Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel.

Besuch in der Residenz einer Königin. – »Ist der Lauf der Fabrikwelt so«. – Eine Erinnerung an Dante. – Von einem mutterlosen Kinde, welches seinen Vater nicht kannte.

Der Strom, welcher die Stadt durchfließt, nimmt unterhalb derselben die Bihl auf, einen Fluß, der aus einer längs des linken Seeufers sich hinziehenden Voralpenkette hervorbricht, nach Art solcher Bergwasser ein reiches Geschiebe und Gerölle mit sich führend und zuzeiten, wenn es im Gebirge gewittert hat, mit wildem Brausen trübe Fluten über sein steiniges Bett hinausschleudernd. Doch nur droben in den Hochtälern, der Heimat ihrer idyllischen Jugend, sind der Bergtochter solche extravagante Launen noch gestattet. Denn, weiter abwärts hat die große Kulturmissionärin, als welche man die Industrie immerhin wird gelten lassen müssen, den Unband gebändigt und seine Kraft der Philosophie des Geldes dienstbar gemacht.

Der letztere Ausdruck gehört Herrn Bürger an, in dessen Gesellschaft ich am letzten Tage meiner ersten im Kipplingschen Kontor verbrachten Arbeitswoche das Bihltal besuchte. Bei der Schönheit des Morgens hatten wir vorgezogen, unseren Ausflug zu Fuß zu machen, und waren etwa eine Stunde lang auf der Höhe der Rebengelände am See hingewandelt, um uns dann rechter Hand ins Tal hinabzuwenden. Die Straße – kein Land Europas hat ein so reiches, bis in die kleinsten Weiler ausgezweigtes und so sorgfältig unterhaltenes Straßennetz wie die regenerierten Kantone der Schweiz besitzen, von welcher Lakaien schreiben und Dummköpfe glauben, daß sie das Land der Unordnung und Anarchie sei – die Straße lief durch einen schönen Buchenwald hin, durch dessen grüne Gründe der Fluß rauschte, während Amseln, Drosseln und Finken um die Wette schlugen.

»Das ist doch ein ander Ding, als auf dem Schreibbock vor dem Pult zu hocken,« sagte ich wohlgelaunt. »Mir ist ganz idyllisch, jugendlich törichtleicht, ich möchte sagen Eichendorffisch zumute.«

»Rechne, es wird bald anders kommen,« entgegnete mein Begleiter. »Wird nicht lange dauern, die Eichendorffsche Morgenlyrik – 's ist kla–ar. Wartet nur, bis wir um die Biegung der Straße dort herum sind, wo sich der Wald lichtet. Wird bald ein ganz anderer Singsang anheben als der da, welcher übrigens, genau angehört, doch auch nur eine dudeldummlige Wiederableierung einer alten langweiligen Leier ist.«

»Barbar!«

»Ei was! Rechne, ist mir die sogenannte Naturschwärmerei zuwider ... alle die stereotypen Os und Ahs zu einem gefühlseligen Brei gekocht, Müßiggänger damit aufzupäppeln. Was ist auch an dem ganzen Zeug, an der Natur und ihrer Schönheit? Etwas mehr oder etwas weniger Gras und Laub, etwas mehr oder etwas weniger Steine und Berge, etwas mehr oder etwas weniger Wasser, Wald, Schnee und Eis – das ist die ganze Geschichte. Nicht der Mühe wert, sich darüber zu erhitzen – 's ist kla–ar. Ja, wie gesagt, ist mir das Quinkelieren von der Natur zuwider und hat mich der Lessing immer sehr gefreut, daß er mal so einem Naturkerl, der ihm während des Spazierengehens seine grasgrünen Frühlingsgefühle vorleierte, trocken sagte, er, der Lessing, wollte, 's würde statt immer und ewig grün mal rot frühlingen ... Im übrigen, wenn Ihr vorhabt, in diesem Sommer 'ne Bergtour zu machen, rat' ich Euch, steigt von der Pfäfferser Schlucht ins Kalfäusertal hinauf, welches sich zwischen dem Monteluna und dem Kalanda öffnet und den Sardonagletscher, aus welchem die Tamina kommt, zum Schluß hat. Prachtvolle Wildnis! Grassieren dort noch nicht die sechseckigen Engländer. Hasse sie. Das niederträchtigste Heuchlerpack, welches die Erde trägt – herzenshart, hochmütig, borniert, innerlichst kalt für alles, was über Maschinen, Baumwollenballen, Steinkohlen und Pfundnoten hinausgeht. Habe gesehen, wie sie in Ost- und Westindien wirtschaften, diese Praktiker, welche die Woche über die ganze Menschheit betrügen und Sonntags dem Herrgott was vorlügen. Schnödes Volk! Verleidet einem anständigen Menschen sogar Dinge, wie der Vierwaldstätter See und das Berner Oberland sind – 's ist kla–ar.«

Das war nun wieder recht Hannsbürgerlich gesprochen, denn die Rede barg unter allerhand krausen und maßlosen Wendungen doch nur den regen Natursinn, welcher den guten Pessimisten heimlich beseelte. Ich konnte ihm das nicht mehr beweisen, denn wir hatten inzwischen den Waldsaum erreicht, und Kipplingsruhe lag vor uns.

In der Tat, das war eine übel angebrachte Artigkeit, diesem Etablissement oder vielmehr diesem gewaltigen Komplex, von Etablissements den erwähnten Namen zu geben. Ein dumpfes Brausen, dessen monotone Intensivität die Nerven seltsam affizierte, kündigte schon von ferne eine Residenz der Königin Industrie an. Beim Näherkommen unterschied das Ohr in diesem Gebrause und Gedröhne die verschiedenartigsten Einzeltöne, vom stoßweisen Gepuste der Dampfmaschine bis hinauf zum grellen Hammerschlag auf klirrende Metallplatten.

Aus kleinen Anfängen war das Etablissement zu einem Umfang angewachsen, daß es den Raum einer kleinen Stadt bedeckte. Der Fluß, gedämmt und kanalisiert, reichte, obgleich die Triebkraft seiner Strömung durch Anwendung von Turbinen verstärkt war, nicht aus, die sämtlichen Werke in Bewegung zu setzen, und man hatte der Wasserkraft die Dampskraft zugesellen müssen. Es war da eine Spinnerei, eine Weberei, eine Eisengießerei und eine Maschinenbauwerkstätte, alles in großartigen Dimensionen angelegt, ohne eine Spur von Symmetrie, geschweige von architektonischer Schönheit, aber zweckmäßig, praktisch, geschickt ineinander greifend. Ein halb Dutzend riesenhafter Schlote überragte die zerstreuten Gebäulichkeiten und schickte Rauchmassen in die Höhe, welche bei stiller Luft wie heute, als eine blaugraue Wolkendecke über dem Ganzen hingen – der Baldachin über dem Throne der Königin Industrie.

Als wir den Kanal da, wo dessen Wasser wieder in das Flußbett einmündete, mittels einer Bohlenbrücke überschritten hatten, lenkte mein Begleiter unsere Schritte auf ein kleines, hübsches Wohnhaus zu, welches durch eine Gartenanlage von den Fabrikgebäuden und ihren Hofräumen getrennt war. Auf der Freitreppe dieses Hauses begrüßte uns mit fast übertriebener Höflichkeit eine Frau von mittleren Jahren, deren Hauskleid Anspruch auf Eleganz machte und deren Züge eine deutliche Erinnerung an frühere Schönheit bewahrt hatten. Schade, daß jetzt in ihren von starken schwarzen Brauen und Wimpern beschatteten großen hellbraunen Augen etwas wie Falschheit lauerte.

»Frau Regel,« sagte Herr Bürger kurz und von der Höflichkeit der Wirtschafterin – denn diese Stelle bekleidete die Angesprochene – weiter keine Notiz nehmend, »der Herr da und ich werden, wenn wir die Runde durch das Etablissement gemacht, mit Herrn Kippling zu Mittag speisen. Sorgt dafür, daß die Forellen frisch und nicht zu weich gesotten seien. Ist der junge Herr auf?«

»Nein, Herr Bürger. Er hat noch nicht einmal nach seiner Schokolade geschellt und –«

»Schon gut. Benachrichtigt ihn, wenn er herunterkommt, von meinem Hiersein, und daß ich ihn auf dem Bureau zu sprechen wünsche.«

Frau Regel verbeugte sich tief vor meinem Begleiter, der offenbar auch hier außen, wie in der Stadt im Kipplingschen Geschäft eine sehr wichtige Person war, und wir gingen durch den Garten nach den Fabrikgebäuden hinab.

»Rechne,« brummte Herr Bürger im Gehen, »wenn Herr Kippling senior in jungen Jahren so lange in den Tag hinein geschlafen hätte, wie Herr Kippling junior tut, so stünde jetzt hier wohl kein Etablissement, wo sich zweitausend oder mehr arme Teufel für das Gedeihen des Kipplingschen Hauses abmühen. Übrigens stellt der junge Mensch, als Kaufmann angesehen, schon seinen Mann. Hat sich aus einem Taugenichts von Studenten überraschend schnell in einen geriebenen Geschäftsmann verwandelt. Versteht das Geldmachen aus dem Fundament. Möchte wissen, wie's ihm angeflogen. Muß Instinkt sein, angeborener Kipplingscher Instinkt – 's ist kla–ar. Hält Ordnung hier außen, eiserne Ordnung, obgleich er den halben Tag im Bette zubringt. Fürchten ihn unsere Arbeiter wie den höllischen Satan. Ist ein wahrer Typus der jeunesse d'orée unserer Zeit. Hat das Kapital des Herzens, falls er ein solches jemals besessen, schon vor dem zwanzigsten, ja, vor dem achtzehnten Jahre verlumpt, rein verlumpt; kennt daher weder Skrupel noch Zweifel mehr, greift resolut zu, wird ein großes Licht im Tempel Mammonis werden, wenn ihn unterwegs nicht mal die Lichtschere, genannt Gesetz, zufällig ausputzt – 's ist kla–ar.«

»Ihr meint?«

»Meine, wollen zuerst die Gießerei und die Maschinenwerkstätten besichtigen, so's Euch beliebt. Will nur zuvor geschwind den Leuten da einige Befehle geben.«

Die in Rede stehenden Leute waren mehrere Aufseher, welche Herrn Bürger unterwürfig begrüßten. Ich bemerkte überhaupt eine gewisse scheue Unterwürfigkeit in dem Gebaren sämtlicher Angestellten und Arbeiter, etwas Verstecktes, Gedrücktes, etwas geradezu Sklavenhaftes. Jeder Blick, jedes Wort, jede Gebärde der Leute gab sozusagen einen deutlichen Kommentar zu der Mitteilung meines Begleiters ab, daß Herr Kippling der Jüngere hier außen eine »eiserne Ordnung« halte. Ich fing an zu begreifen, daß ein großer Fabrikherr ein souveränerer Souverän sei als mancher kleine Fürst.

Nachdem Herr Bürger, das Notizenbuch in der Hand, seine Fragen gestellt und seine Befehle gegeben hatte, gingen wir über die lärmenden Höfe und vertieften uns in die berußten, von tausend grellen Klängen widerhallenden Regionen der Eisenindustrie.

»Wie gefällt Euch dieser Singsang?« fragte Herr Bürger.

»Aufrichtig gestanden, ganz unverhältnismäßig weniger als der vorhin im Walde draußen vernommene,« versetzte ich. »Bitt' Euch um Entschuldigung wegen so einer ungeschäftsmäßigen Reminiszenz, aber mir kommen unwillkürlich die Verse Dantes zu Sinne:

Verschiedne Laute, Worte, gräßlich dröhnend,
Handschläge, Klänge heiseren Geschrei's,
Wie Wut aufkreischend und wie Schmerz erstöhnend,

Dies alles wogte tosend stets, als sei's
Im Wirbel Sand, durch Lüfte, die zu schwärzen
Es keiner Nacht bedarf, im ew'gen Kreis.«

Indessen muß gesagt werden, daß ich bald Schlimmeres sehen sollte als diese dröhnenden Essen, wo weißglühende Metallströme aus dem stöhnenden Kupolofen in die Gußformen rannen, rote Metallklumpen unter den Schlägen der Dampfhämmer Funken sprühten, mächtige Metallzylinder glatt gedreht, große Eisenplatten gewalzt und gehobelt wurden, wo man dort den eisernen Körper eines Dampfers, hier die komplizierte Maschinerie einer Lokomotive zusammensetzen sah. Es war wenigstens etwas Mannhaftes in dem tosenden Treiben.

Anders gestaltete sich die Szene, als wir in die Region der Baumwolle hinübergingen und den Prozeß dieser Industrie vom ersten bis zum letzten Stadium mit ansahen. Schon der entsetzliche Dunst in diesen Sälen und Korridoren mußte das Herz zusammenschnüren. Und diese weißen Sklaven, entnervt durch den beständigen Aufenthalt in einer Dampfbadatmosphäre, versumpft durch das ewige Einerlei einer maschinenmäßigen Arbeit; diese armen Kinder mit den gelben oder bleichgrauen Gesichtern, verdammt, tagüber eine unerbittliche Maschine zu bedienen und dann abends vielleicht noch einen Weg von einer Stunde oder sogar von zwei zurückzulegen, um ihr ärmliches Lager zu erreichen; diese bleichen, hektischen Frauen, von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr an die Maschine gebannt und daneben noch mit dem Fluche beladen, ein skrofulöses Geschlecht fortpflanzen zu müssen – o, wahrlich, groß ist Königin Industrie und ihrer Herrlichkeit ist kein Ende!

In einem der Spinnsäle zwischen zwei Reihen von Spinnstühlen hingehend, bemerkte ich an einem derselben den rotnasigen Zündt, dessen verfallene Gestalt um so unerquicklich deutlicher auffiel, als er nur Hemd und Beinkleider anhatte. Als wir an ihm vorüberschritten, wandte er, seinen Spinnstuhl zurückrollen lassend, den Kopf um und warf meinem Begleiter wieder so einen boshaft frechen Blick zu wie am vergangenen Sonntag. Herr Bürger würdigte ihn aber keines Gegenblickes.

Nachdem mich in der Gluthitze des Schlichtesaals fast eine Ohnmacht angewandelt hatte, betraten wir den großen Webesaal, wo an fünfhundert Stühle »neuester Konstruktion« in Tätigkeit waren, mit rasender Geschwindigkeit ihre Schifflein hinüber und herüber schießend und ein furchtbares Getöse verursachend, das mit seiner schrecklichen Monotonie das Trommelfell zu zerreißen drohte und die Seele betäubte.

Mitten in diesem Katarakt von Maschinenlärm gewahrte ich das junge Mädchen, das Gritli, welches einen der Webstühle zu bedienen hatte. Das schöne Kind hielt seine großen, dunklen, schwermütigen Augen ängstlich auf die Maschine gerichtet und schaute nicht auf, als wir vorübergingen. Es drängte mich, still zu stehen und der armen jungen Sklavin ein freundliches Wort zu sagen, aber man hätte mit der Stimme einer Kanone sprechen müssen, um hier verstanden zu werden.

Alls wir den Saal verlassen hatten und den Gang zur Türe des Webergebäudes hinabgingen, sagte Herr Bürger:

»Rechne, das Gritli Zündt ist Euch aufgefallen. Ihr findet das Kind schön und interessant?«

Ich nickte bejahend.

»Andere Leute finden es auch, mein Lieber. Kenne das. Weiß, wie's kommen wird. Noch ein paar Jährchen, wenn's gut geht, und die Blume wird gepflückt, zerpflückt und in den Kot getreten werden. Ist der Lauf der Fabrikwelt so – 's ist kla–ar. Aber was seht Ihr mich denn so erschrocken an? Unschuldige Seele, die Ihr seid! Kennt Ihr das Los junger Fabrikschönheiten nicht? Habt doch wohl auch schon von einem großen Industriellen reden hören, der seine kleinen Privatvergnügen recht sinnreich mit der Geschäftspraxis zu verbinden wußte. Hörte von Leuten, die es wissen können und müssen, daß der fragliche Spinnerkönig selbst seine Schäferstunden lukrativ zu machen versteht, indem er den zu besagten Stunden gepreßten jungen Arbeiterinnen die vertändelte Zeit am Fabriklohn abzog.«

»Sagt, daß Ihr lügt, um Himmels willen!«

»Rechne, seid der erste, der zu sagen wagt, Hanns Bürger lügt. Will's Euch aber hingehen lassen, weil ich sehe, daß Ihr angegriffen seid – 's ist kla–ar.«

Ach ja, ich war angegriffen. Der Staub, der Dunst, der üble Geruch, das fürchterliche Getöse da drinnen, die verkümmerten Maschinensklaven und -sklavinnen, endlich die schreckliche Andeutung Bürgers – das alles machte mir das Herz brennen und den Kopf schwindeln.

Ich habe meine Eindrücke hier wiedergegeben, wie sie damals waren. Selbstverständlich konnte es aber im Verlaufe der Zeit nicht ausbleiben, daß ich dazu kam, neben der Schattenseite des Industrialismus auch die Lichtseite zu sehen. Der Industrialismus ist trotz alledem der gewaltigste Hebel der modernen Kultur, er wird den absoluten Staat wie die absolute Kirche aus ihren Angeln heben. Der unaufhaltsam vorschreitende Fuß dieses eisernen Riesen, in dessen Brust als Herz eine Dampfmaschine pocht, tritt Thron und Altar zu Boden und stampft, wie den mittelalterlichen Feudalismus, so auch den »ewigen« Fels Petri nieder. Allerdings arbeitet er zunächst dafür, an die Stelle der zwei alten privilegierten Stände einen dritten, die Bourgeoisie, zu setzen; allein der dritte Stand muß unbedingt den vierten zu sich heran-, zu sich heraufziehen, weil beide durch die stärksten Bande miteinander verknüpft sind, durch die Arbeit und durch das Interesse. Ohne Arbeit kein Kapital, ohne Kapital keine Arbeit. Die Arbeiter mögen wohl darauf achten, daß unter den Aufhetzern, welche den Krieg gegen das Kapital predigen, die giftigsten Feinde aller humanen Zivilisation, die Pfaffen, mit in erster Linie stehen. Diese Aufhetzerei ist übrigens bekanntlich in unseren Tagen ein förmliches Gewerbe geworden, von welchem eine Bande von Tagedieben und Nichtsnutzen – verbuhlte alte und junge Vetteln von Gräfinnen und »Bürgerinnen« befinden sich auch darunter – lebt, und zwar wohllebt. Diese schlecht maskierten »Apostel des Evangeliums der Arbeit« säen und ernten nicht, und dennoch werden sie ernährt, sehr bequem und reichlich ernährt durch die gutmütige Dummheit der armen Arbeiter, welchen sie ihren sozialistischen und kommunistischen Blödsinn vorschwindeln. Ein Hauptagitations- und Beschwindlungsmittel, womit die Schufte hantieren, ist die gemeinste Volksschmeichelei, auf die niedrigsten Instinkte und verwerflichsten Triebe der bildungs- und urteilslosen Menge berechnet. Wäre das Volk weise, so müßte es in diesen seinen Schmeichlern seine schlimmsten Feinde erkennen und hassen. Das Kennzeichen des wirklichen Volksfreundes ist, daß er allzeit ebenso sehr für die Rechte des Volkes eintritt und einsteht, als er dem Volke seine Pflichten klarzumachen und einzuschärfen sucht. Wäre das Pflichtbewußtsein in den Kreisen der Arbeiter und insbesondere auch der Fabrikarbeiter so klar und lebendig, wie es leider vielfach nicht ist, so würden sie wissen, daß Spiel, Trunk und andere Liederlichkeit nicht die Mittel sind, die Lage eines Menschen zu verbessern, und daß überhaupt vor allem die eigene Kraft eingesetzt werden muß, so ein Mensch vorwärts kommen will. Kein Opfer soll der Gesellschaft zu groß sein, um dem Arbeiter von Kindheit auf die volle Gelegenheit zu bieten, sich zu unterrichten. Stiftet gute Schulen aller Art und übt, wo es nötig, einen unerbittlichen Schulzwang; aber den Massenschmeichlern, den Volksbeschwindlern, den sozialistischen Lugpropheten, den utopistischen Lugpoeten schlagt bei jeder Gelegenheit auf die schamlosen Mäuler, daß ihnen die Zähne wackeln.

Als wir wieder draußen auf dem Hofe standen und ich wirre Blicke auf die zahllosen Fenster der Arbeitsbastille um mich her warf, sagte Herr Bürger:

»Rechne, Ihr denkt wieder an den alten Dante, und meint, die Pforte dort sollte billig die Aufschrift tragen, welche der große Florentiner über dem Tor zum Inferno angebracht sah:

Ich führe dich zur Stadt der Qualerkornen,
Ich führe dich zum unbegrenzten Leid,
Ich führe dich zum Volke der Verlornen.

»Ja,« rief ich erschüttert aus, »Ihr habt recht. Das ist die Hölle!«

»Bah,« sagte Herr Kippling, welcher zu uns getreten war und meinen Ausruf mit angehört hatte. »Bah,« sagte er in seiner widerwärtig gezogenen Redeweise, »man gewöhnt sich an alles, nur nicht ans Gehenktwerden.«

Ich hätte den Menschen dafür zu Boden schlagen mögen wie damals im Heidelberger Schloßgarten und verzeihe mir noch heute kaum, daß ich es nicht tat.

Da die beiden Herren ein Geschäft, welches mich nicht interessierte, abzumachen hatten, begaben sie sich auf das Bureau, und ich ging nach dem Garten, um bessere Luft einzuatmen. Gerade gab die Glocke das Zeichen zur mittäglichen Feierstunde, und die Höfe wimmelten von Arbeitern und Arbeiterinnen, welche ihr Mittagsbrot zu verzehren gingen.

Von schmerzlichen Gedanken bewegt, hatte ich einige Gänge durch den Garten gemacht und war am äußersten Ende desselben angekommen, als ich jenseits des eisernen Staketenzaunes, der hier an den Fluß hinablief, das schöne Gritli gewahrte. Das Kind saß ganz allein unter einem Baum auf dem Rasen, beschäftigt, einige kalte Kartoffeln zu schälen, welche nebst einem nicht sehr großen Stück Brot sein Mittagsmahl ausmachten.

Da ich hinter den Fliederstauden heraufkam, bemerkte mich das Mädchen nicht sogleich, und so konnte ich sehen, wie es, während es langsam seine kärgliche Kost genoß, sehnsüchtig nach den blühenden Blumenbeeten hereinblickte, als wünschte es auch nur einmal in diesem Paradiese zu wandeln, welches natürlich für das »Fabriklervolk« ein absolut verbotenes war.

Schon bei unserer ersten Begegnung hatte das Kind meine Teilnahme erregt. Schon damals, wie auch jetzt wieder, erinnerten mich seine Züge, noch weit mehr aber seine Augen, trotz ihres melancholischen Ausdrucks, an ein Wesen, welches freilich die seinigen nicht zum Melancholischblicken gebrauchte – an Julie Kippling. Das konnte freilich nur eine Phantasie, sein, aber doch, fürchte ich, mochte diese Phantasie dazu beitragen, daß ich das Kind so gütig anredete, wie ich tat.

Anfangs war die Kleine scheu und gab nur kurze und befangene Antworten. Nach und nach aber brachte ich sie zum Plaudern, besonders als ich die rechte Saite anschlug, indem ich sie nach ihrer Mutter fragte.

Die Mutter sei tot, seit mehreren Jahren an der Auszehrung gestorben, erfuhr ich, und seither ...

»Seither?« fragte ich, als das Kind innehielt, um seine Tränen abzuwischen.

»Seither hab' ich niemand mehr,« sagte die Kleine langsam und mit einer Innigkeit des Tones, die mich tief ergriff. »Aber du hast ja deinen Vater.«

»Den Zündt?« fragte sie mit einem halb furchtsamen, halb verachtungsvollen Blick.

»Freilich. Ist er nicht gut mit dir?«

»Doch, wenn er nicht trunken ist.«

»Und er trinkt oft?«

»Ja. Dann ist er wild.«

Ich erriet leicht, was alles in dem Worte »wild« sich zusammenfaßte: Roheit, brutale Mißhandlung, Hunger, Entbehrung aller Art, das ganze Elend eines mutterlosen Fabrikkindes.

Die arme schöne Kleine mochte in meinen Blicken etwas anderes lesen, als sie ausdrücken wollten, oder auch sagte ihr jener feine Instinkt für das Rechte und Schickliche, welcher bei Kindern, besonders bei Mädchen vom Alter des Gritli, oft die Erfahrung ersetzt, daß mir die Art und Weise, wie sie sich über den Vater ausgelassen, befremdend sein müsse. Genug, nachdem sie mich eine Weile schüchtern forschend angesehen, senkte sie die Augen und sagte leise:

»Die Leute sagen, und wenn der Zündt wild ist, sagt er es selber, daß er gar nicht mein Vater sei.«

»Wer denn?«

»Ich weiß es nicht.«

Hier ertönte vorn im Garten die Stimme Bürgers:

»Wo zum Teufel, Hellmuth, steckt Ihr denn? Rechne, die Suppe wird kalt und die Forellen werden zu weich –'s ist kla–ar.«

»Ich komme,« rief ich zurück, zog die Börse, reichte dem Gritli ein Stück Geld durch das Gitter und sagte: »Schaff dir dafür ein Kleidchen an, Kind, und hörst du, wenn du mal in Not bist und glaubst, ich könnte dir helfen, so komm nur ungeniert zu mir. Ich heiße Michel Hellmuth und arbeite auf dem Kontor des Herrn Oberst in der Stadt. Gib mir die Hand darauf, daß du es nicht vergessen willst.«

Die Kleine sah mich ungläubig, fast erschrocken an. Es mochte lange her sein, seit so ein freundliches Wort zu ihr gesprochen worden war. Zögernd legte sie ihre kleine Hand in die meinige, aber als ich sie drückte, rollte ein heißer Tränentropfen aus ihrem Auge über meine Finger.

Eine Minute darauf saß ich dem über mein langes Ausbleiben brummenden Bürger bei Tische gegenüber. Herr Kippling, welcher sich gegen den ersten Buchhalter und Prokuraträger seines Vaters sehr dienstbeflissen benahm, tat in Verbindung mit der Frau Regel alles Mögliche, den Brummenden zufrieden zu stellen. Den Forellen, welche gerade die richtige Mitte zwischen zu weich und zu hart hielten, gelang dies endlich, worauf Herr Bürger mit einem Seitenblick auf mich eine humoristische Diatribe gegen die »jugendlichtörichte Schwärmerei des Naturkneipens« losließ. Ich meinerseits speiste mit schlechtem Appetit, denn immer mußte ich beim Anblick der uns aufgetischten Leckerbissen des Brotstückes und der kalten Kartoffeln denken, welche zusammen für einen langen Sommertag die Nahrung des Gritli ausmachten, des armen schönen Kindes, das keine Mutter hatte und nicht wußte, wer sein Vater war.


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