer. Der alte Herr war sehr weich. Nachdem er eine Weile mit verschränkten Armen auf und ab gegangen, blieb er vor mir stehen und sagte:

»Michel, ich bedaure dich, glaub mir. Ich fühle, daß du ein schweres Leid zu tragen hast. Deine Mutter... na, Gott habe sie selig, sie verdiente es. Du hast viel verloren, armer Junge, und wir alle mit dir ... Du warst früher eine wilde Range, und geistlich siehst du gerade auch jetzt noch nicht aus, aber es freut mich, Michel, ich sag dir's frei und offen, es freut mich, daß deine Mutter doch bis zuletzt an dir Freude haben konnte. Es wird nicht allen Müttern so gut, auch nicht allen Vätern ... Zwar mein Mädchen, o, die ist gut und wacker. Kann auch nicht viel dawider sagen, daß sie den jungen Zackstein nicht nehmen mochte. Hätte ihn selber nicht nehmen mögen, sobald ich ihn gesehen. Aber der Berthold ... hm ... nichts davon heute ... Hast du nicht bemerkt, daß Soldchen bleich und traurig ist? Sag dir, das kommt nicht allein von der neulichen Krankheit her. Auch nicht vom Tode deiner Mutter allein, nein, nein. Sie ist schon lange so ... sie grämt sich, weil sie weiß, daß ich mich gräme. Sie ist ein gutes Kind ... Ja, was wollt' ich noch sagen? Richtig. Wenn Tage kommen sollten, wo Isolde eines Freundes, eines treuen Freundes bedürfte, so wirst du nicht vergessen, daß du wie ein Bruder mit ihr aufgewachsen – nicht wahr?«

»O, nie, nie!« sagte ich, meine Hand in die dargebotene des Freiherrn legend.

Am folgenden Tage schmückten Hildegard und Isolde, welche diesen letzten Liebesdienst keinen andern Händen überlassen wollten, die tote Mutter und legten sie in den Sarg. Da lag sie nun still und weiß in den Blumen, womit ihre letzte enge Behausung über und über angefüllt war. Ihr Mund schien wie befriedigt zu lächeln; sie hatte im Leben die Blumen so sehr geliebt.

Der Vater saß zu Häupten des Sarges. Er hatte die erstarrte Hand der Mutter in der seinigen und hielt, ganz verloren in seinen Kummer, leise Zwiesprach mit der geliebten Toten, als hörte sie ihn noch.

»Ich kann's nicht glauben,« sagte er, »es ist zu schmerzlich! Liebe Gertrud, widersprich mir doch nur noch ein einzig Mal, bitte, tu es nur noch einmal, hörst du? ... Aber deine Hand ist so kalt ... O, das hättest du mir nicht zuleide tun sollen, das nicht. Es war nicht recht, daß du vor mir gegangen, nein, es war nicht recht. Ich dachte mir, es müßte so süß sein, wenn deine Finger mir die Augen zudrückten. Aber nun bist du gegangen ... es war nicht recht, o, es war nicht gut getan.«

Isolde berührte sanft die Schulter des Trauernden.

Er schaute auf und sah verstört um sich.

»Sie sind noch nicht allein,« sagte das schöne bleiche Mädchen und zeigte auf Hildegard und mich – »Ihre Kinder sind da.«

Er öffnete uns seine Arme, und gemeinsam strömten unsere Tränen.

Als der dritte Morgen gekommen war, bestatteten wir die Mutter zur Seite der Großmutter.


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