Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel,

welches den Kommentar zu dem vorhergegangenen enthält.

Eine der traurigsten Lagen, in welche der Mensch kommen kann, ist die, im verödeten Vaterhaus zu stehen, zum letztenmal, und von allem Abschied zu nehmen, was an entflohenes Glück, an eine von zärtlicher Mutterhand gepflegte Kindheit, an frohe, von einem liebevollen Vaterauge bewachte Jünglingsjahre erinnert. Alle die goldenen Erinnerungen stürmen auf dich ein, und du meinst, die schreckliche Veränderung, diese Einsamkeit, diese Öde sei eine Unmöglichkeit. War das nicht der leichte Tritt der Mutter im Nebenzimmer? Sprach da nicht der Vater ein joviales Wort dorther, von seinem gewohnten Platz am runden Familientische? Trällerte nicht die Schwester draußen vor dem Fenster im Garten ein lustig Liedchen?

O, mein Gott, Vater und Mutter schliefen drüben auf dem beschneiten Kirchhofhügel, der Großmutter zur Seite, und lieb Schwesterlein sang nicht mehr im Garten. Sie war groß und schön und unglücklich geworden, und barg droben hinter den klösterlichen Mauern von Gnadenbrunn den Schmerz über das jähe Erwachen aus einem kurzen schönen Jugendtraum. Selbst der runde Familientisch war fort, von irgend einem Trödler oder einer Trödlerin in der Auktion erstanden, welche abhalten zu lassen die Verhältnisse mich genötigt hatten.

Ein schmerzliches Ding, so eine Auktion, welche den mit Sorgfalt angesammelten Hausrat einer Familie in alle Winde zerstreut. Ich mußte mich während der traurigen Szenen dieses Geschäfts doch sehr oft daran erinnern, daß ich ein Mann sei, um nicht dieses oder jenes Möbelstück, welches mein Vater besonders bequem gefunden, dieses oder jenes Stück Linnen, welches meine Mutter gesponnen, wieder unter dem unerbittlichen Auktionatorhammer wegzureißen. Die teuersten Familienstücke, Reliquien unseres Wohlstandes, an welche sich besonders liebe Erinnerungen knüpften, hatte ich freilich gerettet, indem ich sie meiner Schwester nach Gnadenbrunn mitgegeben.

Hildegard hatte dringend dorthin verlangt, wo sie von der Mutter Superiorin und der ganzen Schwesterschaft mit offenen Armen aufgenommen zu werden gewiß war. Auch lebte ihr ja ganz in der Nähe des Klosters die treueste Freundin, Isolde, welche auf ihrem Hof Lindach wohnte, und endlich war es mir lieb gewesen, der geliebten Schwester den Anblick der traurigen Veränderungen zu ersparen, welche unser Elternhaus durch die Ordnung der Hinterlassenschaft und die damit zusammenhängende Auktion erlitt. Freilich hätte ich es viel lieber gesehen, wenn Hildegard das dringende Anerbieten Isoldes, schwesterlich mit ihr in Lindach zusammen zu wohnen, angenommen hätte. Aber ihr Sinn stand nun einmal nach dem Kloster, und es wäre mir wahrlich übel angestanden, der armen, durch den Verlust des Vaters in tiefstes Leid versetzten Schwester Zwang antun zu wollen. Nur eines forderte und verlangte ich von ihr, das Versprechen, unter keinen Umständen durch ein unwiderrufliches Gelübde sich zu binden, bevor sie die Überzeugung gewonnen, daß sie es nie zu bereuen haben werde. Deshalb hatte ich sie gebeten, wenn überhaupt, erst drei Monate nach dem dritten Todestage unseres geliebten Vaters den Schleier zu nehmen. Sie hatte mir das versprochen, und ich wußte, daß sie ihr Wort halten würde. Ich hoffte dabei auf Hildegards Jugend, auf den lindernden Einfluß der Zeit, auf irgend einen glücklichen Zufall, welcher verhindern würde, daß meine schöne Schwester unter dem Nonnenschleier verwelken müßte.

Endlich, an einem trüben Februarabend war alles vorüber. Die Auktion war zu Ende, die Leute waren weg, die Sachen fortgenommen. Ich wollte noch eine letzte Nacht in dem unheimlich leeren Hause verbringen, dessen nackte Wände nur allzusehr zu meiner Stimmung paßten. Ich durchschritt noch einmal die vertrauten Räume, die mir ferner kein heimatliches Obdach mehr gewähren sollten, suchte meine Schwermut mit der Vorstellung zu beschwichtigen, daß wenigstens meiner Schwester für ihr Leben lang eine bescheidene Existenz gesichert sei, und ging dann daran, meinen Koffer zu packen, als unsere zwei Mägde, die Theres und die Annem'rei, eintraten.

Sie waren zum Gehen gerüstet und kamen, Abschied zu nehmen und sich nach Lindach auf den Weg zu machen. Isolde hatte die treuen Seelen in ihren Dienst genommen. Da ich sie im Hause ihrer neuen Herrin noch einmal sehen sollte, war der Abschied kein allzuherber. Doch fehlte es auf ihrer Seite nicht an Tränen, und während der folgenden Szene wurden auch mir die Augen feucht.

»Seht, Herr Michel,« sagte die Annem'rei, indem sie den Deckel des Korbes öffnete, welchen sie am Arme trug, »seht, den nehmen wir auch mit. Das arme Beest soll in seinen alten Tagen nicht unter fremde Leute verstoßen sein.«

In dem Korbe richtete sich der alte Don Murr langsam auf, rieb seinen Kopf an meiner liebkosenden Hand, ließ ein melancholisches Mau! Mau! hören, rollte sich dann wieder in seinem Behälter zusammen und steckte den Kopf zwischen die Hinterbeine, als wollte er von dieser jämmerlichen Welt nun gar nichts mehr sehen.

»Ach,« schluchzte die alte Magd, »der Herr Kons'lent selig hat das Tier so lieb g'habt, drum soll es auch nicht hungern, solang' die alt' Annem'rei noch ein Stückle Brot hat.«

»Und den da nehmen wir auch mit,« sagte die Theres, ein Tuch von dem prächtigen Rosenstrauß wegziehend, dessen Topf sie im Arme hielt. »Seht, Herr Michel, 's ist die groß' Moosrosenstaude, an der die Frau Kons'lentin selig ihre absonderliche Freude hatte, und da dacht' ich, die Pflanz' soll nicht z' grund' gehen, solang' die alt' Theres leben tut.«

Ich blickte lange, lange auf den Strauch, der voll blühender Rosen hing. Mir wollte vorkommen, als sähe ich die zarten Finger meiner Mutter durch das Blättergrün gleiten. Es war wie ein zärtliches Winken, wie ein duftender Gruß aus dem Geisterland ...

Als die beiden alten treuen Seelen fortgegangen und ich nun ganz allein war in dem weiten leeren Hause, ließ ich meinem verhaltenen Schmerze freien Lauf. Ich habe in meinem Leben nie bitterlicher geweint als damals.

In jener Nacht, die, lang und schlaflos wie sie war, ernstem Nachdenken gewidmet wurde, kam auch der Entschluß zur Reife, eine Laufbahn einzuschlagen, wie mein Bildungsgang sie nicht erwarten ließ. Möglich, daß mein jugendlich schwärmerischer Ingrimm gegen das, was ich Verkehrtheit und Unrecht in unseren politischen und sozialen Einrichtungen nannte – ein Ingrimm, über welchen zu brüten ich auf der Festung so recht Zeit und Gelegenheit gehabt – hierbei einen Hauptfaktor abgab. Ich schlußfolgerte so: Da ich ein Mensch ohne Protektion bin, ein Mensch ohne wegbahnende Basen und nachschiebende Vettern, außerdem ein Mensch, dessen Rückgrat bedenklich ungelenk, ein Mensch, der seine Zunge nicht ja sagen lassen kann, wo sie nein sagen muß, dessen Augen nicht so organisiert sind, wie die des edlen Polonius, und der dummerweise gewohnt ist, sein Herz auf dem Rockärmel zu tragen, wie jenes schottische Sprichwort sagt – da ich endlich ein armer Mensch bin, so ist das Fazit der Rechnung, daß ich auf dem Wege der Juristerei nicht weiter als in jene Sackgasse gelangen werde, in welcher das Staatsproletariat, die Bureaumenschheit ihr nicht so fast glänzendes als vielmehr nur glänzend scheinendes Elend hinschleppt. Besseres vielleicht könnte ich hoffen, wenn ich, den Staatsdienst zur Seite liegen lassend, Beruf zur Advokatur in mir verspürte; aber offen gestanden, diese widert mich fast noch mehr an als jener. Und dann, ich möchte die Welt sehen, möchte meine Jugendfrische nicht im Kanzleidienst und Aktenstaub vertrocknen lassen. Wäre ich reich, so würde ich ein »Weltfahrer« auf eigene Rechnung à la Pückler-Muskau, wäre ich schriftstellerisch begabt, ein Weltfahrer à la Mundt auf Buchhändlers Rechnung.

In dieser Manier ging mein nächtlicher Monolog noch lange fort, aber ich verschone den Leser damit und setze nur den Schluß hierher, welcher darauf hinauslief, daß ich ohne Zögern den Entschluß faßte, ein Geschäftsmann oder, speziell ausgedrückt, ein Kaufmann zu werden.

Das war nun freilich einer jener kühnen Entschlüsse wie nur die Jugend sie improvisieren kann und darf. Die einzige faktische Basis, auf welche mein Plan sich stützte, waren meine leidlichen Sprachkenntnisse und der feste, unter den Widerwärtigkeiten der letzten Zeit gezeitigte Wille, Dinge und Menschen zu nehmen, wie sie sind.

Als ich, ermüdet von Sorgen und Erwägungen, bei Tagesgrauen endlich einschlief, tat ich es mit den Worten: Ich will in die weite Welt hinaus, will versuchen, Kaufmann zu werden und mein Glück zu machen.

Man sieht, der kommerzielle Geist, der geldmachende, der eigentliche Zeitgeist unseres Jahrhunderts, hatte auch mich ergriffen. Ich will auch gar nicht versuchen, um meinen zunächst rein egoistischen Entschluß etwelchen sozialphilosophischen Nebel herzubreiten, wie ich solchen leicht etwas aus Thomas Carlyles »Evangelium der Arbeit« holen könnte. Ich wollte arbeiten, allerdings, sogar angestrengt arbeiten, aber zuvörderst doch nur, um mir in der Welt zu einer anständigen Existenz zu verhelfen. An andere dachte ich kaum. Fühlte ich doch recht schwer, daß ich selber nichts war und vor allem versuchen müsse, etwas zu werden.

Am folgenden Tage ließ ich mein Gepäck in die Stadt bringen, sagte den Gräbern meiner Teuren Lebewohl und stieg dann ins Tal von Gnadenbrunn hinauf, um die beiden Wesen, die mir jetzt die teuersten auf der Welt waren, noch einmal zu sehen. Nach einem herzzerreißenden Abschied von Hildegard eilte ich nach dem Lindacher Hof, wo mich die ernste, stille in ihrem stillen Ernst so schöne Isolde wie einen Bruder empfing.

Als sie mich aus ihrem Zimmer, wo alles von den ernsten Beschäftigungen eines edlen und gebildeten Geistes zeugte, in das für mich bestimmte Gemach geleitete und die Tür desselben öffnete, stand ich freudig überrascht still.

Da war ja unsere Familienstube aus der Rentei in Rothenfluh!

An den Wänden die alten vertrauten Kupferstiche: die Sixtinische Madonna, das Abendmahl von da Vinci, die Köpfe Lessings, Schillers, Goethes. Dort das alte Kanapee, auf welchem sitzend die Mutter uns Kindern so viele schöne Märchen erzählt hatte; der große runde Tisch davor, an dessen hartem Holz mein schnitzelndes Messer sich so oft versucht hatte. Alles, bis auf die kleinste Gerätschaft herab, hing, stand, lag so, wie es daheim gehangen, gestanden, gelegen. Vom Fenster her grüßte mich der mütterliche Moosrosenstrauch, dessen Anblick mich gestern so tief bewegt hatte. Am Ofen stand der Sorgenstuhl, in welchem der Vater so manche Pfeife geraucht, so manchen Scherz losgelassen hatte, und auf dem Stuhle lag Don Murr, welcher bei meinem Eintritt sich erhob, seinen kühnsten Buckel machte und zum Willkomm ein fröhlich Geschnurr hören ließ.

Mich überkam ein Gefühl, daß ich doch nicht ganz heimatlos geworden sei.

»O, Isolde,« sagte ich, tief gerührt die Hände des jungen Mädchens ergreifend und in den meinigen drückend, »so gut kann auf der ganzen weiten Welt doch nur Isolde von Rothenfluh sein! Ich danke dir!«

»Wofür? Daß ich dir diese kleine Freude bereitete?«

»Für alle deine Liebe und Güte.«

»Wie du nur sprichst! Waren wir nicht wie Geschwister von Kindheit auf? Und sieh, ich habe ja auf der weiten Welt nur noch Hildegard und dich.«

»Du vergissest deinen Bruder ...«

Isolde ließ meine Hände los, trat zurück und machte eine abwehrende Gebärde. Ein tiefer Schatten überflog ihre edlen Züge.

»Um des Himmels willen, Isolde, du hassest deinen Bruder?«

»Hassen? Nein!« Und tief aufatmend setzte sie hinzu:

»Ich bin noch jetzt bereit, für sein Glück zu tun, was ich kann. Aber zwischen ihm und mir steht ein ... Genug, sprich nicht von ihm, o, ich bitte dich! Es tut mir weh; du weißt nicht, kannst nicht wissen, wie weh.«

Sie sank auf einen Stuhl und verbarg das Antlitz in den Händen.

Was waltete hier für ein Geheimnis? Was stand zwischen Isolde und Berthold?

Bevor ich einen Versuch machen konnte, auf diese Fragen eine Antwort von Isolde zu erlangen, erhob sie sich wieder und sagte, ihre Aufregung glücklich bemeisternd:

»Du bist durchnäßt, lieber Michel, bist müde und gewiß auch hungrig. Mache dir's bequem, und inzwischen will ich nachsehen, ob die alte Theres und die alte Annem'rei dir auch auf dem Lindacher Hof deine Lieblingsgerichte – o, ich kenne sie wohl noch – zum Abendessen bereiten können ...«

Ich blieb den folgenden Tag noch auf dem einsamen Hofe, wo das junge Mädchen, das, ausgestattet mit allen Vorzügen des Körpers und des Geistes befähigt war, in den glänzendsten Kreisen der Gesellschaft zu herrschen, in freiwillger Zurückgezogenheit als Hausfrau waltete, angebetet von ihrem Gesinde, hochverehrt von dem umwohnenden Bergvolk, aber, wie ich leider befürchten mußte, schwer gedrückt von einem geheimen Kummer.

Nach einem nochmaligen schüchternen Versuche mußte ich es aufgeben, dieses Rätsel zu lösen, wenngleich der alte vertraute Ton aus den Kinderjahren zwischen Isolde und mir wiedergekehrt war.

Jener mit dem herrlichen Mädchen verlebte Tag ließ mich seit langer Zeit zum erstenmal wieder fühlen, was Glück sei. Und doch sprachen wir nicht von Liebe. Aber wie ein süßestes, für alle Ewigkeit unzerreißbares Band umschlangen uns die rosigen Erinnerungen aus früheren Tagen.

Oft, ich gestehe es, wenn ich die Jungfrau in der ganzen Anmut und Huld ihrer Erscheinung vor mir sich bewegen sah, wenn sie mir gegenüber saß und ihre wundersam schönen Augen voll herzinnigen Vertrauens den meinigen begegneten, oft pochte mir das Herz heiß in der Brust und leidenschaftliche Worte drängten sich mir auf die Lippen. Oft bedurfte es meiner ganzen Willenskraft, das teure Mädchen nicht zu fragen: Gehören wir denn nicht zusammen? Sollen wir nicht zusammenbleiben für immer? Und eine verlockende Stimme in meinem Innern flüsterte mir zu: Frag Isolde immerhin; sie wird nicht nein sagen.

Aber immer wieder bezwang ich mein Herz. Mein Stolz, ein törichter Stolz vielleicht, hielt mich zurück, ein Wort der Entscheidung zu wagen. Durfte ich, ein junger Mensch, der nichts war, der noch nicht einmal gezeigt hatte, daß er etwas werden könnte, ich, sozusagen ein Bettler, durfte ich mir herausnehmen, um die Herrliche zu werben? Nein!

Ich teilte Isolde meinen neuen Lebensplan mit.

Sie stutzte anfangs und sagte, indem sie zu lächeln versuchte:

»Wie, Michel? Du, der himmelstürmende Gigant, dessen hochfliegenden Theorien kein Titanismus titanisch genug sein konnte, willst dich kopfüber in die Prosa des Lebens stürzen? Du willst Kaufmann werden? Es ist wohl nur Scherz.«

»Keineswegs,« erwiderte ich, und nachdem ich meinen Plan des näheren entwickelt hatte, setzte ich hinzu: »Sieh, meine teure Isolde, die Zeit des titanischen Wollens, die Zeit der gigantischen Himmelsstürmerei, wie ich sie mit vielen guten und schlechten Gesellen auf der Universität getrieben, ist vorbei. Was hilft es dem einzelnen, gegen die Schranken einer Welt anzurennen, wie sie nun einmal ist? Er kann sich dabei höchstens den Schädel zerschellen. Dem Manne, selbst dem idealistisch gesinnten, drängt sich bald genug die Notwendigkeit auf, die Verhältnisse zu nehmen, wie sie sind; denn nur so kann es ihm gelingen, sie wenigstens einigermaßen nach höheren Begriffen zu gestalten. Euch Frauen ist es gestattet, länger in der idealen Welt, die ihr in eurer Brust erbautet, zu weilen. Eure ganze Organisation ist die zartere, poetischere. Euch in schönen Illusionen zu wiegen, das ist euer Vorrecht. Du hast deine Dichter, dein Piano, deine Harfe, dein Skizzenbuch; du kannst und darfst da in deiner idyllischen Einsamkeit dem Kultus des Schönen leben, obgleich die praktischen Forderungen des Lebens auch an dich, an die Lindachbäuerin, wie du dich scherzweise nennst, tagtäglich herantreten. Bewahre deinen Idealismus! Du kannst es, und er steht euch Frauen so schön! ... Was mich betrifft, du glaubst wohl nicht, daß ich je ein gemeiner Utilitarier werden könne; aber, siehst du, ich muß erst durch das Nützliche hindurch, um zum Schönen gelangen zu können. Ich muß erwerben, um mir und anderen das Leben zu gestalten. Überzeugt, daß ich zum Gelehrten nicht das Zeug habe, ebenso, daß ich weder als Beamter noch als Advokat mir selbst oder sonst jemand nützlich sein könnte, will ich es als Kaufmann versuchen. Du wirst mich darum nicht geringer achten, denn nicht was er treibt, sondern wie er es treibt, macht den Mann. Ich werde versuchen, in unserem Nachbarlande, der Schweiz, diesem industriellsten Lande des Kontinents, eine industrielle oder kommerzielle Stellung zu gewinnen. Die Schweizer gelten für Dreiviertels-Engländer und für halbe Yankees: ich werde also bei ihnen vortreffliche Studien im Geschäftsleben machen können. Ich gehe an den Versuch ohne sanguinische Hoffnungen, aber mit festem Mut. Und sieh, Isolde, wenn ich es recht bedenke, hat das Leben, welchem ich mich widmen will, nicht nur seine kleinlich selbstsüchtige Seite, sondern auch seine großartige, sogar, wenn du willst, seine poetische. Wir leben im Zeitalter der materiellen Interessen. Ein unerbittlicher Realismus beherrscht die Welt. Die Theorie gilt nur noch da, wo sie als Dienerin, als untertänige Dienerin der Praxis auftritt. Die Wissenschaft wird nur noch in dem Grade geschätzt, in welchem sie für den unmittelbaren Erwerb arbeitet. Kunst und Poesie sind Luxuswaren wie andere. Der Born idealer Schöpfungskraft scheint einstweilen versiegt zu sein. Die kleine Gemeinde des Idealismus muß sich kümmerlich von den Brosamen nähren, die von der schwelgerischen Geistertafel des achtzehnten Jahrhunderts in das unsrige herüberfallen. Das Kapital beherrscht alle Gesellschaftsklassen, vom König hinab bis zum Fabriksklaven. Es ist die Seele des großen Motors unserer Zeit, des Industrialismus, mit welchem die moralischen und materiellen Motoren der Vergangenheit, die ich alle unter dem Namen Feudalismus zusammenfasse, einen wilden Kampf auf Leben und Tod kämpfen. Wem der Sieg zufallen werde, kann nicht zweifelhaft sein. Mit jedem neuen Dampfboot, das vom Stapel läuft, mit jedem neuen Dampfroß, das die Schienen beschreitet, fällt ein Stück Feudalismus in den Abgrund unwiederbringlicher Vergangenheit. Jede neue Maschine, deren Eisenarme der Dampf in Bewegung setzt, zerreibt ein religiöses, politisches oder soziales Dogma des Mittelalters zu Atomen. Törichte Romantik, welche den Leichnam der sogenannten guten alten Zeit, nachdem sie denselben mit allerhand Flitter aufgeputzt, galvanisiert und der Welt einreden will, der Moder sei Leben. Ein ungeheurer Umschwung der Ansichten und Verhältnisse bereitet sich vor, alles ist auf reale Ziele und Zwecke gerichtet. Die Menschen glauben, lieben, hoffen und wollen nichts mehr, als was sich verwerten, zählen, wägen läßt und Interessen, tatsächliche, greifbare Interessen trägt. Das Nützliche, nur das Nützliche, immer und überall das Nützliche, das ist's, was unsere Zeit will und mit ungeheurer Arbeit erstrebt. Niemals ist so gearbeitet worden, wie jetzt gearbeitet wird, und wo Arbeit ist, da ist Leben, Bewegung, Zukunft. Ja, Zukunft, und zwar eine solche, welche dem Nützlichen auch wieder das Schöne gesellen wird. Mag es scheinen, ja mag es Wirklichkeit sein, daß unsere Zeit nur noch an den schwarzen Höllengott Mammon glaubt, die lichten Götter der Freiheit und Freude, der Schönheit und Menschlichkeit sind darum nicht tot. Sie harren nur, wie so oft schon in wildgärenden Übergangsperioden auch jetzt wieder ihrer Zeit. Die reale Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts bereitet den Boden, auf welchem im zwanzigsten ideale Samen ausgestreut werden und fröhlich gedeihen können.«

Mein langer Vortrag, in welchem ich, wie ich auch jetzt noch glaube, die Signatur unserer Zeit ziemlich getreu gezeichnet hatte, stimmte Isolde nachdenklich. Nach ihrer verständigen Art wollte sie die neugewonnenen Eindrücke sich erst zurechtlegen und klarmachen, bevor sie sich darüber aussprach. Ich habe nie ein weibliches Wesen gekannt, welches von der Untugend sovieler Frauen, über alles und jedes, auch das ihnen Neueste, von ihnen Unbegriffenste, blind in den Tag hineinzuschwatzen, so frei gewesen wäre, wie Isolde es war.

Ich wiederhole, ich glaube, schon damals in meinem »dunklen Drange« ziemlich richtig gefühlt zu haben, wie unsere Zeit ist und was sie will; aber ich will gleich hier bekennen, daß ich später, als ich das Wesen des Militarismus des neunzehnten Jahrhunderts in seinen Einzelheiten kennen lernte, oft große Not hatte, mir den Glauben an die Möglichkeit der Wiederkehr des Idealismus im zwanzigsten Jahrhundert zu bewahren.

Am Abend vor meinem Abschied von Isolde, nachdem wir lange von unseren Eltern und von meiner Schwester gesprochen, gab sie dem Gespräch eine andere Wendung und sagte:

»Du willst also Kaufmann werden, lieber Michel? Nun wohlan, deine Gründe haben mich überzeugt, und ich kann deinen mutigen Versuch, dir mit eigener Kraft eine Stellung im Leben zu schaffen, nur billigen und loben. Aber, mein Freund, ein Kaufmann, besonders ein erst werdender, hat Geldmittel nötig und ...« Wohl wissend, was kommen werde, wollte ich Isolde unterbrechen, allein sie legte mir begütigend die Hand auf den Arm und fuhr mit ihrer einfachen Herzlichkeit fort:

»Unsere Hildegard weiß es nicht, aber ich weiß es, wie großmütig du gegen sie gewesen, und daß du infolge dieser Großmut ...«

»Nenne es nicht so, Isolde. Meine Handlungsweise war nur die allereinfachste Pflichterfüllung und mir noch dazu von meinem geliebten Vater ausdrücklich vorgezeichnet.«

»Du mußtest tun, wie du tatest, mein Freund, ich weiß es. Aber sieh, du solltest doch auch wissen, daß mir jeder Bissen im Munde quellen würde, wenn ich dich in Not wissen müßte.«

Wie mußte ich mir Gewalt antun, um diesen reizenden Mund, der so einfach wahr aussprach, was das Herz ihm gebot, nicht zu küssen!

»Quäle dich doch nicht mit so trüben Vorstellungen, meine teure, meine gütige Isolde,« sagte ich. »Für die nächste Zeit bin ich von Subsistenzmitteln keineswegs entblößt, und zudem bin ich gesund, rüstig, voll guten Mutes und habe hoffentlich auch einiges gelernt – woher also schlimme Besorgnisse? Wenn sie sich aber jemals rechtfertigen, wenn ich jemals in wirkliche Not geriete, dann, beim Himmel! wäre Isolde von Rothenfluh das einzige Wesen, welches um Unterstützung anzugehen ich mich nicht schämte.«

»Dank dir, mein Freund. Aber wie du nur wieder sprichst! Wer redet von Unterstützung? O, ich kenne unsern stolzen Michel, und meinst du denn, ich wollte ihn anders haben, als er ist? Mir gefällt, wie ich schon sagte, dein Vertrauen auf die eigene Kraft ... Aber jedes Ding muß doch seinen Anfang haben, und ... und, siehst du, als ich dich heute so geschäftsmäßig reden hörte, wurde auch ich ganz geschäftlich gestimmt, und ich dachte mir, du würdest aus alter Freundschaft nichts dagegen haben, wenn ich mich mit einer Summe Geldes, die leider lange nicht so groß ist, wie ich sie wünschte, an deinen Unternehmungen beteiligen würde, und ...«

»Wie du errötest, über und über, meine teure Isolde! Siehst du, du kannst keine Lüge aussprechen, du nicht! Nicht einmal eine Lüge der Großmut, womit du nur das eigene Zartgefühl täuschen möchtest. Nein, nein! Sieh, du hast mich stolz genannt: wohlan, laß mir den Stolz, dir, gerade dir zu zeigen, daß ich durch mich selbst etwas werden könnte.«

Isolde sagte nichts mehr. Sie sah mich nur noch bittend an mit ihren lieben Veilchenaugen und, ach, wie schwer wurde es mir, dieser stummen Sprache zu widerstehen! Ich fühlte überhaupt, daß ich hier nicht länger weilen dürfte, wenn ich meine Fassung, meinen Stolz bewahren wollte.

So ging ich denn folgenden Tages.

Wir sagten uns kein zärtlich Wort zum Abschied, wir weinten nicht, wir küßten uns nicht; aber als mir, dem oft Zurückblickenden, das rotbraune Dach, unter welchem Isolde atmete, entschwunden war und ich durch die frostigen Morgennebel hinabstieg ans dem Gnadenbrunner Tal, den von schmelzenden Schneemassen geschwellten, laut tosenden Bergbach zur Seite, da stand ein wilder Schmerz in mir auf und schrie mir in die Ohren: Jetzt bist du allein, ganz allein in der weiten, weiten Welt!

Nach wenigen Tagen befand ich mich in der großen und berühmten Handelsstadt des Nachbarlandes, wo mich der geneigte Leser im »Kontorkabinett« von Oskar Ziegenmilch und Komp. wiedergefunden hat.

Ich hatte bald genug erfahren, daß es etwas anderes ist, ein fremdes Land als leichtblütiger Student, eine anständig gefüllte Börse in der Tasche, sozusagen mit Sang und Klang zu durchstreifen, und wieder etwas anderes, etwas sehr anderes, in das nämliche fremde Land zu gehen, um daselbst ein Unterkommen zu suchen, vollends in einem Fache, wo man doch eigentlich ein purer Bönhas ist. Ich hatte zwar nicht alle die Enttäuschungen sovieler Deutschen durchzumachen, welche mit der Vorstellung in die Schweiz kommen, dieses Land sei ein verwirklichtes Freiheitsgedicht, so 'ne Art Geßnerschen Idylls in die Politik übersetzt, ich wußte schon zum voraus so halb und halb, daß die Schweizer ein durchaus praktisches, utilitaristisches, arbeitsames und nüchtern rechnendes Volk seien; aber nach einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Versuche, mir eine Art Existenz zu verschaffen, glaubte ich doch gefunden zu haben, daß diese Republikaner nicht nur halbe, sondern ganze Yankees seien. Man weiß ja, wie die Not den Menschen verbittert, und ich hatte erfahren, Was Not ist und wie sie tut. Ach, sie tut einem doppelt weh, der in Wohlhabenheit erzogen wurde und sich nun sozusagen plötzlich mittellos »der gemeinen Wirklichkeit« gegenübergestellt findet.

Vorüber! ... Aber ich kann doch nicht umhin, manchmal jener trübseligen Stunde zu denken, wo ich in einem düstern Quartier der reichen Handelsstadt vor der Tür einer armseligen Pintenschenke stand und ernstlich mit mir zu Rate ging, ob ich den letzten Rest meiner Barschaft, das letzte von Wert überhaupt, was ich besaß, den Maria-Theresientaler meiner seligen Mutter, dadrinnen gegen ein seit zwei Tagen entbehrtes Mittagsessen eintauschen sollte oder nicht.

Seltsam, in der nämlichen Stunde, wo meine Pietät über meinen Hunger einen – ach, wie schweren! – Sieg davontrug, nahm mein Geschick eine günstige Wendung, indem mir ein Zufall die Bekanntschaft des Herrn Oskar Ziegenmilch verschaffte.

Ich hatte eben mit vieler Anstrengung meine Augen von der Versuchung, die mir in Gestalt einer Pintenschenke entgegengetreten, abgewendet, als ein weiblicher Schreckensruf an mein Ohr schlug. Er kam aus dem Munde einer elegant gekleideten Dame, die vor den scheugewordenen Pferden eines leeren Frachtwagens her die enge Gasse herabfloh. Ich lief ihr entgegen, faßte sie am Arme und führte oder trug sie vielmehr rasch in eine offenstehende Haustür, die sie in ihrer blinden Angst wahrscheinlich nicht gesehen hätte. Das Gespann rasselte vorüber, und damit wäre die Geschichte zu Ende gewesen, wenn nicht die Dame, einer Ohnmacht nahe, so krampfhaft meinen Arm festgehalten hätte, daß ich sie wohl oder übel nach Hause geleiten mußte.

Meine Schützlingin war Frau Elisabeth, will sagen Lelia Ziegenmilch, deren Herr Gemahl mir warmen Dank bezeigte und freundlich in mich drang – du lieber Gott, es bedurfte keines großen Drängens! – an dem eben bestellten Mittagstische Platz zu nehmen.

Wenn du, mein geneigter Leser, einmal in der Lage gewesen bist, zu erfahren, was nach wochenlanger Entbehrung ein kräftiges Mittagsessen, ein Glas Wein, zum Nachtische eine Tasse Kaffee und eine gute Zigarre für köstliche Dinge sind, so wirst du begreifen, daß ich gegen meinen Wirt nicht spröde tat. Er war ein zu »enorm praktischer« Mann, um nicht, noch bevor wir zu Kaffee und Zigarren kamen, meine Lage zu durchschauen. So gab denn ein Wort das andere und – kurz und gut – der nächste Morgen sah mich als angehenden Kommis in dem Geschäftslokal von Oskar Ziegenmilch und Komp.

Er war in der Tat das, für was er sich selbst hielt, ein kaufmännisches »Genie«, mein werter Herr Prinzipal, und er war auch kein »schmutziger Egoist«, das heißt, wer ihm diente, dem diente er wieder. In seiner Art war er ein Mann von großem Streben, und auch seine Eigenheit, sich in wahrhaft kriechender Weise um die Bekanntschaft von irgendwie, namentlich aber durch großen Besitz ausgezeichneten Leuten zu bemühen und sich dann in echter Emporkömmlingsweise dieser »vornehmen« Bekanntschaften bei jeder Gelegenheit zu rühmen, selbst diese Eigenheit, die mir oft so lächerlich vorkam, ist ja nur ein allgemeiner Charakterzug jener in unserer Zeit so äußerst zahlreichen Sorte von Menschen, deren ganzes Dichten und Trachten im Streben nach äußerlichem »Sukzeß« aufgeht. Einer solchen Natur mußte mein moralischer Ärger über den Humbug, woraus Ziegenmilch und Komp. bares Geld münzten, mein Ärger über diese Gesundheitsarkane und diese Kosmetik, über diese Witheschen und Hetteschen Augenwasser, diese Stanleyschen und Laurentiusschen Kraftessenzen, Rohrschekschen Universalbalsame, Delabarreschen Sirupe, du Barryschen und Whartonschen Revalenten, diese Aurorapomaden, Lilionesen, Schönheitswasser, Rachel-, Viktoria-, Eugenie-Schminken usw. in infinitum – ich sage, meinem Ziegenmilchschen Kaufmannsgenie mußte meine Moral in der Tat sehr albern vorkommen. Ich werde nie das triumphierende Lächeln vergessen, womit Herr Ziegenmilch meiner »unpraktischen« Moral gegenüber bei einem Wochenabschluß auf die Summe zeigte, welche der handgreifliche Blödsinn des Baunscheidtschen »Lebensweckers« ihm binnen wenigen Tagen eingebracht hatte. Später, als ich erfuhr, daß das Ziegenmilchsche Geschäft im Grunde nur der Mikrokosmos des kommerziellen Makrokosmos war, ärgerte ich mich nicht mehr so heftig darüber, daß die Welt schlechterdings betrogen sein wolle.

Frau Lelia Ziegenmilch war, wie ihr Gemahl scherzweise zu sagen pflegte, eine »starke Neunzehnerin«, das heißt sie hatte unlängst das dreißigste Jahr passiert. Ihre gefühlvolle Seele wohnte in einem Körper, der recht hübsch war, wenn er nicht etwas zu kurz und zu rund gewesen wäre. Eine Blondine von rosigem Teint, besaß sie allerliebste Arme und gefällige, wenn auch unbedeutende Züge, aber sie war zu sehr, was die Engländer bushel-bubby nennen. Ihre Zähne waren bewunderungswürdig regelmäßig und weiß, aber wahrscheinlich gerade so echt wie die schönen Zähne von zwei Dritteln ihrer Landsmänninnen. Ihre runden graubläulichen Augen schmachteten, schmachteten sehr, nämlich nach einem »Lebensinhalt«, wie sie sich ausdrückte. Sie bildete sich ein, keinen solchen zu haben, seit sie ihrem Manne nicht mehr Käse auswägen und Tüten drehen helfen mußte, sondern seidene Roben trug und ein eigenes »Meidli« zu ihrer persönlichen Bedienung hatte. Vielleicht war es auch mehr als Einbildung, und die gute Frau war in dem kleinen Lädchen in der obskuren Spiegelgasse wahrscheinlich glücklicher gewesen, als sie es in ihrem stattlichen Hause auf dem großen Quai war, wo diverse Bankiersfrauen, die in der Nachbarschaft wohnten und lange nicht so hübsch waren wie meine »Prinzipalin«, sich über das lustig machten, was sie die Pfeffertütenmanieren der »kleinen« Ziegenmilch nannten. Ein junger Maler, Herr Artur Puff, ein lustiger Gesell, der bei Ziegenmilch und Komp. aus und ein flatterte und unter dem Vorwande, der Frau vom Hause den Hof zu machen, dem Hausherrn seinen Wein vertrinken und seine Zigarren verrauchen half, pflegte witzelnd zu sagen, das, woran sich Goethe im zweiten Teile des »Faust« abgemüht, die Vereinigung von Romantik und Klassik, habe die Natur in Frau Lelia glücklich zuwege gebracht. Hier wohne in einem appetitlich plastischrunden Körper eine germanisch-romantische Nebelseele.

Glaube nicht, lieber Leser, daß ich mit Wissen und Willen boshaft sei. Herr und Frau Ziegenmilch haben mir zu viel wirkliches Wohlwollen gezeigt, als daß dies irgendwie meine Absicht sein könnte. Ich male nur nach der Natur, nach dem Leben, und ich benutze gerade diese Gelegenheit, mich mit dir, lieber Leser, über einen wichtigen Punkt auseinanderzusetzen.

Ich habe dich im vorstehenden in die Geschäftswelt eingeführt, und im folgenden werden wir uns in den verschiedenen Kreisen derselben bewegen. Solltest du da mitunter einen unangenehmen Eindruck erhalten, so ist das durchaus nicht meine Schuld. Ich beschreibe nur, was ich erlebte, und ich erkläre förmlich, daß ich die Geschäftswelt weder für besser noch für schlechter halte als andere Kreise der Gesellschaft. Seit sich das Publikum einesteils durch eine geleckte naturlose Dorfnovellistik, andernteils durch Suesche Proletarier-Romantik den Geschmack verderben und die klare Anschauung der sozialen Wirklichkeit trüben ließ, sind die wunderlichsten Ansichten über, an Stand und Beruf haftende Tugendlichkeit oder Lasterhaftigkeit aufgekommen. Ich teile diese Ansichten keineswegs. Ich glaube, ein Kaufmann oder, wenn du willst, ein »Geldprotz« kann so tugendhaft oder so lasterhaft sein wie ein Bauer, wie ein Proletarier, wie ein Prinz und umgekehrt. Meine Erfahrung lehrt mich, daß die Torheiten, Leidenschaften und Laster der Menschen in allen Ständen ihrem Wesen nach immer dieselben sind, obgleich sie in verschiedenen, »standesgemäßen« Formen zum Vorschein kommen ... Du hast das selber schon längst gewußt? Nun, desto besser!


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