Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel,

welches so gar nicht romantisch ist, daß Autor fürchtet, es möchte von seinen schönen Leserinnen überschlagen werden.

Als der Dampfer aus dem Hafen strich, fuhr er, eine weite Kurve nach rechtshin beschreibend, am Kipplingschen Garten vorüber. Die Spiegelscheiben des palaisartigen Hauses glänzten hinter den Bäumen hervor und wie meine Augen, so richteten sich auch die anderer Passagiere bewundernd auf das prächtige Besitztum.

Aber war denn in den Prunkgemächern hinter jenen Fenstern das Glück daheim? Schwerlich. Es mußte ein großer Schmerz gewesen sein, welcher Herrn Gottlieb Kippling die Klage ausgepreßt hatte, er sei ein unglücklicher Mann, und das Herz mußte ihm ordentlich in Galle schwimmen, als er seine gewohnte Selbstbeherrschung und Zurückhaltung soweit vergaß, Herrn Bürger zu beglückwünschen, daß dieser noch nicht erfahren, was für ein Segen, das heißt was für ein Fluch Kinder seien. Es ist dafür gesorgt, daß es zuweilen selbst einem verhärtetsten Priester Mammons fühlbar werde, daß es noch Kostbareres gebe als Gold.

Über das Verdeck gehend, erfuhr ich auch, daß, so ungemessenen Respekt die praktischen Schweizer vor dem Reichtum hegen, dieser Respekt dennoch der Kritik nicht immer den Mund verschließe.

Eine Gruppe von älteren und jüngeren Männern stand rauchend in der Nähe des Steuerrades beisammen, und die Katastrophe von Kipplingsruhe bildete den Gegenstand ihrer Unterhaltung.

»Der Herr Oberst,« bemerkte einer, »wird den Schlag, so bedeutend derselbe auch ist, kaum verspüren. Die Hilfsmittel der Firma sind kolossal und ihr Kredit felsenfest.«

»Ja,« versetzte ein alter lebhafter Herr mit weißen Haaren und rotem Gesicht, »so felsenfest, daß selbst die garstige Kohlengeschichte von neulich keine Erschütterung bewerkstelligen konnte.«

»Was wollen Sie, Herr Nationalrat?« entgegnete der erste Sprecher, dem der Spekulant aus den Augen sah. »Der Herr Oberst benutzte eben auch das Eisenbahnfieber. Es nimmt jeder seinen Vorteil wahr wie er kann, und wenn man Fortune machen will, darf man nicht allzu ängstlich sein.« »Nun, bei Gott,« erwiderte der alte Herr, »Ängstlichkeit, wenigstens Ängstlichkeit in Beziehung auf die Moral kann man gar manchem unserer Geschäftsleute nicht vorwerfen. Die Königin Industrie, welche ja unsere republikanischen Einrichtungen mehr und mehr illusorisch macht, lebt neuestens auch bei uns in flottester wilder Ehe mit dem König Schwindel. Aber geben Sie acht, meine Herren, was für eine Brut von Bastarden da von der Bank fallen wird. Es sieht ganz so aus, als ob auch hierzulande, wie das schon in Frankreich der Fall ist, Fortunemachen das höchste, ja einzige Gesetz werden sollte. Als Ergänzung wird man höchstens das sogenannte elfte Gebot substituieren: ›Du sollst dich nicht lassen erwischen‹«.

»Das ist nur zu wahr, Herr Nationalrat,« nahm ein dritter das Wort, welchen die übrigen Herr Sekundarlehrer betitelten. »Man sagt, unser Land könne ohne Industrie schlechterdings nicht mehr existieren, und ich gebe das zu. Aber was ich nicht zugebe und was, denke ich, kein redlicher Patriot zugeben wird, ist, daß unsere Industrie nur dazu da sei, ein paar Dutzend Fabrikherren zu Geldkönigen und Tausende und wieder Tausende unserer Mitbürger zu physisch und moralisch ruinierten Fabriksklaven zu machen.«

»Das ist übertrieben! Unpraktisches Zeug! Sozialistische Wühlerei!« bemerkte der Spekulant.

»Ja, so tönt die Orgelei, sobald man auf diesen Krebsschaden hindeutet,« entgegnete der Schulmann lebhaft. »Man muß nur wissen, wie es in vielen Fabriken hergeht. Aber davon wollen unsere Fabrikherren, die in der obersten Behörde sitzen, freilich nichts wissen.«

»Aber warum wählt denn das Volk gerade solche Herren zu seinen Vertretern und Gesetzmachern?« fragte ein vierter. »Warum?« erwiderte der Schulmann. »Ei, du lieber Gott! Als ob unter unserer Fabrikbevölkerung von einem freien Wahlrecht auch nur im entferntesten die Rede sein könnte. Der Fabrikler muß wählen, wie sein Arbeitgeber will, und überhaupt müßte es ja mit einem Wunder zugehen, wenn unter Leuten, die von Jugend auf jahraus jahrein von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr in dem Dunst und Qualm der Fabriken arbeiten und unter Maschinen selbst zu Maschinen werden, ein freies Bürgerbewußtsein sich entwickeln könnte. Da entwickelt sich höchstens tierischer Servilismus, welcher dann zuzeiten in tierischen Ingrimm und wilde Rachsucht umschlägt. Der Herr Oberst Kippling hat das gestern auch erfahren.«

»In der Tat,« sagte der alte Herr, »man hörte schon seit Jahren, daß zu Kipplingsruhe mit unmenschlicher Härte verfahren werde, und insbesondere soll der junge Herr Kippling ein überstrenges Regiment geführt haben, während er sich selber gegenüber den Arbeiterinnen jede frechste Ausschreitung gestattete.«

»Ich will vom letzteren Punkt gar nicht einmal reden,« bemerkte der Sekundarlehrer; »aber was die unmenschliche Härte betrifft, womit in dem niedergebrannten Etablissement verfahren wurde, so kann ich aus bester Quelle beispielsweise folgende Fälle anführen. Beim Reinigen des im vollen Gange befindlichen Getriebes wurde einem achtzehnjährigen Arbeiter in der Spinnerei der rechte Arm weggerissen. Er mußte im Hospital amputiert werden. Als einige Tage darauf der ebenfalls in der Fabrik beschäftigte Vater des Unglücklichen, um diesen auf seinem Schmerzenslager zu besuchen, Urlaub verlangte, wurde ihm dieser nicht bloß verweigert, sondern der Bittsteller wurde sofort aus Arbeit und Brot entlassen. Man opferte also den Vater, um jedes Opfers für den Sohn ledig zu sein. Einem Mädchen wurde in der Fabrik des Millionärs die Hand verstümmelt. Man bezahlte ihm die Kurkosten unter der Bedingung, daß es sie nachher abverdiene. Einem Arbeiter wurde durch eine Maschine der Fuß zu Müll gerieben. Im Hospital erzählte der Unglückliche, der junge Herr habe ihm seine Teilnahme dadurch bezeigt, daß er sagte, es sei ihm recht geschehen, er hätte sich ja besser in acht nehmen können.«

So ging das Register der Barbarei noch eine gute Weile fort. Aber ich hatte an dem Gehörten genug und begab mich auf die andere Seite des Verdecks, um in den wunderschönen Abend hinauszusehen und darob die widerwärtigen Eindrücke loszuwerden, die ich aus dem soeben Vernommenen geschöpft hatte.

Aber es glückte nicht. Zuerst drängte sich mir in ihrer ganzen Bitterkeit die Frage auf, ob es möglich wäre, daß ein Mensch wie dieser Theodor Kippling es wagen dürfte, an Isolde auch nur zu denken. Nein, es konnte nicht sein. Dann nahmen meine Gedanken eine allgemeine Richtung und das schmerzliche Problem, mit dessen Lösung schon soviele redliche Geister und edle Herzen vergebens sich abgemüht, das Problem, ein Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Besitz und Verdienst ausfindig zu machen, drückte mit seiner ganzen Wucht auf mich.

Ich konnte mir, so augenscheinlich mich der Aufenthalt in der Schweiz auch überzeugte, wie gedeihlich freie Institutionen für die allgemeine Wohlfahrt sind, dennoch nicht verhehlen, daß selbst die volksmäßigsten, trefflichsten politischen Einrichtungen nur eine schwache oder gar keine Garantie gegen die Despotie des Industrialismus bieten. Der Name Republikaner ist für Fabriksklaven nur ein bitterer Hohn. Die großen Industriellen und Handelsherren sind zugleich auch die politischen Souveräne des Landes. Sie haben das Wesen der Souveränität, das Volk hat nur den Schein. Wie überall, löst sich demnach auch hier der politische Gegensatz von Freiheit und Knechtschaft in den ökonomischen von Haben und Nichthaben auf. Was dazwischen liegt, ist Nebel und Phrase, und selbst das vernünftigste Staatsprinzip kann vorderhand weiter nichts tun, als möglichst vielen es möglich machen, aus dem Zustand des Nichthabens in den des Habens sich hinüberzuarbeiten.

Die ideellen Aufgaben der Gesellschaft müssen für eine geraume Weile sich bescheiden, zufrieden zu sein, wenn sie nur so unterderhand noch geduldet werden. Haben! Haben! Haben! Das ist der wilde Ruf, welcher über diesen wüsten Wirbel von Spekulation, Agiotage, Schwindel und Maschinengetöse, genannt Gegenwart, hinschallt ... Mir fiel die düstere Prophezeiung ein, welche mein teurer Vater vorzeiten über den Industrialismus ausgesprochen, und ich glaubte die riesenhaften Fledermausflügel des schwarzen Dämons, von welchem er geträumt, mir zur Stunde wieder ob dem Haupte rauschen zu hören wie damals in Kipplingsruhe. Auch eines Gespräches entsann ich mich, welches ich eines Tages in Paris mit einem französischen Gelehrten geführt hatte, dem einzigen Franzosen, zu welchem ich mich jemals freundschaftlich hingezogen fühlte. Wir schlenderten mitsammen über die Boulevards, und vielleicht war es gerade der großstädtische Glanz und Luxus um uns her, was unsere Unterhaltung auf die Schattenseiten des modernen Lebens lenkte. Ich habe nie eine beredtsamere Anklage des Industrialismus gehört als aus dem Munde dieses Mannes. »Die Fabrikarbeit,« hatte er unter anderem geäußert, »vergiftet die Seele und tötet den Leib. Diese unerbittlichen Maschinen mit ihrer grausamen Gemessenheit! Wissen Sie, daß ihre mechanische Härte und Fühllosigkeit sich am Ende auch den Menschen mitteilt, von denen diese eisernen Instrumente bedient werden? Durch die unausgesetzte Wechselwirkung zwischen Maschine und Mensch stumpft sein Herz sich ab und erfrischt sich nicht mehr. In der Tiefe seiner Seele bildet sich ein so instinktartiger Atheismus wie ein Schrei des Schmerzes und der Verdammnis. Er raunt dem Arbeiter Worte voll Haß und Rache zu. Und die Frauen der Arbeiter ihrerseits, sie haben ebenfalls keine religiösen Überzeugungen mehr, sondern nur noch dunkle Gefühle, krankhafte Träume und Phantasiebilder. Drei Hauptelemente lassen sich in dieser von der Industrie erzeugten Korruption unterscheiden: eine furchtbare geistige Roheit, ein blinder und unauslöschlicher Haß gegen die Reichen und eine unsäglich niederträchtige Ehrfurcht vor dem Reichtum. Die Summe dieser Dreizahl ist notwendig eine unerhörte Verdummung der Massen, und diese kann nur die Vorläuferin des entsetzlichsten allgemeinen Verderbnisses sein.«

Mag immerhin mein Gewährsmann von Schwarzseherei nicht ganz freigesprochen werden, soviel ist gewiß, daß die Lage der europäischen Gesellschaft dermalen nichts weniger als tröstlich sich darstellt. Von den großen, politischen, religiösen und sozialen Fragen, deren Lösung das vorige Jahrhundert dem unserigen übermachte, ist nicht eine einzige wirklich gelöst worden. Der alte Hegel hat am Ende doch recht mit seinem grämlichen Worte, daß die Menschen aus der Geschichte nie etwas gelernt haben. Sonst wäre neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, das heißt den geistigen Inhalt einer neuen Zeit in verrottete Formen der Vergangenheit zu zwingen und ihn dadurch versauern zu machen, nicht noch immer die unerquickliche Arbeit derer, welche dermalen die Weltgeschichte fabrizieren, das heißt zu fabrizieren glauben.

Aber die Weltgeschichte wird nicht fabriziert, nicht willkürlich gemacht. Sie ist, wie die Natur, ein Organismus, eine Reihenfolge unbedingt notwendiger Entwickelungsformen, ein geistiger Prozeß, unendlich langsam vorschreitend, aber doch immer vorschreitend, sogar dann, wann er still zu stehen, ja rückwärts zu gehen scheint.

Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, muß man freilich den Blick von der Oberfläche der Erscheinungen ab und der unendlichen inneren Vielheit der Entfaltungen des Lebens zuwenden. In dem rastlosen Entdeckungseifer der Wissenschaft, in dem Aufschwunge der Landwirtschaft, in der riesenhaften Ausdehnung der gewerblichen und kommerziellen Verhältnisse, in der fast märchenhaften Vervollkommnung der Verkehrsmittel liegt eine zwingende Notwendigkeit des Vorschritts, welche aller Maßregelungen mittels Bullen oder Ukasen spottet. Der Geist ist am Ende doch der absoluteste Herrscher und die Manifeste seiner Offenbarungen, die er zum Beispiel durch Fulton und Watt erließ, werden auch dann noch glorreiche Geltung haben, wenn man von besagten Bullen und Ukasen nur noch mit jenem Achselzucken sprechen wird, womit man heutzutage von den Dekreten der Hexenrichter früherer Jahrhunderte spricht.

Die an der Hand der Wissenschaft bewerkstelligten Vorschritte, welche die Mechanik in unseren Tagen gemacht hat, sind an sich ebenso bestaunenswert, als ihr Einfluß auf die künftige Gestaltung der menschlichen Gesellschaft unberechenbar ist. Die Maschinen kommen dem Menschen auf eine Weise und in einer Ausdehnung zu Hilfe, wie unsere Vorfahren es sich nicht träumen lassen konnten. Vielfach ersetzt die Maschine schon geradezu den Menschen, und hier, glaube ich, liegt die Schattenseite der Sache. Die ins Unendliche gehende Vervollkommnung der mechanischen Vorrichtungen setzt eine Menge menschlicher Arbeitskräfte außer Tätigkeit, das kann keinem Zweifel unterliegen. Insbesondere ist das Handwerk in offenbarer Gefahr, von diesen Riesenarmen des Geschwisterpaares Dampf und Mechanik erdrückt zu werden. Betrachte man beispielsweise nur die eine Tatsache, daß eine kleine, von einigen Knaben bediente Maschine, deren Herstellung wenige hundert Gulden kostet, in einem Tage vierhundert und mehr Schraubenmutter mit Gewinden versieht, wie deren ein geschickter und fleißiger Schlosser in der nämlichen Zeit höchstens fünfundzwanzig zu fertigen imstande ist, und man wird schon ans diesem einen Beispiel von Hunderten, von Tausenden die künftige Stellung vieler Handwerke folgern können. Mit der Progression der mechanischen Apparate muß auch das Übel der Übervölkerung progressiv wachsen, es kann nicht anders sein. Wohin also zuletzt mit allen den in Europa überschüssig, das heißt arbeitslos und demzufolge arm und elend werdenden Menschen? Ich bin über die Jahre der sozialistischen Phantasmagorien und Trugschlüsse hinaus und kann daher bescheiden gestehen, daß ich keinen anderen Ausweg anzugeben wüßte als den massenhafter Auswanderung. Der geneigte Leser wird sagen, dieser Vorschlag sei nicht sehr originell, und da hat er ganz recht. Mögen andere originellere bringen, wohl und gut; aber mögen es keine aus Hirngespinsten gewobenen, sondern wirklich ausführbare und zweckdienliche sein! Mir jedoch will inzwischen noch scheinen, die Natur habe nicht umsonst in Amerika, Asien und Australien, ja sogar da und dort – wenn auch hier in bescheidenerem Maße – in Europa selbst mit vorsorglicher Hand unermeßliche Länderstrecken bereitet, in welche die übervölkerten Länder unseres Erdteils die Überzahl ihrer Millionen ausströmen können.


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