Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel.

Landjugend. – Von meinem Vater. – Ein humoristischer Sprung. – Don Murr. – Die »Strickstunden« meiner Mutter. – Skrupel einer Nonne. – Klassische Entzückungen des alten Hairle. – Ein unfrommer Betrug.– O, du Kinderzeit!

Ich habe die Sentimentalität meiner Weltperiode nie so vollständig vergessen können, daß ich in Städten, besonders in großen, einer Schar von Kindern begegnend, dieselben nicht herzlich beklagt hätte. Auch in Städten, ich gebe es zu, mag die Kinderzeit ihre Poesie haben, aber ich bin standhaft der Ansicht, daß sie sich mit einer auf dem Lande verlebten Kindheit nicht messen könne. Hier, wo man die Natur sozusagen aus erster Hand hat, sind die Beziehungen des Kindes zum Naturleben viel unmittelbarer und inniger, und wo nicht die Schlange der Armut das Paradies der Jugend allzufrühzeitig und allzuzudringlich vergiftet, wird dieses in der Erinnerung eines Landkindes immer heller leuchtend stehen bleiben als in der eines Stadtkindes. Natürlich! Die werkeltätige Prosa des Lebens muß sich dem Stadtkinde viel früher aufdrängen als dem Landkinde, dessen Sinn viel länger frisch, dessen Vorstellungen viel länger naiv bleiben. Es gibt einen deutschen Dichter, Jean Paul, der diese ländliche Frische und Naivität bis in sein Alter bewahrte. Der große Humorist war trotz seiner etwas wirrsäligen Gelehrsamkeit, die er vielleicht mitunter allzugern zeigte, eigentlich sein Lebenlang ein »ernsthaft spielend Kind«.

Meine Jugend blieb, ungeachtet ich jetzt den weitaus größeren Teil des Tages hindurch unter der strengen Aufsicht eines pedantischen Lehrmeisters stand, noch immer eine ländlich glückliche. Zu der Pedanterie des Benefiziaten, welcher so unerbittlich an meinem Schulsacke flickte oder denselben vielmehr ganz neu zuschnitt, daß ich mich endlich damit sehen lassen konnte, bildete die humoristische Bonhomie meines Vaters einen wohltätigen Gegensatz. Ich vergaß alle grammatikalischen Leiden, alle syntaktische Plackerei, welche ich die Woche über ausgestanden, wenn er, wie er zu tun gewohnt war, in der Frühe eines schönen Sonntagsmorgens mit uns Kindern hinausging in die tauige Frische und uns das ewige Buch der Schönheit lesen lehrte, in welchem unsere Heimatgegend ein so anmutiges Blatt darstellte. Bei solchen Wanderungen brach die Poesie, welche in meinem Vater lebte, ohne daß er Verse schrieb, hervor, wie nach einem schönen Worte Immermanns »die Träne aus der Rebe im Lenz«, und oft noch summt mir die Strophe eines mir unbekannten Dichters im Gedächtnis, welche ich ihn an so einem Sonntagsmorgen, als wir die Sonne glorreich über unsere Berge aufgehen sahen, glänzenden Auges vor sich hin sprechen hörte:

Sonnentragend, hauptverneigend
Trinkt der Hochwald Nebelflut,
Bergesmütter halten säugend
An die Brust die Quellenbrut.
Weltumkreisend, Allbesieger,
Kommt der Tag triumphend her;
Bunte Wolken, seine Tiger,
Taumelnd, lächelnd reitet er.

Mein Vater war Pantheist. Er fühlte in allem und jedem den Atem der großen Weltseele. Wenn er von dem religiösen Fühlen, Vorstellen und Tun der heidnischen Altvordern erzählte, ging etwas wie Rauschen der alten Götterhaine, wie uralter Waldgeruch durch seine Rede. Es wurde dann seinen Zuhörern so andächtig zumute, wie ihm selber war. Sein Gedächtnis war ein unerschöpfliches »Wunderhorn« alter Sagen, Mythen und Lieder. Wenn meine Schwester Hildegard, die unserer Mutter klare, hohe und reine Stimme geerbt, im Verein mit ihrer Freundin Isolde, welche einen prächtigen Alt besaß, dem Vater so ein altes echtes Volkslied sang, ging ihm das Herz auf. Er liebte die Musik leidenschaftlich. Meine Mutter unterrichtete den Fabian und mich im Klavierspiel, während meine Schwester dieses Instrument und das nach meinem Gefühle noch schönere, die Harfe, zugleich mit Isolde auf dem Schlosse spielen lernte. Da haben wir denn dem Vater an manchem Abend mit einem improvisierten Konzert die Stirne geglättet.

Und das war zuweilen nötig, denn wie alle humoristischen Naturen bewegte sich auch die meines Vaters in Gegensätzen. Sein ursprünglich brausendes Temperament war zwar allmählich durch die Jahre sehr gesänftigt worden, aber mitunter schlug seine Sanguinität immer wieder durch die ruhige, ich möchte sagen behagliche Gefaßtheit, welche er sich allmählich angewöhnt hatte. Daraus erklärt sich denn auch der Feuereifer, womit er sich plötzlich für die beginnende industrielle Bewegung der Zeit interessierte. Wenn sonst in seinen Mußestunden Bücher wie Goethes Werke oder die Forschungen unserer großen Germanisten kaum aus seinen Händen gekommen waren, sah man ihn jetzt häufig über nationalökonomischen und technischen Schriften brüten, und er ließ es sich angelegen sein, auch mir einigen Geschmack an solchen Werken beizubringen. Ich erinnere mich, daß ich mich ihm zuliebe einmal durch einen dicken Wälzer über Maschinenkunde mit Ach und Krach durchfocht und dann auf sein Befragen nicht verhehlte, daß ich mich ob dem Ding schrecklich gelangweilt habe. Das alles, meinte ich, sei doch grauenhaft maschinenmäßig. »Ja,« versetzte er und seine munteren Augen wurden dabei ganz traurig, »ja, grauenhaft maschinenmäßig, das ist wahr. Armer Junge, ich fürchte, du wirst ein eisernes Zeitalter erleben, eine Zeit, wo die Maschinen mehr gelten werden als die Menschen.« Und nach einer Pause setzte er schwermütig hinzu: »Es ist seltsam und erschreckend, wie die materiellen Interessen alles zu zerreiben, zu verschlingen drohen. Du verstehst mich jetzt noch nicht, Michel; aber es wird ein Tag kommen, mein Knabe, wo du meine Besorgnis vor dieser alles und alle bestrickenden Macht des materiellen Besitzes begreifen wirst. Du bist jetzt nachgerade alt genug, um einzusehen, daß die alte Zeit nicht so gut und schön und rosenfarben war, wie der Phantast, der Fouqué, und andere Toren seiner Art sie geschildert haben; aber sie verehrte doch noch Götter, sie huldigte Idealen, wenn auch oft in bizarren und grotesken Formen. Schon unsere Gegenwart dagegen setzt eine so altkluge Miene auf, als wäre aller Kultus des Schönen, des Heiligen als eine abgetane Kinderposse nur so in die Rumpelkammer der Weltgeschichte zu werfen, und wenn das so fortgeht, werden die Menschen bald tun, als gäbe es gar keine ideellen Lebensmächte mehr. Dämon Mammon wird ihnen die Götter ersetzen. Neulich sah ich ihn nachts im Traume. Ob der in eine ungeheure qualmende Esse verwandelten Erde lastete er, ein riesiges Scheusal, ein Weltalp, und mit seinen schwarzen Riesenfledermausfittichen streifte er einen schönen Stern nach dem andern vom Himmelsgewölbe. Es war ein böser Traum.«

Solche trübe Stimmungen des Vaters waren aber vorübergehend, und manchmal rettete er sich aus denselben mittels eines plötzlichen humoristischen Sprunges. So auch eines Tages, etwa ein Jahr nach meiner lyzeistischen Katastrophe, als ich, einen Auftrag des Freiherrn zu bestellen, abends den Vater auf seinem Geschäftszimmer aufsuchte. Er war nicht allein, denn an der Türe stand ein junger Bauerbursch, in der linken Hand einen verschlossenen Korb tragend, aus welchem ein halblautes Gescharre und Gepiepe kam, und mit den Fingern seiner Rechten verlegen seine pelzverbrämte Mütze drehend. Mein Vater saß mit aufgestemmten Ellbogen hinter seinem großen Aktentisch und starrte in einen vor ihm liegenden Brief. Seine Brauen waren zusammengezogen, und sein Blick hatte einen so seltsam wilden Ausdruck, wie ich noch nie an ihm wahrgenommen hatte.

»Vater,« begann ich, »der gnädige Herr läßt dich grüßen und ...«

Er sah auf, blickte mich starr an, und ein schwerer Seufzer brach laut über seine Lippen.

»Was soll's?« fragte er rauh.

Ich sagte, was ich zu sagen hatte, aber er nahm offenbar wenig oder gar nicht Notiz davon.

»Ist dir unwohl?« fragte ich, da ich bemerkte, daß sein sonst so gesund rotes Gesicht ganz fahlblaß war.

Er winkte nur abwehrend mit der Hand. Da bemerkte er den unglücklichen Bauerjungen an der Türe, und als bedürfte das Gewitter in seiner Brust einer gewaltsamen Entladung, schrie er ihn mit einer Donnerstimme an:

»Was willst du, Kerl?«

So ein Donnerschlag machte den armen Burschen vollends ganz datterig. Er ließ seine Pelzkappe fallen, stotterte einige unartikulierte Töne hervor, trat dann, wie mit einem verzweifelten Entschluß, dem Tische näher, stellte seinen Korb auf den Boden, öffnete den Deckel, und heraus sprang ein halbes Dutzend junger Hahnen oder Kapaunen, die sich bald mit verstörtem Gekluckse im Zimmer verbreiteten.

»Holla, he, was soll das, du Kaliban?« schrie mein Vater.

»Herr Kons'lent, Herr Kons'lent,« stammelte der Bursch, sich verzweifelnd mit beiden Händen hinter den Ohren kratzend.

»Was denn? So tu doch das Maul auf, du Kreuzschwerenöter!«

»Die Muotter, die Muotter,« stotterte der Unglückliche.

»Was soll's mit deiner Mutter?«

»Die Muotter hat halt g'moint ... von wegen der Streue im Birkachwäldle ... und derweil die Koppen huir so wohl g'raten sind ... und fett sind d' Dinger, 's ist wohr ... und, Tone, hat sie g'sagt, Tone, 's Schmiera und 's Salba hilft nummaeinist allethalba ...«

»Was?« fuhr mein Vater los. »Bestechen will man mich? Mich mit Kapaunenfett schmieren und salben? Wart, ich will dich sogleich auch ein bißle salben. Wo ist mein Meerrohr? Du verdammter ...«

Mitten in dieser drohvollen Diatribe hielt er aber inne, denn die schafsmäßige Miene des großen Jungen, der ganz verdattert dastand, machte ihn plötzlich hell auflachen.

»Michel, fang die Bestien zusammen,« befahl er und ich brachte es unter großem Gekreische und Geflatter der Tiere glücklich zustande, diesen Befehl auszuführen.

Mein Vater war aufgestanden und kam hinter dem Aktentisch hervor.

»Herr Jesus, Herr Jemine!« stammelte der Bursch, einen Blick des Entsetzens in die Ecke werfend, wo das Meerrohr meines Vaters lehnte.

Aber das gefürchtete Instrument wurde nicht in Tätigkeit gesetzt. Mein Vater nahm mir den Korb ab, in welchem ich die Kapaunen wieder verschlossen hatte, und trat damit auf den Jungen zu, welcher seinerseits sich so lange »rückwärts konzentrierte«, bis er an der Zimmerwand anstieß. Er hätte sich gern durch dieselbe gezwängt, wenn es nur möglich gewesen wäre.

Bei meinem Vater hatte der Humor augenscheinlich den Zorn verdrängt. Er trat hart vor den Burschen hin, gab ihm den Korb, um dessen Tragring sich die Finger des Geängstigten mechanisch schlossen, und schnaubte ihn an:

»Verstehst du Latein?«

»La – la – la – latein?« stotterte der Bursch.

»Aber du weißt doch, was eine Grabschrift ist?«

»Sell ist numme eine Geschrift uf 'nem Grabkreuz, moin i.«

»So was ungefähr, ja. Nun paß auf, Bursch, und schreib' dir's hinter deine langen Ohren. War 'mal vorzeiten ein wackerer römischer Legionssoldat. Als der zu sterben kam, verordnete er, daß man ihm auf seinen Grabstein die Worte grabe: ›Ich lebte, wie es einem freien Manne geziemt. Was ich gegessen und getrunken habe, ist mir zugute gekommen, sonst nichts‹ ... Verstehst du mich?«

»Noi.«

»Du ewiger Latsche! Der langen römischen Grabschrift kurzer deutscher Sinn ist: Selber essen macht fett. Das verstehst du doch, Boppel

»Sell verstand i scho.«

»Wohl, so tu danach und sag deiner Mutter, sie soll es auch so machen, das heißt notabene mir gegenüber. Die Streu im Birkachwäldle könnt ihr holen, will's dem Förster sagen ... und jetzt pack dich!«

Am folgenden Morgen nach dieser burlesken Szene verreiste mein Vater für mehrere Wochen. Bei seiner Rückkehr war er ernst, fast düster gestimmt, wennschon er es zu verbergen suchte. Er sagte mir damals, als er eine Weile mit mir im Garten allein war, mit eindringlicher Betonung: »Michel, merk' es dir, die Physiognomik ist doch keine ganz eitle Wissenschaft, 's ist etwas dran, ja, bei Wodan und Frouwa! Im übrigen, Junge, traue den Menschen nicht gar zu schnell und gar zu sehr, hörst du? Schaff dir beizeiten eine gehörige Portion Mißtrauen an. Man hat's nötig in dieser Hundewelt, das heißt, die Welt wäre schon recht und schön, aber die Menschen, die Menschen ... na, ich will fürder mißtrauisch sein trotz einem, mißtrauisch wie 'ne Gluckhenne.«

Mit diesem Vorsatz ging es wohl kaum viel anders als mit seinem fast täglich erneuten und doch nie zur Ausführung gebrachten Entschlusse, die Gegenwart des Katers Murr beim Mittagessen nicht mehr zu dulden. Besagter Kater, nach dem berühmten Callot-Hoffmannschen genannt, war ein kolossales schwarz und grau getigertes Exemplar seiner Gattung und nahm in der Tierfreundschaft meines Vaters unmittelbar die Stelle nach dem alten Hylas ein. Er war dem Vater und uns allen über die Maßen anhänglich, seinem Hausgenossen Hylas brüderlich zugetan, gravitätisch wie ein Hidalgo Calderons, aber mit einem unausrottbaren Diebssinn behaftet. Solange bloß die Suppe auf dem Tische stand – Suppen behandelte Don Murr mit souveräner Verachtung – saß das Tier ganz ruhig und manierlich zwischen Hildegard und mir auf der Bank. Sobald aber das Fleisch kam, schlich sich unversehens eine der katerlichen Pfoten am Tischrand herauf und ein bald mehr, bald weniger unverschämtes Gehäkel bedrohte den Inhalt unserer Teller. Beachtete man diese Demonstration nicht, so stieß Don Murr ein paar mürrische Mau, Mau als indianischen Kriegsruf aus, und wollte man auch das nicht verstehen, so erfolgte ein offener Angriff.

»Was, schon wieder?« rief dann der Vater aus. »Wart, Murissime! Was, ein wissenschaftlich gebildetes Vieh wie du und stehlen! Da nimm dir den alten Hylas zum Muster, der geduldig wartend dasitzt, eine hündische Statue menschlicher, nein, unmenschlicher, übermenschlicher Bescheidenheit. Holla, Hildegard, nimm deinen Teller in acht! Hat man denn gar nie Ruhe vor der verdammten Bestie? Jetzt will ich sie aber beim Essen gewiß nie wieder im Zimmer haben. Fort damit!«

»Aber, lieber Alter,« sagte meine Mutter, »das Essen schmeckt dir ja nicht, wenn dein wissenschaftlich gebildetes Katervieh nicht dabei ist.«

»Warum nicht gar! Was ist das wieder für ein Einfall? Man dichtet mir doch wunderliches Zeug an!«

»Behüte Gott, lieber Fritz. Du kannst recht wohl ohne den ewigen Störenfried sein. Schaff ihn hinaus, Michel.«

»Ja, tu das, Michel, das heißt, da er nun doch einmal da ist, so gebt ihm 'was unter den Tisch. Tiere wollen auch leben, Gertrud, weißt du? Aber von heut' an soll er während des Mittagessens ins Exil geschickt werden.«

Dazu lächelte dann meine Mutter, und wenn sie sich am folgenden Tage den Spaß machte, Don Murr vor dem Essen aus dem Zimmer zu entfernen, so traf regelmäßig ein, was wir alle erwartet hatten. Der Vater setzte sich, legte die Serviette über die Schenkel und tätschelte mit der linken den Kopf des würdigen Hylas, der unwankbar seinen Posten neben dem Stuhle seines Herrn einnahm. Dann griff der Vater zum Löffel, aß aber nicht, sondern gab allerlei Zeichen von Unbehaglichkeit, bis er endlich fragte: »Aber wo ist denn Sennor Murr?« Auf dieses Stichwort hin eilte meine Schwester oder ich, die Türe zu öffnen, und herein schoß das wissenschaftlich gebildete Vieh, den mächtigen Schweif bolzgerade in die Höhe gestellt und ein langgezogenes Miau des Triumphes ausstoßend.

Die Tierliebhaberei meines Vaters war nur ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Er aber behauptete umgekehrt, Liebe zu den Tieren mache den Menschen mild und gütig. Natürlich konnte es nicht fehlen, daß wir Kinder seine Liebhaberei teilten, und so hatten denn die Mutter und unsere zwei alten Mägde ihre liebe Not mit der bunten Menagerie, die sich in unserem Hause ansammelte. Nur die kriechenden Bestien waren ausgeschlossen, denn mein Vater konnte sie so wenig leiden wie die kriechenden Menschen. Und doch verabreichte er mir eines Tages eine unvergeßliche Ohrfeige, da ich als kleiner Bube eine harmlose Blindschleiche mutwillig zertrat. Er lehrte uns auch seine mannigfaltigen Tierzähmungskünste, allein ich profitierte von diesem Unterricht lange nicht soviel wie mein Freund Fabian, welcher, wie der geneigte Leser seines Ortes sehen wird, später Tierliebhaberei und Tierzähmung ins Große trieb.

Aber nicht allein gegen Tiere war mein Vater gütig und liebevoll, und es half ihm auch gar nichts, daß er, namentlich in späteren Jahren, zuweilen sich einbildete, ein Menschenfeind zu sein, und demnach das Rauhe herauszukehren suchte: die Leute wußten doch, daß der Herr Kons'lent niemals, soweit es überhaupt in seinen Kräften stand, eine gegründete Klage ungestillt lasse. Er war der allgemeine Vertrauensmann der ganzen Gegend, und mit Stolz und Rührung denke ich daran, daß mir später seitens alter Leute in meiner Heimat oft der Ausdruck dankbarer Rückerinnerung begegnete: »O, Herr Helmut, Euer Vater selig, der Herr Kons'lent, das war ein Männle! Der hatte ein Herz für die armen Leute! So einer tut nicht mehr leben. Und Eure Mutter selig, die Frau Gertrud, bei der hatte man eine Zuflucht in allen Nöten. O, Herr Jeremle, wie war die gut und fromm!«

Ja, das war sie. Nie hat sie sich Ruhe gegönnt, solange sie in ihrer Nähe ein Leid wußte, welches sie zu lindern hoffen konnte. Die kleinen Schwächen, die ihr in Stunden anhafteten, welche mein Vater ihre Strickstunden zu nennen pflegte, traten vor ihren edlen und guten Eigenschaften weit zurück. In ihren Strickstunden konnte sie, wie wir sahen, eine energische Disputierlust entwickeln, welche der Vater gewöhnlich dadurch zu parieren suchte, daß er dieselbe mit irgend einer humoristischen Wendung für eine nur seiner eigenen Neigung zu Kontroversen zu Gefallen entfaltete ausgab. Er ließ auch merken, daß er diese Schwäche oder Stärke der Mutter für eine Folge der klösterlichen Erziehung halte; aber gerade hierin widersprach ihm die Mutter am hartnäckigsten. Was, einen solchen Schatten auf die Klöster im allgemeinen und vollends auf das Kloster Gnadenbrunn im besonderen fallen lassen? Nimmermehr!

Der Vater mochte aber nicht so unrecht haben, denn die Nachwirkung der klösterlichen Erziehung auf meine Mutter war jedenfalls eine höchst bedeutende. Hierin hatte auch ihr brennender Wunsch, mich dereinst in Chorhemd und Meßgewand zu sehen, seine Wurzel. Obgleich ihre Frömmigkeit durch Bildung hinlänglich geklärt war, um keine dumpfe zu sein, hatte sie doch eine schwärmerische Vorstellung von der Würde des geistlichen Standes. Die großen Kirchenfeste waren für sie Herzensfeste. Da machte sie sich, zur Winters- wie zur Sommerszeit, vor Tagesanbruch mit Hildegard und mir nach Gnadenbrunn auf, wo sie von den älteren Schwestern mit einer Zärtlichkeit empfangen wurde, deren Fülle zu groß war, um auf eine Person gehäuft werden zu können. Daher bekamen auch Hildegard und ich unseren guten Anteil davon. Wir wurden da immer mit Küssen überhäuft und mit Leckerbissen vollgestopft, namentlich von der jüngsten Freundin meiner Mutter, der Schwester Berta, deren sanftes Madonnengesicht aus dem schneeweißen, wundervoll gefalteten Weihel so rosig hervorblühte. Einmal, am Fronleichnamsfest, als ich aus einem kleinen Jungen allmählich ein größerer geworden war und demnach den Willkommkuß der guten Schwester recht herzhaft erwiderte, zog sie sich hocherrötend zurück und flüsterte meiner Mutter zu: »Ich weiß nicht, Gertrud, dein Bub', der Michel ... er ist seit einem Jahre so gewachsen ...« – »O,« versetzte meine Mutter lächelnd, »mache dir keine Skrupel. Er ist ein Kind, ein pures Kind ...« – »Hm,« dachte ich und streckte mich gewaltig, »hat sich was mit dem puren Kind!« Und Schwester Berta dürfte ebenfalls meiner Ansicht gewesen sein, denn sie hat mich von da an nie wieder geküßt.

Und du, Domine Zipfelius, antediluvianischer Magister und fossiler Philologe, wie oft hast du mich und wie selten hab' ich dich ergötzt! Den letzteren Umstand könnte ich jetzt fast bereuen, denn ich schulde dir Dank, aufrichtigen Dank, armer alter Hairle – aber was hättest du von all meiner Reue? Du bist längst hingegangen, wo die rätselhafte Textausgabe des Menschenlebens ihren befriedigenden Kommentar erhält – oder auch nicht. Aber mag es sich damit so oder so verhalten, dir sei die Erde leicht! Und sie muß es dir sein, denn bei allen Schrullen, die dir eigen waren, ist ein harmloserer Bücherwurm als du niemals durch die Griechen und Römer und Hebräer gekrochen.

Aber ich tue dir noch im Grabe unrecht, guter Domine, indem ich das häßliche Wort kriechen auf dich anwende. Denn, o, du konntest fliegen, konntest dich aufschwingen in die höchsten Regionen klassischer Entzückungen. Hättet ihr ihn nur gesehen, den alten »verhutzelten« Benefiziaten, wenn ihm der ewig edle Wein antiker Poesie zu Kopfe stieg. Da war er gar nicht mehr der grämliche Alte, der menschenscheue Sonderling, da glaubte er an die schönen Götter und an die großen Menschen des Altertums, und wenn er diesen Glauben so recht manifestierte, vergaßen der Fabian und ich sogar seiner Brille und seiner furchtbaren Blicke, die er dahinter hervor oder vielmehr darüber hinweg auf uns zu schießen pflegte, wenn wir uns gegen die Feinheit einer Ciceroschen Periode gleichgültig verhielten oder eine ionische Form mit einer attischen verwechselten.

Sehr oft hatten wir freilich ungeheure Mühe, unsere rebellischen Lachmuskeln zu bändigen, denn der gute Benefiziat hatte das Unglück, gerade in seinen höchsten Aufschwüngen sehr komisch zu erscheinen. Ich muß noch jetzt laut auflachen, wenn ich mir vergegenwärtige, wie der alte Hairle, des Aristophanes »Wolken« mit uns »traktierend«, bei dem Vers:

In Lüften schweb' ich, forschend der Sonne Lauf –

leibhaftig in die Position des Sokrates sich hineinversetzte, und während er mit weit auf die Nasenspitze vorgeschobener Brille in das Buch hineinbohrte, zugleich auf seinem alten Lederstuhl hin und her rutschte und mit den mageren Armen wedelte, als schwebte er wirklich in Lüften. Oder wenn ich daran denke, wie er die Horazsche Ode: »Nunc est bibendum, nunc pede libero pulsanda tellus« heftig deklamierte und in wortgetreuer Befolgung der Aufforderung des Dichters wütend den Boden stampfte, daß dicker Staub aufwirbelte, und dabei, er, der geschworene Wassertrinker, in ein weitläufiges Lob des Feuers und der Blume von altem Falerner und Käkuber ausbrach und zuletzt, wahrscheinlich bemerkend, daß uns das Wasser im Munde zusammenlief, uns plötzlich anschnarrte: »Übrigens, puerculi, wißt ihr, daß der göttliche Pindar gesagt hat: das Beste sei Wasser.« – Spaßhaft war es auch, wenn er bei der schönen Ode: »O, matre pulchra filia pulcherior« die Gegenwart, sich selbst und uns vergessend, lange vor sich hinbrütete, um dann mit weinerlich elegischer Stimme zu rezitieren:

... »Mich auch entstammte
Die Glut der Brust in süßer Jugend«

und schließlich, wahrnehmend, mit wie großen Augen wir ihn anguckten, heftig den Kopf schüttelte, eine furchtbare Prise in seine Nase schob und murrend sagte: »Das ist dummes Zeug, Bursche, purer, blanker Unsinn – proh dolor! Hütet euch vor Allotriis! Die Weibsstücker – in die Gehenna mit ihnen, mit allen!« – Der arme Benefiziat – die »Glut«, welche ihm »in süßer Jugend« die Brust entflammt hatte wie dem unsterblichen Dichter der Philosophie des »Nil admirari!« mußte zweifelsohne in sehr unsanfter Weise gelöscht worden sein – der arme Benefiziat ließ keine Gelegenheit vorübergehen, gegen das schöne Geschlecht loszuziehen, wobei ihm aber doch in seiner Zerstreutheit manchmal eine entgegengesetzte Äußerung entwischte. Als wir eines Tages in der Ilias an die schöne Stelle kamen, wo erzählt wird, wie Priamus


und die anderen greisen Häuptlinge der Troer auf der Turmzinne am skäischen Tore saßen und Helena dahergewandelt kam und die alten Herren bei ihrem Anblick entzückt in die Worte ausbrachen:

»Niemand tadle die Troer und hellumschienten Achaier,
Daß um ein solches Weib sie so lang ausharren im Elend.
Einer unsterblichen Göttin fürwahr ja gleicht sie von Ansehen!«

da wiegte unser Präzeptor sinnend das groteske Haupt und sagte nachdenklich: »Sie muß in der Tat sehr schön gewesen sein, diese Helena, sehr schön – was meint ihr?« ... Aber er ließ uns keine Zeit zum Antworten, sondern sagte, wieder ganz Zipfel, in seinem polterndsten Tone: »Die jämmerlichen alten Narren! Na, das höllische Weibsstück hat ihnen 'ne hübsche Suppe eingebrockt ... Perge im Text, Fabian!«

Als wir nach beendigter Stunde zum Mittagessen heimgingen, sagte ich unterwegs zu meinem Mitschüler, der alte Hairle möge pfuchzen, wie er wolle, die Helena müsse doch ein verflixt schönes Weibsbild gewesen sein. So schöne gebe es wohl gar nicht mehr.

»Das glaub' ich doch nicht,« meinte der Fabian.

»Ah, du glaubst, es gäbe noch solche?«

»Ja.«

»Dann meinst du Isolde.«

»Nein, nicht Isolde.«

»Wen denn?«

»Hildegard.«

»Dummes Zeug! Wo hast du deine Augen? Aber das ist lustig – ich will's dem kleinen Nickel sagen, daß du sie für eine Helena ansiehst.«

»Tu das nicht, Michel,« bat Fabian ängstlich, »tu das nicht! Es könnte Hildegard verdrießen, denn weißt du, die Helena war im Grunde doch ein schlimmes Weibsbild.«

Mein Vater gab dem einseitig klassischen Unterricht des Benefiziaten von zwei Seiten her ein wohltätiges Gegengewicht. Er leistete nämlich meiner erwachenden Neigung, mich mit unseren vaterländischen Altertümern bekannt zu machen, eifrigen Vorschub und regte mich zur Erlernung der modernen Sprachen an, das heißt der englischen und italischen, denn die französische haßte er und ließ es daher mit geheimer Befriedigung geschehen, daß ich sie vernachlässigte. Isoldes Erzieherin erteilte einen ganz leidlich guten Unterricht in den neueren Sprachen, in welchen die Tochter des Freiherrn und meine Schwester schon recht ordentlich Bescheid wußten. Da war es denn erbaulich anzusehen, wie die beiden Mädchen an dem Michel herumkultivierten und sprachmeisterten. Der Michel hätte es wirklich nötig und ließ es sich auch mit ziemlich guter Manier gefallen, besonders von seiten Isoldes. Weniger geduldig nahm ich es hin, wenn auch den Freiherrn zuweilen die Laune anwandelte, mich ein »bißle zu schnitzeln«, wie er sagte. Zwar, solange dieses Schnitzeln sich auf die Disziplinen des Reitens, Fechtens, Jagens und Schießens bezog, war ich sein geduldiger und auch ziemlich gelehriger Schüler; sowie aber der gute Herr darauf ausging, mich zum Adepten seiner keltomanischen Mysterien zu machen, ging mir die Geduld aus, um so mehr, da ich in Nachahmung meines Vaters ein heftiger Germane war. Der Freiherr mochte sich noch so sehr abmühen, mir Interesse an seinen keltischen Kromlechs, Wagsteinen, Dolminen und Kist-ven beizubringen, es ging nicht. Auch die Druiden und sogar die Druidinnen ließen mich kalt, und selbst von dem Waschbecken der Göttin Ceridwen und von dem mythischen Wonneeiland Avalon wollte ich nicht viel wissen. Dagegen entzückten mich die Götter- und Heldensagen der Edda und der Heimskringla, welche mir der Vater dolmetschte, und ich gab natürlich diesem im stillen immer recht, wenn er in hitzigem Disput mit dem Freiherrn die keltischen Hypothesen desselben bekämpfte und schon dem »Steinalter«, dem »Bronzealter« und dem »Eisenalter« unerbittlich den germanischen Charakter vindizierte.

Der Vater und ich hatten auch dem Freiherrn gegenüber ein kleines Geheimnis mitsammen. In der freiherrlichen Sammlung von Altertümern befand sich nämlich als ein hochgeschätztes Prachtstück der Mithrasstein, welchen der Freiherr in der von ihm gefundenen oder erfundenen Mithrashöhle im Weißachforst richtig ausgegraben hatte. In der Tat zeigte dieser Stein, wenn auch nur in roh eingekritzelten Umrissen, die reliefartige Darstellung des Mithrasmythus: den Jüngling Mithras mit der phrygischen Mütze auf einem Stier kniend, welchem er ein Messer in den Hals stößt – bekanntlich die Befruchtung der Erde durch die Sonne symbolisierend. Der Freiherr hatte an diesem Fund eine wahrhaft kindliche Freude, und mein Vater war nicht so grausam, sie zu stören. Aber er konnte nie an dieser Zierde des freiherrlichen Museums vorübergehen, ohne still vor sich hin zu lächeln, und er wußte wohl warum. War er doch, als der Freiherr nicht lange nach jener Morgenbegegnung seinen Fund triumphierend vorwies und ich dabei ein boshaftes Feixen nicht ganz verbergen konnte, so lange in mich gedrungen, bis ich nicht mehr leugnete, welche unsägliche List, Geduld und Mühe ich mir es hatte kosten lassen, um, nachdem ich in der väterlichen Bibliothek ein Mithrasbild aufgestöbert, dasselbe mit äußerster Anspannung meines kleinen Talents zum Zeichnen auf einem gehörig verwittert aussehenden Stein nachzukritzeln, dann die fragliche Mithrashöhle auszukundschaften und in einer Ecke derselben den gloriosen Stein zu vergraben. Ich hatte freilich bei Ablegung dieses Geständnisses die bittere Erfahrung machen müssen, daß ein Betrug mitunter zum Glück des Betrogenen und zu sehr fühlbarem Unglück des Betrügers ausschlagen könne. Aber auch diese Wolke am heiteren Himmel meiner Knabenzeit ging vorüber. Allerdings war ich schon nicht mehr in dem Alter, wo man die Last der großen Sorge, genannt Menschenleben, noch gar nicht auf den Schultern fühlt; aber wenn sie sich dann und wann ankündigte, so übte sie doch nur einen Flaumdruck aus. Wie waren wir vier Kinder, Isolde, Hildegard, Fabian und ich, so glücklich in unserer Freundschaft, unserer harmlosen Fröhlichkeit, in unseren Spielen, sogar in den Mühen des Lernens. Wir hielten zusammen, als müßte es für das ganze Leben so sein, als könnte es gar nie anders werden. Noch nötigte uns nichts, mit unseren Gedanken in der Zukunft zu leben, noch war für uns alles frischlebendige Gegenwart. Das Herz wird mir weit und weich, indem ich dieses schreibe und mich in die Erinnerung an Szenen meines Jugendidylls versenke. Ich sehe mich wieder mit meinen Gefährten durch Feld und Wald streifen, über die Felsen klettern und am Bache hinschlendern, Blumen pflückend, Pickelflöten aus Weidenrinde fertigend, singend, lachend, Geschichten erzählend, tausend Possen treibend. Ich sehe uns auf der Gondel über den Parkweiher hingleiten und sehe uns bei der Mutter Fabians um den weißtannenen Tisch sitzen, mit Kinderappetit die »Sträuble« vertilgend, welche uns die gute Frau zum Namenstag ihres Knaben gebacken. Ich höre noch, wie Isolde fröhlich in die Hände klatschte und ihr Vater ein beifälliges Sternmillionenkreuzdonnerwetter losließ, als es mir zum erstenmal tadellos gelang, auf dem feurigen Schweißfuchs über die Barriere zu setzen, und ich glaube noch in diesem Augenblick zu fühlen, wie laut und stolz mir das Herz an die Rippen pochte, als ich drüben im Jungholz an der Breunighalde an der Seite meines freiherrlichen Gönners meinen ersten Bock schoß, meinen ersten Rehbock, wohlverstanden.

Trotz dieser nicht unglücklichen Versuche in den noblen Passionen und trotzdem, daß mich die gute Schwester Berta droben in Gnadenbrunn nicht mehr küssen wollte, war ich eigentlich noch so ziemlich ein vollkommener Kindskopf. Die reine Atmosphäre, in welcher ich aufgewachsen, hatte meine Seele vor jeder vorzeitigen Trübung bewahrt. Deshalb, lieber Leser, kann ich so heiter und darf ich zugleich so sehnsüchtig mit Rückert sagen:

Aus der Kinderzeit, aus der Kinderzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
Was mein einst war!


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