Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Achtes Kapitel.

Bertholds und Julies Glückwünsche.– Ein Sonnenaufgang und ein plötzlich sprudelnder Herzensquell. – Religionsgespräch., – Eine Lösung. – Der Tote auf dem Gletscher. – Der Tod sühnt alles.

»Ich habe endlich das Gleichgewicht meines Lebens gefunden« – schrieb ich folgenden Tages an Freund Fabian – »Isolde ist mir verlobt, und nun soll die Gründung von Herd und Heim nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich fühle mich glücklich, sehr glücklich.«

Isolde war es auch, und wir hüteten den Schatz unseres jungen Glückes mit Bedacht vor profanen Blicken.

Wenigstens glaubten wir so zu tun; aber es ist eine alte Geschichte, daß Liebende gar nicht merken, wie sehr sie sich verraten. Es mußte wohl auch bei uns beiden so sein. Denn Herrn Kipplings forschende Blicke wurden immer scheeler, allein dabei ließ er es Isolden und mir gegenüber bewenden. Er mochte sich aus früherer Zeit erinnern, daß ich unter Umständen nicht viel Umstände mache. Berthold achtete wenig oder gar nicht auf das, was um ihn her vorging. Nur wich er seinem Quälgeist, Herrn Kippling aus, wo er immer konnte, indem er bei Tage weite einsame Streifereien in den Bergen machte und sich abends sehr zeitig auf sein Zimmer zurückzog, um dort, wie ich zufällig bemerkt hatte, seine Behauptung, daß der Veltliner des Großoheims sehr trinkbar sei, durch die Tat zu bewähren. Sei es aber, daß Herr Kippling ihn aufmerksam gemacht hatte, sei es aus eigenem Antrieb, eines Morgens, als er eine Weile mit mir in der alten Halle allein war, sagte er, aus seinem finsteren Hinbrüten aufsehend, plötzlich zu mir:

»Lieber Michel, ich weiß, du bist mit Isolde einig. Ich sah den Trauring deiner guten Mutter an der Hand meiner Schwester ... Wenn mich noch etwas freuen könnte, so wär' es das. Seid glücklich, recht glücklich mitsammen.«

»Wir würden es sein, Berthold, wir würden es sein, wäre nur nicht die quälende Sorge um dich.«

»Um mich? Ihr sollt euch nicht um mich sorgen, ihr sollt mich nur vergessen. Vergessen sein, von euch, von allen – weiter habe ich keinen Wunsch mehr.«

Herrn Kipplings Eintritt unterbrach das Gespräch. Dann kamen auch die beiden Mädchen. Julie zog mich beiseite und sagte mit ungewöhnlicher Herzlichkeit:

»Ich gratuliere Ihnen von ganzer Seele, teurer Freund. Ihre Braut hat nicht geplaudert, aber sie kann sich nicht verstellen ... Sehen Sie, daß ich recht hatte, als ich Ihnen sagte, daß Sie Isolde und nur Isolde liebten? Das wenigstens hätte sich gut gefügt. Wollte der Himmel, auch die anderen Wirrsale, die uns umgeben, fänden irgend eine Lösung. Diese Ungewißheit, dieses Dunkel wird allmählich unerträglich. Zum Glück hatte der Umgang mit diesem rein und reich besaiteten Herzen, der Umgang mit Isolden klärend und beruhigend auf mich gewirkt. Es hat sich in diesen Tagen vieles in mir gelöst und gehellt. Diese Alpenfahrt war also doch nicht unfruchtbar, wenn ich mir auch gestehen muß, daß der Hauptzweck derselben unerreicht blieb. Ich sage es mit Schmerz, der arme Berthold ist ein verlorener Mann. Er sucht Betäubung im Wein und – seine schreckliche Krankheit, die denn doch etwas anderes in einem Byronschen Gedicht und etwas anderes in der Wirklichkeit ist, hat sich, wie ich weiß, seit unserem Hiersein schon zweimal wieder gezeigt. Mein Laratraum ist, fürchte ich, ausgeträumt ... Aber Isolde hat mich Fassung und Resignation gelehrt, so fremd Ihnen auch diese Worte in meinem Munde vorkommen mögen. O, sie ist rein, schuldlos und idealisch gestimmt wie ein Kind und doch klar und verständig wie ein Weiser. Sie hat mir zuerst gezeigt, was edle Weiblichkeit ist. An ihr ist nichts Gemachtes, sondern alles quillende Natur und durch Studium und Nachdenken erhöhter Seelenadel. Wer könnte ihrem stillen Einfluß widerstehen? Haben Sie nicht bemerkt, wie sie den frechsten aller Menschen, meinen Bruder, schon durch ihre bloße Erscheinung eingeschüchtert? Sie gemahnt an die Prinzessin in Goethes Tasso; aber was sie vor dieser voraus hat, ist ihr reiches, warmes Herz. Nochmals, ich wünsche Ihnen von ganzer Seele Glück. Doch das müssen Sie mir versprechen, über der geliebten Isolde die Freundin Julie nicht ganz zu vergessen.«

»Wie könnt' ich das, Fräulein?«

»Nennen Sie, ich bitte – nennen Sie mich schlechtweg Julie, wie ich Sie Michel nennen will. Ich bin meine Kapricen noch nicht ganz los und habe die Kaprice, die traulichere Anrede für eine Garantie Ihrer Freundschaft anzusehen.«

So vergingen mehrere Tage. Wir drei, Isolde, Julie und ich, waren alle die Zeit fast immer beisammen, und mich freute es, zu sehen, daß die beiden Mädchen vertraut wurden wie Schwestern.

Auf den Sonntagsmorgen hatten wir verabredet, von dem Altan vor Isoldes Zimmer aus den Aufgang der Sonne über die prächtige Bergwelt zu betrachten.

Mit einem Gefühle von Andacht harrten wir dem majestätischen Schauspiel entgegen. Wie Herolde in leuchtenden Purpurmänteln, verkündigten die erglühenden Gipfel des Bernina die Erscheinung der großen Königin des Tages. Wundersam war es zu sehen, wie droben schon alles Glanz und Glut war, während auf den Tälern drunten noch die fahle Dämmerung lag. Nun aber schwebte im Osten die Feuerkugel höher und höher herauf, ihr Rot wurde Gold und allmählich strömte sie die unermeßliche Flut dieses Goldes über Höhen und Tiefen, Firne und Gletscher, über Berg und Tal hin, bis endlich Himmel und Erde voll waren von Licht und Glorie.

Julies Augen wurden feucht, Isoldes Lippen regten sich leise, wie betend. Sie holte zur Morgenfeier aus ihrem Zimmer ein Buch und las uns daraus jenen unvergleichlich schönen Hymnus, in welchem der englische Dichter Coleridge die Gefühle ausströmte, die ihn bestürmten, als er im Chamounital die Sonne über dem Montblanc aufgehen sah.

Ich kenne wenige Gedichte, welche die Seele so unwiderstehlich ergreifen wie dieses. Und auch wir standen ja mitten in Umgebungen wie jene, welche den Dichter begeistert hatten. Er beschreibt, wie seine Seele mit dem Morgenstern erwacht, wie sie in der Betrachtung der allmählich sich hellenden Alpenwunderwelt um ihn her höher und höher strebt, bis sie endlich auf Andachtsfittichen adlergleich über der erhabenen Szene schwebt. Dichtung und Wirklichkeit ging uns in eins, auf, als Isolde mit ihrer guten, lieben, jetzt vom Enthusiasmus der Stunde getragenen Stimme die prachtvolle Schlußapostrophe des Hymnus las:

»Und du auch, greiser Berg, mit deinen Gipfeln
Zum Himmel starrend, von dess' Wänden oft
Sich die Lawine donnernd niederstürzt,
Die reine, heitre Luft durchblitzend, fallend
Tief in die Wollen, die um deine Brust –
Auch du, o riesenhafter Berg, auch du,
Der, während ich mein Haupt, das ich in Andacht
Gesenkt, jetzt wieder hebe, uno von deinem
Fuß mit dem tränenfeuchten Auge langsam
Aufsteige – scheinst wie eine dunst'ge Wolke
Dich feierlich vor mir emporzuheben –
Zu steigen, höher, immer mehr zu steigen
Wie eine Weihrauchwolke von der Erde.
Du Königsgeist, der unter Bergen thront,
Gesandter du der Erde an den Himmel,
Du großer Hierarch, dem stillen Äther,
Den Sternen sag's und der aufglühnden Sonne:
Mit tausend Stimmen lobt die Erde Gott!«

Julie warf sich, tief erschüttert, an die Brust der Freundin und küßte innig ihre Stirne.

»O,« rief,sie aus, »o Isolde, teures Herz, wie dank' ich dir! Nicht genug, daß du mich Resignation gelehrt hast, du lehrst mich auch wieder glauben und hoffen ... O, mein Gott, wie schön ist deine Welt, die dich mit tausend Stimmen lobt! Laß auch das Stammeln der meinen dir gefallen!«

Isolde, selber schön erregt, aber nach ihrer Art milder und gefaßter, küßte der Erschütterten die stürzenden Tränen von den Wangen und sprach liebevolle Worte zu ihr.

Jahre lang magst du in dürrer Felsengegend nach einem Bronnen schürfen, und doch genügt zuletzt ein Hammerschlag an der rechten Stelle, daß der lauterste Quell dir entgegensprudle. So gibt es auch im Menschenherzen tiefgeheime Adern des Gefühls. Ein gutes Wort zur rechten Stunde gesprochen, kann sie rieseln und rinnen machen. Aber oft, viel zu oft geht ein Menschenleben hin, ohne daß das bannlösende Wort gesprochen wird.

... Ich wartete ruhig, bis die hochgehenden Wogen stürmischer Empfindungen sich wieder gelegt hatten, und erinnerte dann, die Wiederkehr leidenschaftlicher Erregung von Julies Gemüt zu verhüten, die Freundinnen an mein Versprechen, ihnen die Frohdorfer Geschichte vom Jages und vom Vefele zu erzählen. Wir nahmen in Isoldes Zimmer Platz und, durch die geöffnete Balkontüre die Berninaherrlichkeit vor mir, begann ich meine Erzählung.

Es gingen ein Paar Stunden darüber hin, und als ich geschlossen hatte, sagte Isolde:

»Da sieht man doch wieder, was ein wahrhaft guter Mensch, wie unser Fabian einer ist, unter den mißlichsten, ja verzweifelten Umständen Gutes wirken kann. Die Art und Weise, wie der treffliche Freund gegenüber dem von plötzlich in ihm ausgestandener Gewissenspein gefolterten Bronnenbauer sein Priesteramt verwaltete, erscheint mir in ihrer einfachen Milde wahrhaft erhaben. Immer ist mir vorgekommen, daß es besser um die Menschheit stünde, hätten die Priester nicht allzuoft vergessen und vergessen gemacht, daß Versöhnung die Grundidee aller Religion ist.«

Julie saß nachdenklich, nachdenklicher, als ich sie je gesehen hatte. Endlich äußerte sie:

»Wenn ich Ihre Geschichte recht verstanden habe, teurer Freund, so ist ihre Moral die, daß es im Bewußtsein des Volkes noch göttliche Mächte gibt, welche mächtiger sind als Gott Mammon, dem die sogenannte gebildete Gesellschaft dermalen so eifrig dient. Aber ich kann in religiösen Sachen kaum mitsprechen. Hätte ich meine Mutter nicht so früh verloren, so würde diese Seite meiner Erziehung nicht so vernachlässigt worden sein, wie sie es wurde. Was reichte man meinem Gemüt für religiöse Nahrung, dogmatische Steine, die ich unverdaut wieder auswarf, sobald ich die Freiheit dazu hatte.«

»Ja, das ist eben der Jammer,« sagte ich, »und das macht die sogenannte Frömmigkeit der Frauen der höheren Stände durchschnittlich so schal und unersprießlich. Die Religiosität von neunundneunzig unter einem Hundert derselben ist rein nur äußerlich und ganz gedankenlos, nur ein mechanisches Hinnehmen von mechanisch Gegebenem. Es liegt ein tiefer Sinn in dem biblischen Mythus, welcher erzählt, wie Erzvater Jakob mit Gott gerungen hat. Jeder Mensch, welcher über den Zustand naiver Gläubigkeit hinaus ist, muß mit seinem Gotte ringen, muß ihn erringen, um ihn zu besitzen. Nur was man erworben hat, besitzt man. Das Volk bedarf dieses Prozesses nicht, weil sein religiöses Bewußtsein ein primitives, ein naives ist und bleibt. Nur die Dialektik des Verstandes kennt den Zweifel. Es ist Torheit, zu fordern, daß das Volk den dialektischen Prozeß durchmache welchen jeder Gebildete, wenn er wirklich ein solcher ist, durchmachen muß, und Wahnsinn ist es, das Volk religionslos machen zu wollen. Das hieße der Seele des Volkes geradezu den Odem entziehen.«

»Und doch,« versetzte Julie, »wird, soviel ich weiß, dieser Wahnsinn gegenwärtig so recht mit Methode getrieben.«

»Was tut das?« bemerkte Isolde. »Es hat nie ein religionsloses Volk gegeben und wird nie ein solches geben bis an das Ende der Tage. Ich habe mir diese Überzeugung gebildet, wenn ich an den langen einsamen Winterabenden zu Lindach mich mit Büchern beschäftigte, die vielleicht über den Horizont meines Geschlechtes hinausliegen. Der, wie mir scheint, redlichste unserer modernen Denker, ein Mann, dessen Stirne vom Schweiß des rastlos arbeitenden Gedankens betaut ist, hat gesagt, die Götter seien nur die gegenständlich gewordenen Wünsche der Menschen; der Gott sei der idealisierte, der verklärte Mensch. Aber leugnet diese Umkehrung des biblischen Satzes, daß Gott nach seinem Bilde den Menschen geschaffen, etwa die unzertrennliche Verknüpfung der Gottesidee mit der Idee des Menschen, leugnet sie die Notwendigkeit der Religion? Ich glaube nicht. Wenn Furcht und Hoffnung die Quelle des religiösen Glaubens sind, wohlan, diese Quelle wird nie versiegen, solange es Menschen gibt. Wie abgetragene Hüllen legt die religiöse Idee im Vorschritte der Geschichte Dogmen und Kulte beiseite, aber sie selbst ist ewig: die Formen wechseln, das Wesen bleibt. Die Idee von Gott der sublimierte Reflex der Idee vom Menschen? Es sei. Denn auch so ist – fühle ich – das Gottesbewußtsein das zusammenhaltende Band, welches die Menschheit vor atomistischer Zerbröckelung bewahrt, der Polarstern, auf welchen der Mensch sein Seelenauge richten muß, damit er, der unfaßbar kleine Bruchteil des im Weltozean schwimmenden Wassertropfens, genannt Erde, nicht in dieser Unermeßlichkeit schwindelnd sich verliere ... Wenn die Gottheit das Ideal der Menschheit ist, muß da nicht das Idealische in uns diesem höchsten Ideal sehnsüchtig zustreben, und muß da nicht der wahrhaft gebildete Mensch gerade als solcher nur um so religiöser und frommer sein? Der Atheismus, der Abfall vom Ideal, ist unfromm, das heißt liebeleer. Er wird daher nie eine weltgeschichtliche, Menschengeschick bestimmende Tat vollbringen. Wer nicht mehr glauben kann an alles Große und Schöne, an den Vorschritt im riesenhaften Entwickelungsprozeß der Weltgeschichte, an die schöne grüne Erde hier unten, an die ewigen Gestirne droben, an sich selbst, an die Menschen, an die Gottesidee, in welcher als in einer geistigen Sonne alle Strahlen des ideellen Lebens zusammenlaufen, der ist tot –«

»Tot!« echote unterbrechend eine schrille Stimme in unserem Rücken.

Wir hatten, dem Gedankengange Isoldes folgend, nicht beachtet, daß die auf den Korridor hinausgehende Türe geöffnet worden war. Mißmutig über die unwillkommene Störung wandte ich mich um.

In der Türöffnung stand der alte Hofmeister, in den mumienhaften Zügen ein Leben jähen Entsetzens, welches zu der Possierlichkeit seiner Rokokotoilette einen grellen Gegensatz bildete.

Etikette, Förmlichkeiten und Redensarten vergessend, schrie er mit seiner dünnen Falsettstimme in das Gemach herein:

»Der junge Freiherr liegt zerschmettert auf dem Gletscher!«

So hatte denn eine unglückselige Verwickelung die schrecklichste Lösung gefunden.

Ich weiß mich aber der Einzelheiten jener trüben Stunden nicht ganz deutlich zu erinnern. Es ging gar zu verworren her auf der roten Fluh, und ohnehin vermag ja nur die Malerei oder die Schauspielkunst derartige Überraschungen zu veranschaulichen.

Sennen, welche ins Dorf hinauf zur Kirche wollten und, um ihren Weg zu kürzen, statt um den vor der roten Fluh liegenden Hügel herum, über den Gletscherarm gingen, über welchem die Klippe aufragt, hatten den Toten gefunden. Er war schon starr und kalt. Er mußte nächtlicherweile, wahrscheinlich schon früh in der Nacht, von der Mauerzinne gestürzt sein, welche den Bogen des Burgtors bekrönte. Wenn man von drunten die schwindelnde Höhe bemaß, konnte man annehmen, daß schon der Luftdruck den Unglücklichen während seines Sturzes getötet haben müsse, oder wenigstens, daß er es nicht mehr empfunden habe, als der Felszacken, auf welchem der Körper aufgeschlagen, ihm das Rückgrat brach.

War da ein Selbstmord geschehen? Hatte der an Lebensmut und Hoffnung gänzlich Verarmte sein qualvolles Dasein freiwillig in den Abgrund geworfen?

Ich' glaubte es nicht und glaube es jetzt noch nicht. Julie hatte, wie erwähnt worden, angedeutet, daß Anfälle, wie ich Berthold von einem solchen in jener Nacht im Tempel Mammons befallen gesehen hatte, auch während seines Aufenthalts auf der roten Fluh vorgekommen seien. Der Mondsüchtige, welcher sein unheimliches Übel durch übermäßigen Weingenuß sicherlich nur noch mehr gereizt hatte, mußte in seinem Schlafwandel auf den Burghof geraten und von da zur Torzinne emporgeklettert sein. Sei es, daß der Schlafwandelnde dort auf seinem schwindelnden Wege ausgeglitten, sei es, daß der plötzliche Schrecken des Erwachens seine Füße ihren Halt verlieren gemacht, genug, es konnte diese Erklärung der Katastrophe als die einfachste und wahrscheinlichste gelten.

Ich war, so schnell meine Füße mich trugen, in die Schlucht hinabgeeilt und ließ den Toten durch die um denselben versammelt gebliebenen Sennen zur Burg hinauftragen. Als die Bahre mit der traurigen Last auf dem Burghofe niedergesetzt wurde, kamen Isolde und Julie heraus, während Herr Theodor Kippling, welchem dieser Todesfall das schlau gewobene Netz einer großen Spekulation zerriß, scheu in der Ferne stehen blieb.

Vergebens winkte ich die Mädchen zurück.

Isolde rang die Hände. Niemals hatte ich sie so fassungslos gesehen, und nie wieder sah ich sie so.

Julie zog leise das Tuch weg, womit ich das Antlitz des Toten verhüllt hatte. Es war unverletzt und zeigte eine Ruhe, einen Frieden, wie er diesen Zügen seit vielen Jahren fremd gewesen.

Isolde warf sich an der Bahre nieder. Ihre Augen waren trocken, brennend. Mit brennenden Liftpen beugte sie sich über den toten Bruder, fuhr aber entsetzt zurück und kehrte ihr Auge wie hilfesuchend nach mir.

»Michel«, flüsterte sie zitternd, »es ist schrecklich! Ich vermag die Stirne von meiner Mutter Sohn nicht zu küssen, seine Hand nicht zu berühren ... Siehst du nicht? Es klebt Blut daran – o, und wessen Blut!«

»Bringen Sie Ihre Verlobte hinweg, Michel,« sagte Julie leise. »Sie redet irre.«

»Nein, nein,« schrie Isolde auf. »Aber der Tod sühnt alles, alles! O, Berthold, mein armer unglücklicher Bruder, Friede sei mit dir!«

Und von einem edlen Impulse, getrieben, schlang sie die Arme um den Toten, küßte ihm Stirne und Mund und badete sein Antlitz mit ihren Zähren.

Mit sanfter Gewalt machte ich sie von dem toten Bruder los und führte sie hinweg, wahrend Julie dem Leichnam fromm die Augen zudrückte.

In jener Stunde brach die in ihren Tiefen erschütterte Seele Isoldes ein jahrelang qualvoll bewahrtes Schweigen und offenbarte mir ein schreckliches Geheimnis.

Aber ich habe auch jetzt noch kein Recht, darüber zu verfügen. Mag es mit dem Toten in Frieden ruhen! Der Tod sühnt alles.


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