Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel,

in welchem etwas Sophisterei und viel Moral getrieben wird.

Wären Sie, meine schöne Leserin, und Sie, mein biederer Leser, durch den bisherigen Verlauf meiner Geschichte nicht hinlänglich belehrt worden, daß Sie es mit keinem Romanhelden, sondern mit einem schlichten Menschen zu tun haben, so müßte ich sehr befürchten, daß in diesem Kapitel wiederum eine arge Enttäuschung Ihrer wartete. Denn ein Romanheld müßte nach dem zuletzt gemeldeten Erlebnis von Rechts wegen oder, wenn Sie wollen, von Romanpsychologie wegen jetzt in einen weitläufigen Seelenkampf verfallen, aus welchem er, abermals der Romanpsychologie zufolge, natürlich als sieghafter Tugendheros hervorgehen würde. Alles dieses Schöne wird im Nachstehenden nicht stattfinden, denn ich bin weiter nichts als ein gewissenhafter Selbstbiograph, der gerade als solcher sehr gut weiß, daß er von einem wirklichen Menschen aus Fleisch und Bein, behaftet mit allen Schwächen der menschlichen oder, genauer gesprochen, der männlichen Natur, zu erzählen hat.

Zwar so ganz ohne innern Kampf ging es doch auch nicht ab.

Die Zuschrift von Fräulein Julie hatte mich, wie ich gestehe, im ersten Augenblick sehr angenehm überrascht. Hatte doch das ganze Abenteuer jenes romantische Ichweißnichtwas an sich, welches junge Herzen so leicht höher schlagen macht. Die Wiedererscheinung Julies in meiner Lebenssphäre war wiederum, wie es bei unserem ersten Zusammentreffen gewesen, von einer leidenschaftlichen Aufregung meines ganzen Wesens begleitet. Man braucht das nicht gerade im grobsinnlichen Sinne zu nehmen; aber es wäre Heuchelei, wollte ich sagen, daß etwas wie Sinnlichkeit nicht starken Anteil an dem lebhaften Interesse gehabt hätte, welches mir die originelle, pikantkecke junge Dame einflößte. Allerdings drängte sich mir auch jetzt wieder wie früher schon, stets die Vergleichung Julies mit Isolde auf, und es fiel diese Vergleichung nie zugunsten der ersteren aus; aber – was soll ich viele Worte verschwenden, um andern einen Seelenzwiespalt klar zu machen, der mir selber nie recht klar geworden? – genug, Julies Erscheinung übte auf mich lange eine Wirkung, welche ich eine dämonische nennen möchte, wenn sich mit diesem Worte nicht allzu mystische Vorstellungen verbänden.

Aus der ersten Lesung von Julies Billett folgerte ich nur, daß die junge Dame mich nicht vergessen hätte und Anteil an mir nähme, was doch immerhin eine schöne Tatsache sei. Hinterher kam dann die Kritik und fand an dem Billett sehr viel auszusetzen. Wie unzart die Voraussetzung eines unstatthaften Verhältnisses meiner Person zu Frau Ziegenmilch und wie unzart, um nicht zu sagen wie gemein war diese Voraussetzung ausgedrückt! Durfte ein junges Mädchen so schreiben? Isolde würde nie und nimmer so sich geäußert haben. Wie verschieden, wie grundverschieden war die Vorstellungsweise, die sich in Julies Zeilen aussprach, von der hohen und reinen, allem Gemeinen unzugänglichen Gedankenwelt meiner edlen Jugendgespielin!

Aber die Gegenwart macht ihre Rechte an den Menschen so gebieterisch geltend, daß nur in seltenen Fällen unsere Schwäche dagegen aufkommen kann.

Julie zeigte mir einen Weg, auf welchem ich möglicherweise vorwärts kommen konnte, und ich wollte ja vorwärts kommen. Warum also nicht den Versuch machen?

Ach, es gibt nichts Sophistischeres als die Torheit ober die Leidenschaft des Menschen. Ich schämte mich doch ein wenig, aber freilich nur ein wenig vor mir selbst, wenn mein natürliches Gefühl den Schleier der Sophismen zerriß, womit ich meine lebhafte Neugier, meinen drängenden Wunsch, mehr von Julie zu erfahren und das seltsame Mädchen nicht wieder aus den Augen zu verlieren, zu verhüllen trachtete. Ich zweifelte nicht daran, daß die junge Dame zu Herrn Gottlieb Kippling irgendwie in Beziehung stehen müßte.

Auf der andern Seite, um mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war ich ohnehin schon so halb und halb entschlossen gewesen, mein Geschick nicht länger als eben unumgänglich nötig, an das von Ziegenmilch und Komp. zu knüpfen. Vielleicht, daß dies undankbar von mir gehandelt war, denn mein Herr Prinzipal hatte mir in der Tat großes Wohlwollen erwiesen, und ich glaubte auch annehmen zu dürfen, daß selbst die mir in Aussicht gestellte Associéschaft mehr sei als Humbug. Allein das ganze Geschäft ging mir gegen den Mann. Wie bitter hatte ich die Beschämung empfunden, vor Fräulein Julie stehen zu müssen sozusagen als Mitbeteiligter an einem von der jungen Dame so unverhohlen verhöhnten Schwindel! Und dann war mir der Aufenthalt im Ziegenmilchschen Hause, obgleich ich – weiß der Himmel! – nie auf den Rang eines Tugendhelden Anspruch machte, auch noch aus anderen Ursachen drückend. Wer das Glück gehabt hat, im elterlichen Hause Zeuge eines zugleich heiteren und sittlichen Familienlebens zu sein, wird dieses nie vergessen, über gewisse Dinge nie sich hinwegsetzen können. Das Ziegenmilchsche Haus war nun aber trotz ökonomischen Gedeihens hinter dem Schein bürgerlicher Wohlanständigkeit ein innerlich zerrüttetes. Herr Ziegenmilch vernachlässigte seine Frau, und ich hatte starke Gründe, zu glauben, daß er seine Abende keineswegs nur mit harmlosem Skatspiel, zehn Points zu zwanzig Centimes, ausfüllte. Hätte ich doch keine Augen haben müssen, wollte ich nicht sehen, daß die hübscheren unserer »Ladenjungfern« dem Prinzipal nicht nur offizielle, sondern auch offiziöse Dienste leisten mußten, und ich war nach dieser Richtung hin eines Tages wider Willen Zeuge einer häßlichen Szene, welche sogar die sanfte Frau Lelia in Zornkrämpfe versetzte. Diese, von Natur unzweifelhaft gut und sittsam, war so allmählich in den Gedanken hineingetrieben worden, die ihr widerfahrene Vernachlässigung an ihrem Gatten zu rächen. Ich bin fest überzeugt, nicht zuviel zu sagen, wenn ich bei dieser Gelegenheit behaupte, daß eine Frau selten oder nie den Fehlweg einschlägt, ohne daß die auf demselben sichtbaren Fußstapfen ihres vorangegangenen Mannes sie zur Nachfolge einladen. Es ist nicht Frauennatur, die Initiative zu ergreifen, wenn aber ausnahmsweise, so ist es unendlich viel häufiger eine Initiative zum Rechten als zum Schlechten. Doch ich will erzählen, statt zu moralisieren.

Am zweiten Tage nach dem Abenteuer mit dem Dr. Schwindelhaberschen Augenelixier befand ich mich auf dem Wege zum Kontor des Herrn Gottlieb Kippling.

Ich hatte an meinem damaligen Aufenthaltsorte bisher sehr zurückgezogen gelebt, anfangs aus notgedrungener Sparsamkeit, dann aus Laune, wenn man die Absicht, meine Freistunden zu benutzen, um meine bönhasenfüßigen Kenntnisse im industriellen und kommerziellen Fache mit etwas zunftgemäßeren zu vertauschen, so nennen will. Ich fand dabei allerdings, daß die Erwerbung dieses Zunftwissens für einen Mann von Bildung keine Hexerei sei, aber ein zunftmaßiger Kaufmann ist darum noch kein guter Kaufmann, so wie ein guter Kaufmann darum noch lange kein glücklicher ist. Ich habe Kaufleute gekannt, deren Köpfe gerade so hohl waren wie ihre Gewissen und die vortreffliche Geschäfte machten, und andere, die mit viel Geist, Wissen und Tätigkeit sehr schlechte machten, ohne skrupulös zu sein. Jeder ist seines Glückes Schmied – jawohl, aber zum Schmieden gehören nicht nur rüstige Arme, sondern auch leidlich gutes Handwerkszeug, und dieses Handwerkszeug das ist gerade das Glück selber. Man fragte doch jeden ehrlichen, nicht eiteln Glücklichen, was er selbst und was die Verhältnisse für ihn getan, und man wird Antworten erhalten, welche zeigen, daß das erwähnte Sprichwort wie noch eine Menge anderer Sprichwörter, weiter nichts ist, als eine taube Nuß mit vergoldeter Schale. Kleine und große Kinder mögen damit spielen, aber sie ja nicht öffnen. ... Ja, die im Purpur des Ranges und Reichtums geborenen Glücksprinzen, welche ihr Leben lang die gemeinen Sorgen des Daseins »tief im wesenlosen Scheine« unter sich liegen haben, sie können am Ende leicht dazu kommen, sich für ihres Glückes Schmiede zu halten. Sie brauchen dabei weiter nichts zu tun, als sich vor Zuchthaus und Schafott zu wahren. Wer sich aber tüchtig im Leben tummeln muß, um überhaupt leben zu können, wer »die gemeine Wirklichkeit der Dinge« nicht bloß vom Hörensagen, sondern vielmehr vom täglichen Kampfe mit derselben kennt, der wird frühzeitig Bescheidenheit lernen und sich nicht einbilden, daß der Mensch seines Schicksals souveräner Herr und Gebieter sei. Natürlich spreche ich hier hauptsächlich vom äußerlichen Glück; aber ich verschweige dabei keineswegs, daß nach meiner Erfahrung bei fortgesetztem äußeren Mißgeschick das innere Glück, das heißt die harmonische Stimmung der Seele, ein Ding ist, an dessen Realität nur Schuljungen und Heilige glauben können. Schuljungen gibt es auch zu unserer Zeit noch genug und zwar sehr große, Heilige dagegen meines Wissens keine mehr, außer etwa solche à la Krispinus, die das gestohlene Leder zu recht bequemen Schuhen zu verarbeiten wissen, nicht für die Füße der Armen, aber für die eigenen.

Ich wollte sagen, daß ich trotz meiner zurückgezogenen Lebensweise die Lage des Hauses oder Palastes, wo der große Handelsherr Gottlieb Kippling residierte, wohl kannte. Die weitläufigen, Reichtum und eine außerordentlich vielseitige Geschäftstätigkeit ankündigenden Gebäulichkeiten waren mir während meiner einsamen Spaziergänge im Abendzwielicht des Frühlings mehrmals aufgefallen.

Wie ich bereits erwähnte, ist die Lage der Stadt eine höchst glückliche, die Umgebung anmutig und prächtig zugleich. Ein herrliches Seebecken zieht sich südwärts in halbmondförmiger Gestalt fünf bis sechs Meilen weit gegen das Hochgebirge hinauf, dessen Kolosse ihre glänzenden Schneekronen über malerisch geschwungene, dunkelbewaldete Vorberge herabschimmern lassen. Rings um den See läuft eine von der sorgsamsten Bodenkultur zeugende Girlande von Rebengeländen, Baumgärten und grünen Matten, aus welchen die weißen Häuser zahlreicher stattlicher Dörfer – stattlichere wirst du nirgends, aber auch gar nirgends finden – hervortreten, hier weit an den Gehängen hinauf zerstreut, dort wieder zu großen Gruppen zusammentretend, die, vom regsten industriellen Leben erfüllt, recht wohl auf den Namen von Städten Anspruch machen könnten. Gegen Norden zu verengt sich das Seebecken mehr und mehr bis zur Breite von einer halben Stunde und verliert sich zuletzt in einen schönen Strom, an dessen beiden Ufern die Stadt erbaut ist. Beim Übergang des Sees in den Fluß springt eine kleine Insel, eine ehemalige Schanze, in das Wasser vor und von hier, wie von der schönen Brücke, die sich etwas weiter zurück über den Strom schwingt, genießt man eines bezaubernden Blickes über den See hinauf zu den Alpenfirnen. Gegen Osten lehnt sich die Stadt an mit Landhäusern besäte, sanft ansteigende Weingärten, gegen Westen lagert ein langer, schmalrückiger Gebirgszug, dessen höchste, vielbesuchte Kuppe eine Rundsicht bietet, die zu den Schönsten des Landes gezählt wird. Die Stadt ist alt und als Stadt nicht gerade schön, in manchen Quartieren sogar von mittelalterlich winkeliger und finsterer Physiognomie. Aber sie besitzt prachtvolle, aus neuerer Zeit stammende öffentliche Gebäude, besonders Schulen und Hospitäler, während mit Ausnahme einiger da und dort an beiden Seeufern liegender Villen großer Handelsherren, die Privathäuser durchschnittlich bescheiden und sogar unansehnlich sind. Dieses Verhältnis der privatlichen zu den öffentlichen Gebäuden legt, meine ich, für die republikanische Staatsform kein ungünstiges Zeugnis ab. Auf den lebhaften Hafen der Stadt blickt ernst ein alter zweitürmiger Dom romanischen Stils, dessen Erbauung, wenn ich nicht irre, die Sage Karl dem Großen zuschreibt. Das Straßenleben ist ein außerordentlich lebendiges, und zwar im Winter wie im Sommer, während dessen allerdings die von allen Ecken und Enden der Welt herbeiströmenden Fremden noch mehr Buntheit in das Treiben und Drängen bringen.

Der See schickt neben seinem breiten Abfluß, dem klaren grünen Strom, noch mehrere schmale Ausläufer in das Land hinein, welche früher als Festungsgraben benutzt wurden. Die große Reformbewegung der dreißiger Jahre beseitigte, wie noch manche andere mittelalterliche Verrottung, auch die Festungswerke, welche die Stadt peinlich eingeschnürt hatten. Die Wassergräben sind entweder zugeschüttet worden, um für neue Straßenanlagen Raum zu gewähren oder sie dienen, wo sie noch existieren, der Industrie und dem Handel zur Kommunikation mit der prächtigen Wasserstraße des Sees.

An einem dieser Kanäle erhoben sich die ausgedehnten Magazine des Herrn Gottlieb Kippling, dessen Namen ich von meinem Prinzipal bei verschiedenen Gelegenheiten hatte nennen hören, ohne daß ich weiter darauf geachtet hätte. Jetzt fiel mir ein, daß Herr Ziegenmilch einmal beim Mittagstisch mit Emphase erzählt hatte, er habe vormittags die Ehre gehabt, eine volle Viertelstunde lang mit dem Herrn Oberst und Kantonsrat Kippling sich zu unterhalten. (Beiläufig, ich machte die Bemerkung, daß in der Schweiz die großen Fabrikanten und Kaufleute sehr häufig zugleich Oberste in der Miliz oder Kantonsräte, das ist Mitglieder der gesetzgebenden Behörde sind. Herr Kippling vereinigte beide Würden in seiner Person.) Mein Prinzipal hatte von dem großen Handelsherrn mit einer Art religiöser Ehrfurcht gesprochen, wie etwa in Indien ein Mitglied der Sudrakaste von einem Haupt der Brahmanenkaste spricht.

Nachdem ich eine Strecke weit am Kanal hinaufgegangen, überschritt ich denselben mittels einer Brücke und befand mich nun am Eingange zu dem »Heimwesen« des Herrn Gottlieb Kippling.

Die Magazine umgaben auf drei Seiten einen großen Hofraum, auf welchem Frachtwagen, Krahnen, Wagen und das Volk der Packer, hier Spanner genannt, passiv und aktiv tätig waren. Die vierte Seite des Hofraums war offen, und hier, von wo aus das Ganze leicht in Aufsicht gehalten werden konnte, stand ein hübsches kleines Haus, dessen Parterrefenster mit starken Eisengittern verwahrt waren. Unaufhörlich gingen da Leute aus und ein, welche nach den Magazinen eilten oder von dorther kamen, Fakturen, Frachtbriefe, Warenlisten in den Händen. Es war hier ohne Zweifel das Kontor der Firma Gottlieb Kippling. Ein langes und hohes Eisengitter, über dessen der Türe des Kontorgebäudes gegenüberliegender Durchgangspforte die Inschrift: Verbotener Eingang – sehr großbuchstäblich angebracht war, trennte den ganzen Geschäftsraum von einem großen, parkartigen Garten, der sich mit seinen Rasenplätzen, Gewächshäusern, Baumgruppen und Blumenbeeten längs des Kanals bis zum Seeufer hinaufzog. Von dort herab, durch eine prächtige Allee von Kastanienbäumen und Silberpappeln schimmerten aus der Ferne die weißen Wände und großen Spiegelscheiben des palastartigen Wohnhauses, welches mit der Hauptfront dem Seespiegel zugekehrt war.

»Der Handel nährt, scheint es, seinen Mann,« sagte ich bei mir, das große Besitztum überblickend.

Dann trat ich in das Kontorgebäude und sagte (»Praktisch muß man sein!«) einem aus einer der Schreibstuben zu ebener Erde herauskommenden Bureaudiener so vornehm barsch als möglich, daß ich Herrn Kippling zu sprechen wünsche.

»Der Herr Oberst befindet sich oben in seinem Arbeitszimmer,« gab der Mann höflich zur Antwort, führte mich die Treppe hinauf und bezeichnete mir die Türe, wo ich anzuklopfen hätte.


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