Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel

Fiasko eines pastorlichen Reformators. – Ein bäuerisches Bravourstück. – In einer Hütte. – Ob die Armut poetisch? – Ein sehr ländliches Blumenbrett und welche Philosophie der Blumenpflege sich an dasselbe knüpft.

Als wir am Fuße der Hügel im Schatten des Waldsaumes hinwandelten, um auf einem Umwege nach dem Pfarrhofe zurückzukehren, erinnerte ich den Freund an sein Versprechen, mir den Verlauf seiner reformistischen Bestrebungen in seiner Gemeinde zu erzählen.

Fabian kam nur mit Widerwillen darauf zurück und faßte sich sehr kurz. Er hatte versucht, den Geist humaner und werktätiger Liebe, der ihn selber beseelte, auch unter seinen Bauern zu Leben und Wirksamkeit zu bringen, war jedoch durch diese Bemühungen, obgleich oder vielleicht weil seine Lehren fortwährend durch die Tat bekräftigend, bei seinen Pfarrkindern fast in den Ruf gekommen, »letz im Kopfe« zu sein. »Denn,« sagte er, »es ist in der menschlichen Gesellschaft so weit gekommen, daß jede natürliche Regung, jede energische Betätigung des in uns brennenden Liebeseifers, jedes rückhaltslose Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit als Narrheit verlästert wird, und wenn selbst, die Gebildeten, freilich meist Verbildeten, sich nicht aus dem Sumpfe der Vorurteile, Ungerechtigkeiten und Lieblosigkeiten herauszuarbeiten vermögen, wie sollte das der Bauer imstande sein? Wie mußte ich mich anstrengen, um ihnen nur verständlich zu machen, was ich wollte: ein Christentum der Tat, nicht nur des gedankenlosen Bekenntnisses des Glaubens! Und als sie anfingen, mich zu begreifen, da hättest du sehen sollen, wie all mein Bemühen in Rat und Tat an diesen im plumpsten und monotonsten Mammonsdienst versteinerten Herzen abprallte. Natürlich wäre es töricht, darüber Zorn zu empfinden. Der deutsche Bauer, der Bauer überhaupt kann seiner ganzen Geschichte zufolge kein anderer sein, als er ist: ein Vergötterer der Materie. Der Bauer betet zu einem Gott, den er sich ganz genau als seinesgleichen vorstellt, als einen reichen Bauer nämlich, sozusagen als den Großbauer par excellence, als den Weltbauer. Daher auch die bäuerische Moral, welche alles, aber auch gar alles und sogar noch etwas mehr für erlaubt hält, was nicht geradenwegs zum Galgen oder ins Zuchthaus führt. Ausnahmen von der Regel gibt es natürlich auch hier, ehrenwerte, sehr ehrenwerte Ausnahmen; aber im allgemeinen ist die Selbstsucht des Bauern eine, wie unser Freund Rumpel sagen würde, wahrhaft pyramidalische, und wenn einfältige Idylliker diesen bäuerischen Egoismus wenigstens als einen naiven zu entschuldigen suchen, so sollten sie einmal betrachten, mit welcher raffinierten Herzlosigkeit und Niederträchtigkeit der reiche Bauer oft gegen die Gemeindearmen verfährt. Man hat unserer Bureaukratie das Schlimmste nachgesagt, und du weißt, wie ich von ihr denke, aber es heißt nur gerecht sein, wenn ich sage, daß ohne den bureaukratischen Zaum oder Sporn, wie du willst, alljährlich Dutzende armer Leute auf dem Lande verhungern würden, und zwar gerade unter reichen Bauernschaften... Doch genug. Erfahrungen, wie sie mir zuteil geworden, machen auch den besten Willen erlahmen. Zudem, weißt du, bin ich weit mehr eine beschauliche als energische Natur. So kam es denn, daß ich mich bald mit Resignation von den verstockten Alten abwandte, und dermalen stehe ich neben meiner Wirksamkeit in der Schule nur noch mit der jüngeren Generation meiner Gemeinde in näherer Verbindung, besonders mittels des Singvereins, welchen ich für die ledigen Burschen und Mädchen gestiftet habe. Zum nicht geringen Ärger und Verdruß der meisten meiner Herren Kollegen in der Umgegend. Sie bezeichnen meine Liederlust, die ich als ein Bildungsmittel ansehe, als grob weltlich und unklerikalisch. Sei es! Sie werden mich nie dazu bringen, ihre Anschauung der meinigen vorzuziehen. Mein Gott ist nun einmal kein furchtbarer, sondern ein milder und freudiger Gott. In der blühenden Rose sehe ich ihn, und in der wogenden Saat, im belebenden Frühlingssäuseln fühle ich ihn, und ich höre ihn im Lerchengeschmetter, das den Tag anjubelt, und im Nachtigallenschlag, der die Nacht mit Wohllaut füllt.«

Unter solchen Berichten und Betrachtungen von seiten meines guten Fabian hatten wir das Tal durchschritten und ein sanft ansteigendes Blachfeld erreicht, auf welchem die Kornernte im vollen Gange war.

»Das ist der Bühel,« bemerkte mein Freund, »außerordentlich fruchtbares Land, welches fast ausschließlich dem Bronnenbauer und seinem Nachbar gehört.« Wir gingen quer durch das Feld, und als wir uns auf der anderen Seite desselben gegen den Fluß hinabwandten, sahen wir einen hochbeladenen Garbenwagen vor uns herfahren, von vier stattlichen Rappen gezogen.

»Das ist des Bronnenbauers Fuhrwerk,« sagte der Pfarrer. »Herrgott, was wäre das für ein Segen, wenn auch nur dieser eine Wagen vor der Hütte eines der Armen, deren Weiber und Kinder du da oben auf dem Bühel Ähren lesen sähest, abgeladen würde!«

Ich beschleunigte meine Schritte, denn ich hatte unter den Knechten, die neben dem Wagen hergingen, um denselben an bedenklichen Stellen mittels langer Gabeln zu stützen, den Jages erkannt und hätte gern mit dem Burschen ein paar Worte sprechen mögen.

Der Wagen war inzwischen langsam die Höhe hinabgefahren und hatte in einen tiefen Hohlweg eingelenkt, der auf die steinerne Brücke zuführte. Wir gingen auf dem Rand dieses Hohlwegs hin, welcher, nur selten der Sonne zugänglich, tief mit Kot bedeckt und an einigen gar zu bodenlosen Stellen mit Knüppeldämmen versehen war. Eben waren wir in gleiche Linie mit dem Wagen gekommen, als dieser plötzlich schwankte und der Bronnenbauer, welcher, das Gespann in eigener Person regierend, hemdärmelig auf dem Sattelgaul saß, einen lauten Fluch ausstieß.

Ein Stück Knüppeldamm war mit dem Handpferd an der Deichsel durchgebrochen und das Tier bis an den Bauch in den Morast versunken, die Deichsel mittels des an seinem Kummet befestigten »Hebkragens« niederreißend und dadurch dem Wagen einen heftigen Stoß versetzend. Demzufolge neigte sich die Last des Wagens auf die rechte Seite und drückte dort durch ihre Wucht den Damm ebenfalls ein. Der Jages und die Knechte konnten dem schwankenden Wagen von der Seite nicht recht beikommen, und so lehnte derselbe seine hohe Garbenbürde halb, umschlagend an den rechten Ranft der Hohlgasse.

Da hätte man nun den Bronnenbauer haselieren und fluchen hören sollen! Erst wandte er sich im Sattel um und goß eine Flut von Schimpfworten über die unschuldigen Knechte aus. Dann tobte er gegen die Pferde, auf welche er in blinder Wut mit umgekehrtem Geißelstecken losschlug. Alles umsonst. Die gepeinigten Tiere wurden nach einigen vergeblichen Anstrengungen störrisch und zogen gar nicht mehr an. Der Bronnenbauer wälzte sich endlich aus dem Sattel und begann sein Treiben und Peitschen von unten herauf. Wieder umsonst. Er vermochte nicht einmal das Handpferd aus dem Morastloche, worein es gefallen, herauszubringen, und die drei übrigen Gäule beantworteten die zweckwidrigen Geißelhiebe ihres Herrn mit wütendem Ausschlagen.

Der Jages, welcher bisher ein untätiger Zuschauer geblieben, wies jetzt die Knechte an, ihre Gabeln zwischen die Wand des Hohlwegs und den Wagen zu stecken und sich derselben, sobald er die Pferde zum Anziehen brächte, mit aller Kraft als Hebstangen zu bedienen. Dann stieg er in den Hohlweg zu seinem Vater hinunter, welchen die zornige Anstrengung ganz atemlos gemacht hatte, und sagte ruhig:

»Laßt's mich mal probieren.«

Brummend trat ihm der Alte die Geißel ab, und mit der Leichtigkeit eines erprobten Reiters schwang sich der junge Mann auf den Sattelgaul, eigentümlich mit der Zunge schnalzend. Die Pferde schienen dies zu verstehen, denn sie spitzten die Ohren und gaben ihr störriges Pruhsten und Stampfen auf. Mit einem einzigen geschickten Griff in den Zügel brachte der Jages das gefallene Pferd wieder aus der Grube. Dann schnalzte er abermals mit der Zunge, rief den Knechten zu: »Fest angestemmt, ihr da hinten!« setzte dem Sattelgaul die Fersen in die Weichen, ließ die Geißel klatschend auf die Vorderpferde fallen und das ganze Viergespann mit einmal in vollen Zug bringend, trieb er es vorwärts und brachte den Wagen, der sich beim ersten Ruck an den angestemmten Gabeln der Knechte wieder aus seiner schiefen Lage aufrichtete, glücklich über die gefährliche Stelle hinaus.

»Brav gemacht, Jages!« rief der Pfarrer in die Hohlgasse hinab. »Das tut dir nicht sobald einer nach.«

»O, 's ist kein Hexenwerk, das!« entgegnete der Jüngling, sein schönes, sonnverbranntes Gesicht zu uns herauskehrend. »Man muß nur d' Gäul' nicht ungäb machen; dann ziehen sie ein' ganzen Berg weg, wenn's sein muß.«

So sprechend stieg er ab und übergab die Geißel wieder seinem Vater, der sofort abermals die Wagenlenkersrolle übernahm, mit den grollend hervorgestoßenen Worten, er werde die »Schindmähren« von stetigen Rappen auf dem nächsten Riedlinger Markt sicherlich verkaufen. Offenbar fühlte sich seine bäuerische Eitelkeit sehr verletzt, daß sein Sohn mit einer Aufgabe, welche er nicht zu lösen verstanden, so rasch und leicht fertig geworden. Er blieb mürrisch auf seinem Gaul sitzen und ließ sich nicht herab, vom Fabian und mir Notiz zu nehmen.

Als die Hohlgasse unfern der Brücke in freies Feld auslief, gesellten wir uns zu dem Jages, der in sich gekehrt hinter dem Garbenwagen herging. Der junge Mann erwiderte des Pfarrers Begrüßung mit soldatischem Anstand, blieb aber schweigsam, bis er sich plötzlich mit den leise gesprochenen Worten an meinen Freund wandte: »Herr Pfarr', ich hätt' 'was Wichtig's mit Ihnen z' reden. Hätten Sie wohl auf den Abend ein bißle Zeit für mich?«

»Freilich, soviel du willst, und ich kann mir leicht einbilden, was dein Anliegen sein wird. Hab' schon mit deiner Ahne und Mutter vorhin darüber geredet.«

»Ei, wie geht's denn der Ahne? Sie hat's heut' nacht arg auf der Brust g'habt. Als ich am Morgen von ihr weg aufs Feld mußt', war's noch nicht viel besser.«

»O, sei ganz unbesorgt, Jages, sie ist schon wieder viel wohler auf.«

Und lächelnd setzte der Pfarrer hinzu:

»Sie hat aber auch eine gar brave und geschickte Wärterin, weißt du?«

Der Jages wurde rot und warf mir einen jener mißtrauischen Seitenblicke zu, die in den Augen der Landleute, wenn sie sich Fremden gegenüber befinden, oft wahrzunehmen sind.

Mein Freund bemerkte es und sagte:

»Brauchst dich vor dem Herrn da nicht zu genieren, Jages, 's ist ein alter, bester Kamerad von mir, der auf deiner Hochzeit tanzen möchte.«

»Da müßte der Herr lange in Frohdorf bleiben,« versetzte der Jüngling finster. Und nach einer Weile fragte er:

»Sagen Sie mir doch, Herr Pfarr', steht wirklich in der Zeitung, daß es bald Krieg geben werde?«

»Warum soll's denn Krieg geben?«

»Darum, weil ich fortmöcht' in den Krieg.«

Er hielt wieder inne. Da er jedoch auf meinem und meines Freundes Gesicht nur herzliche Teilnahme an seinen Verhältnissen und Gefühlen lesen konnte, fuhr er fort:

»Gucken Sie, Herr Pfarr', ich halt's so nicht länger aus. Das wollt' ich Ihnen heut' abend sagen, kann's aber auch jetzt tun, da wir doch mal dran sind. Gucken Sie, fast gar drei Jahr lang bin ich jetzt wie verhext, 's Vefele hat mir's angetan, aber es kann halt auch nichts dafür. Wissen Sie, als ich hab' zur Konskription g'mußt und es verspielt hatt', bin ich Soldat worden, obgleich mich der Vater gern loskauft hätt'. Glaubte, werde mir das Madle beim Militär besser aus'm Sinn schlagen können, 's ging auch erst nicht so übel, als ich in der Residenz zur Garde bin gezogen worden. D' Soldaterei g'fiel mir. Aber in d' Länge ging's halt doch nicht, und wenn sie mich auch wollten zum Obermann machen, 's tat's halt nimmermehr, und so schrieb ich an d' Mutter, daß man mich doch sollt' loskaufen, 's war ahsograd', als müßt' ich beim Exerzieren mei'm Gaul immer d' Sporen geben und was hast was gibst Frohdorf zureiten. Als ich heimkam, meint' ich vor Freud' nur grad' ganz aus'm Häusle z' kommen«, da ich nur 's Vefele wieder z' sehen kriegt'. Aber jetzunder hat sich der Vater immer ärger dahinter g'steckt und tut dem Mädle bei jeder G'legenheit Schand' und Spott an und läßt mir bei Tag und Nacht keine Ruh', darum, daß ich soll 's Luixenbaurs Kätter heiraten. Doch ich tu's halt eineweg nit und, gucken Sie, Herr Pfarr', drum möcht' ich wieder Soldat werden. Aber Krieg sollt's sein, daß ich fortkönnt' und nimmer kommen!«

Der junge Mann hatte die Worte gegen das Ende seiner Rede immer hastiger hervorgestoßen; allein der Ausbruch seines Schmerzes war heute keineswegs ein so weicher wie gestern. Im Gegenteil, sein Ton war zornig und resolut, und sein ganzes Gebaren von heute zeigte mir, daß er nicht zu den Leuten gehörte, welche dem Mißgeschick nur ein unmächtig tränend Auge weisen. Eher schien er mir geneigt, in seinem Trotze gegen das Schicksal vielleicht gar eine gewalttätige Handlung zu begehen. Fabian schien meine Gedanken zu teilen und sah den aufrecht, stramm und trotzig einhergehenden Burschen fast bedenklich an.

Der Garbenwagen war aber inzwischen über die Brücke gelangt und fuhr den Weg hin, welcher links am Flusse hinab nach dem Bronnenhof führte. Es war daher jetzt keine Zeit mehr zum Ratgeben und Beschwichtigen. Der Pfarrer konnte den Jüngling nur noch ermahnen, sich wenigstens die nächsten Tage noch zu gedulden und besonders auch heute abend ruhig und unbefangen sich zu verhalten, und so trennten wir uns.

Nach Tisch nahm der gute Fabian das Zigarrenkistchen unter den Arm und bat seine Mutter, uns den Kaffee in den Garten zu bringen. Unter der Haustüre gab er eins seiner Tierbändigersignale, und alsbald versammelte sich der Teil seiner Menagerie, welcher den Tag über freie Pirsch in Haus und Garten hatte. Diese sehr gemischte Gesellschaft, welche um uns her krabbelte und flatterte, wurde im Garten noch um einen Storch vermehrt, einen gravitätischen alten Herrn, der mit seinem langen Schnabel sehr geschickt die Brocken auffing, welche ihm der Pfarrer hinwarf. Fabian führte wie vormals mein unvergeßlicher Vater in seinen Taschen stets einen Futtervorrat mit sich.

Es saß sich gar heimelig in der Laube von Geißblatt und wilden Reben und mir wurde ganz gemütlich zumute.

Fabian sah mich an, bot mir über den Tisch herüber die Hand und sagte: »Ich weiß, was du denkst!«

»Was?«

»Es sei doch schön, eine Heimat zu haben; so einen Winkel, in welchen man sich hineinducken kann; so eine trauliche Stelle, von welcher man sagen kann: Hier bin ich daheim.«

»Du hast es so ziemlich erraten,« gab ich mit einem leisen Seufzer zur Antwort.

»Gelt, Alterle? Aber warum denkst du nicht daran, dir einen eigenen Herd zu gründen?«

»Weil ich mir vorstelle, daß es sich nur zweisam schön und bequem an demselben sitze.«

»Aha! Aber ist denn gar keine Aussicht vorhanden, diese Vorstellung zu verwirklichen?«

»Für jetzt keine. In ruhigsten Stunden, wo ich ganz mit mir allein bin, ist mir zwar oft ... doch warum von Träumereien reden?«

Der Freund sah mir an, daß ich den Gegenstand weiter zu verfolgen nicht geneigt war, und sagte zu mir nur noch:

»Werde mir nur kein Hagestolz! Alte Junggesellen fallen in der Regel in die Kategorie: unausstehlich.«

Nachdem wir unseren Kaffee getrunken hatten, machten wir einen Gang durch den Garten, dem sich die große Pfarrwiese mit ihren schönen Obstbäumen anschloß, Fabian besichtigte verschiedene derselben, deren Früchte zu den frühreifenden gehörten, und hielt mir bei dieser Gelegenheit eine treffliche Vorlesung über Obstzucht, auf welche er sich sehr gut verstand. So kamen wir ans Ende der Wiese und erblickten jenseits der Umzäunung das ärmliche Häuschen der Hanne, überschattet von den zwei alten Apfelbäumen, welche mir Courage als Hauptstücke im Vermögensinventar seiner Base aufgeführt hatte.

Ich muß bei dieser Gelegenheit sagen, daß ich keineswegs zu denen gehöre, welche die Armut poetisch finden. Rührend wohl, unter Umständen auch erschütternd, aber poetisch? – nein! Die Poesie flügelt den Menschen empor, die Armut drückt ihn zu Boden; sie macht ihn nicht zum Gott, sondern zum Tier, welches um der Stillung seines Hungers willen mit der Gesellschaft einen unaufhörlichen Kampf kämpfen muß. Ich habe in den Behausungen der Bedürftigen und Elenden nie jene lackierte Armut gefunden, von der alberne Poeten faselten und faseln, wohl aber im Gegenteil sehr oft Entblößung und einen alle Sinne beleidigenden Schmutz. Die Ausnahmen sind selten, wo der besonders dem Weibe angeborene Instinkt für Anstand und Sauberkeit von der trostlosen Not und der hoffnungslosen Ergebung in dieselbe nicht völlig verdrängt ist.

Die Behausung der armen Hanne gehörte zu den Ausnahmen, was mich schon um des Vefele willen freute.

Das vermorschte Gattertürchen der Pfarrwiese öffnete sich auf ein paar bemooste Sandsteinstufen, welche zu dem klar daherschießenden Mühlbach niederführten. Wir gingen über den niedrigen Bohlensteg und standen vor der strohbedeckten Hütte, um welche her man keine jener ländlichschändlichen Unflätereien gewahrte, welche einem zwar nicht in den modischen Dorfnovellen, wohl aber in der dörflichen Wirklichkeit nur allzuoft begegnen. Was mir aber besonders wohltat, war ein Blumenständer, welcher vor einer kleinen viereckigen, in Ermangelung eines Fensters bloß mit einem Laden versehenen Öffnung befestigt war, die, wie ich vermutete, die Schlafkammer der alten Hanne und ihrer Tochter mit Licht versah. Dieser Blumenständer bestand freilich nur aus einem alten Brettstück, und die Blumentöpfe waren nur Scherben von unbrauchbar gewordenem Kochgeschirre, aber diesem ärmlichen Apparat zum Trotz prangte und duftete da ein üppiger, augenscheinlich sorgfältig gepflegter Flor von Moosrosen, Levkojen, Reseda und Nelken.

Beiläufig gesagt, lieber Leser, ich habe die Eigenheit, Autoren und Frauen in zwei Klassen einzuteilen. Jene kurzweg in Langweiler und Nichtlangweiler, diese in solche, welche die Blumen lieben und pflegen, und in solche, welchen die Blumen gleichgültig sind. Die letzteren sind mir fatal, und ich traue ihnen nicht viel Gutes zu. Dagegen Frauen und vollends Frauen aus den arbeitenden Klassen, welche die wenigen Augenblicke, die ihnen zum Ausruhen vergönnt sind, dazu verwenden, mit ihren beschwielten Händen die zartesten Kinder der Mutter Erde zu warten, haben in mir jederzeit eine günstige Meinung erweckt, welche nie getäuscht wurde. Bei dem sonstigen Mangel an ästhetischem Sinne, der unser Volk leider allwärts und sogar in Gegenden, wo es die Natur mit großer Körperschönheit ausgestattet hat, durch Beibehaltung oder gar Aneignung der abgeschmacktesten, entstellendsten Tracht an den Tag legt, ist es auch gar nicht so bedeutungslos, ob ein Weib aus dem Volke die Blumen liebe oder nicht. Ich möchte die Blumenpflege den Kunstgenuß der Frauen des Volkes nennen. Derselbe übt auf ihr Seelenleben sicherlich einen heilsamen Einfluß.

Wahrscheinlich kommt diese Behauptung dem geneigten Leser im ersten Augenblick lächerlich vor; ein näheres Zusehen dürfte sie aber rechtfertigen. Zur Bekräftigung erzähle ich, daß ich eine Dorfschöne kannte, welche in der ganzen Gemeinde als unverträglich, »bösmäulig« und händelsüchtig, kurz als ein wahrer »Sadrach« verrufen war, bis sie durch ihre seitens einer Kameradin zufällig in ihr angeregte Blumenliebhaberei nach und nach in eine sanftere Sinnesweise hinübergelejtet wurde, was nicht so unwahrscheinlich erscheinen dürfte, falls man bedenkt, daß die Minuten, welche die Bauernmädchen an ihren Blumenbrettern zubringen, die einzigen Momente stiller Sammlung sind, welche in ihrem Leben vorkommen.

Fabian meinte, er wolle nach dem Star sehen, welchen er dem Courage zum Abrichten gegeben, und öffnete ohne Umstände die Tür des Häuschens, welche bloß mittels einer hölzernen Klinke verschlossen war. Vor Dieben schien man hier durchaus nicht besorgt zu sein, denn mit einem leichten Druck auf das ländliche Schloß von seiten meines Freundes ging die Türe auf und ließ uns in die von ihren Bewohnern verlassene Hütte treten.

Da standen wir denn zunächst in einem kleinen, höhlenartigen Raume, welcher zugleich als Flur und Küche diente. Ein armseliger Herd, eine schmale Reihe von Tongeschirren an der berußten Wand, eine blankgescheuerte Messingpfanne und ein weißgefegter Wasserzuber bildeten die Ausstattung derselben. Zur linken Hand führte von hier ein Ding, welches weit mehr einer Leiter denn einer Treppe glich, in eine Dachkammer, das Nachtquartier des alten Soldaten; rechts öffnete sich eine schmale Türe in die niedrige Wohnstube. In diese getreten, ging mein Freund sogleich auf einen der von geschälten Weidenzweigen geflochtenen Vogelkäfige zu, welcher, gegenüber den zwei kleinen, mit runden Scheiben von grünem erblindetem Glas besetzten Fenstern, an der Wand befestigt waren. Sie bildeten, unter der Aufsicht des Courage, eine Filiale von des Pfarrers Menagerie, und während dieser jetzt den schreienden Star aus seinem Behältnis nahm und zu examinieren begann, schaute ich mich in der Stube um.

Ein alter grüner Kachelofen, daneben eine vorzeiten blau und rot bemalt gewesene Truhe oder, oberländisch gesprochen, Sidel, welche als Schrank und Bank zugleich gebraucht wurde, in der Ecke ein vom Alter geschwärzter Tisch, dessen vierter Fuß abgebrochen und durch einen wahrscheinlich von dem alten Soldaten eingesetzten starken Buchenzweig ersetzt war, in der Tischecke ein großes verrauchtes Kruzifix, mit dem am letzten Palmsonntag geweihten Palmenbüschel, ferner zwei Stühle, deren Beine der ländlichen Etikette gemäß mit einer dünnen, weißen Sandkruste überzogen waren, in einer Wandnische eine Lampe, oder, oberländisch, ein Tigel mit hölzernem Gestelle und blechernem Ölbehältnis nebst »irdenem« Feuerzeug, vor der Sidel ein altväterisches Spinnrad nebst Kunkel: – das war das Mobiliar der Stube, in welcher alles von Armut und Entbehrung, aber auch von einem unter solchen Verhältnissen sehr seltenen Bedürfnis der Ordnung und Sauberkeit zeugte. Alles stand an seinem Platze; Decke und Wände waren »geweißt« und der Boden war mit weißem Sande bestreut. Ich erwähne auch noch zweier Luxusgegenstände, nämlich eines abenteuerlich geschnörkelten Lehnsessels aus dem vorigen Jahrhundert, welcher in dem Ofenwinkel stand, und einer kolorierten Lithographie, die in schwarzem Rahmen zwischen den Fenstern an der Wand hing und den Napoleon darstellte, in grüner Uniform und grauem Überrock auf dem bekannten historischen Schimmel reitend. Der Lehnsessel war, wie mir Fabian mitteilte, von dem Besitzer eines der benachbarten Herrenschlösser, welcher vordem auch Soldat gewesen, an den alten Kriegsknecht geschenkt worden; das Napoleonsbild hatte ihm der Pfarrer, trotzdem dieser keineswegs ein Napoleonverehrer war, gekauft und einrahmen lassen.

Der Star mußte den Unterricht des Courage gut benutzt haben, denn er schrie höchst energisch sein Parbleu und Morbleu, woran der Fabian sein innigstes Ergötzen hatte. Er konnte auch dem Lehrmeister sogleich seine Zufriedenheit ausdrücken, denn der alte Soldat trat gerade in die Stube und brachte sein »Bon soir, Messieurs« so unbefangen vor, als sei er nicht im mindesten überrascht, in Abwesenheit der Hausbewohner fremde Eindringlinge hier zu finden.

»Guten Abend, Alter,« sagte der Pfarrer, den Vogel in seinen Käfig zurückschiebend. »Der Star macht große Fortschritte und ich denke, man kann ihn jetzt bald frei in Haus und Garten umhergehen lassen.«

»Noch nicht, Herr Pfarr', noch nicht, glauben's mir. Ist zwar ein gescheiter Kerl, aber doch noch Rekrut, muß noch 'ne Weile exerziert werden, ehe man ihm traut; sonst desertiert er mit Sack und Pack ... Kenne die Stare, ein schlaues Gesindel, glauben's mir– courage!«

»Magst recht haben, Kamerad,« entgegnete der Pfarrer lächelnd, »ich beuge mich, wie immer, vor deinen kriegerischen Erfahrungen. Aber sag' mir, wo ist deine Base, die Hanne? Ich hätte gern ein Wort von wegen des Vefele mit ihr gesprochen.«

»Wird wohl auf'm Ährenlesen sein, denk' ich. War aber vormittags Ihre Frau Mutter hier, Herr Pfarr', und hat mit meiner Bas' ein langes und breites geredet.«

»Ja, meine Mutter wünscht gleich mir, das Mädchen möchte zu meiner Base nach Dietelhofen gehen.«

»Weiß es, und 's Mädle ist dort gut aufgehoben, mort de ma vie! das muß wahr sein. Kenne Ihre Bas' recht wohl, Herr Pfarr'. Ist ein räsonables Weibsbild und ihr Bauer, auch keiner von den letzten, hört gar z' gern meine Geschichten und steckt mir beim Gehen immer einen Groschen in d' Hand ... gute Leut' das – courage! ... Aber Herr Pfarr', wissen Sie, das Ding, von wegen dess' ich heut morgen bei Ihnen war –«

»Hab' es nicht vergessen, Alter, aber so etwas will reiflich überlegt sein, bevor man es zu Händen nimmt. Und jedenfalls kann es nicht schaden, wenn das Mädchen von hier weg ist.«

»Wohl, aber wird mir halt gar ahndtun nach 'm Vefele.«

»Glaub' es, aber kannst's ja oft besuchen.«

»Freilich, und dann muß sich's wohl schicken, wenn's nur dem Mädle zum besten g'reicht – courage

»Hoffe, es werde dem Vefele wirklich zum besten gereichen, und will deshalb noch heute einen Brief an meine Base schreiben, womit sich 's Vefele morgen früh auf den Weg machen kann. Gefällt es ihr bei meiner Verwandten, so kann sie sogleich dort bleiben, und du bringst ihr dann den Wanderbündel.«

»Gut, ich weiß, Sie meinen's wirklich redlich mit uns und allen Leuten, Herr Pfarr', und darum will ich meiner Bas' und meinem Bäsle zureden und 's Mädle soll morgen nach Dietelhofen gehen ... Und von wegen dessen, was ich Ihnen heut morgen vorgetragen hab' – Sie werden's auch nicht so liegen lassen – courage

Der Alte begleitete uns durch die Küche, wo der Pfarrer unbemerkt, wie er glaubte, ein Stück Geld auf den Herd legte, vor die Hütte bis an den Bach, wo wir ihm Adieu sagten, um nach dem Pfarrhaus zurückzugehen.


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