Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Sechstes Kapitel.

Auf der Heidelberger Schloßterrasse. – Berserkerzorn. – Herr Hans Bürger. – Ein Geschäft auf der »Hirschgasse.« – Villeggiatur im Winter. – Dreimonatliches »Duell mit einer Wanze.« – Briefe von Hause. – Mann und Weib. – Ein letzter Kuß.

Seither war ein Jahr und drüber vergangen.

Ich stand mit meinem geliebten Fabian, welcher demnächst in das Priesterseminar treten sollte, auf der Terrasse des Heidelberger Schlosses und schaute hinab ins schöne Neckartal, auf welches der Herbst seinen ganzen Farbenkasten ausgeschüttet hatte.

Seitdem ich von dem frischen Grab der Mutter hinweg nach der Universität zurückgekehrt war, hatte ich an dem burschikosen Treiben nur noch so gelegentlich teilgenommen. Die Mysterien, welche im S. C. (Senioren-Convent) oder im C. C. (Corps-Convent) betrieben wurden, konnten mir kein Interesse mehr abgewinnen. Allerdings war ich noch nicht alt genug, mir selbst und anderen offen zu sagen, daß diese Kindereien nicht einmal als erhabene qualifiziert werden könnten; aber ich mochte sie doch nicht mehr mitmachen, und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie mich langweilten. Außerdem mangelte es mir an Zeit dazu, denn ich hatte meinem Vater versprochen, in der Juristerei, zu welcher ich von der Theologie umsattelte, mich fleißig umzutun. Ich hatte auch Wort gehalten, obgleich ich nicht ochste, wie der ganz bezeichnende Ausdruck für das rein mechanische Studium lautet, dem sich zu meiner Zeit die Durchschnittszahl der Hochschüler vom sechsten oder siebenten Semester an widmete, um »durchs Examen zu kommen« – sondern wirklich arbeitete. Ich kann freilich nicht sagen, daß mich das »Corqus juris« mehr angemutet hätte, als früher die Kirchenväter getan, und in unmutigen Stunden nannte ich das römische Recht ein Monstrum, welches der byzantinische Schakal mit der alten Wölfin Roma gezeugt hätte. Dagegen hatte ich mich mit Liebe dem Studium unserer vaterländischen Rechtsquellen zugewandt, wodurch ich eine klarere Einsicht in die Entwickelung der geschichtlichen Verhältnisse überhaupt gewann. Aber rechte Befriedigung gewährte mir alle die Bücherweisheit nicht. Es war ein Drang in mir, in das wirkliche Leben tätig einzugreifen. Wie? Das war mir freilich vorderhand noch ganz unklar. Nur das fing ich allmählich zu begreifen an, daß es mit der Realisierung enthusiastischer Weltverbesserungspläne doch nicht so ganz schnell und leicht gehen dürfte, wie ich mir früher eingebildet hatte. Wenn auch leider die Geschichte sonst den Menschen nicht viel lehrt, das wenigstens macht sie ihm begreiflich.

»O, wie schön ist es hier!« sagte der Fabian.

»Prächtig; aber, lieber Junge, der Mensch lebt nicht allein von schönen An- und Aussichten, weißt du? Und demnach, wenn du nichts dagegen hast, wollen wir nach der Restauration hinübergehen, um eine Flasche Markgräfler auszustechen.«

Wir taten so, denn wenn man eine Ferienreise in die Neckar-, Main- und Rheingegenden unternommen hat, wie der Fabian und ich getan, so will man doch wohl neben den schönen Gegenden auch einigermaßen die Weine kennen, welche dort wachsen.

Gingen also hinüber und setzten uns in dem bei so früher Abendzeit noch ziemlich gästeleeren Garten abseits unter einen Baum. An einem Tische unfern von dem unserigen saß ein elegant gekleideter Mann von mittleren Jahren, der in eine englische Zeitung von ungeheurem Umfang vertieft war und dazwischen von Zeit zu Zeit aus dem vor ihm stehenden Römer nippte. Wir nahmen weiter keine Notiz von ihm.

Leider aber wurde von uns selbst Notiz genommen, und zwar seitens zweier Studenten, die rotweiße Korpsmützen auf den Köpfen, Arm in Arm und in geräuschvollem Gespräch durch den Garten daherkamen und an unserem Tische Platz nahmen. Sie waren in unverkennbarer Weinlaune, besonders der jüngere, eine schmächtige, Zierliche Figur mit einem hübschen, aber verwüsteten Gesicht. Der andere war ein abgewetterter Bursch, mit einem tüchtigen »Schmiß« quer über die Nase.

Der jüngere rief mit einer dünnen Falsettstimme nach Champagner und schlug, als die Flasche kam, renommistisch den Hals derselben ab, so daß die Hälfte des Schaumweins über den Tisch hinströmte und mir den Rock benetzte. Während der ältere dies höflich entschuldigte, schrie der jüngere nach einer zweiten Flasche und stürzte mehrere Kelche rasch hintereinander hinab. Dann stemmte er die Ellbogen auf den Tisch und starrte dem Fabian, der ihm gegenüber saß, unverschämt ins Gesicht.

Nachdem dies eine Weile gedauert, fragte er ihn:

»Wer sind Sie denn eigentlich, mein Junge?«

Fabian, obgleich eine sanfte und schüchterne Natur, entgegnete doch in etwas gereiztem Ton:

»Das dürfte Sie wenig interessieren, mein Herr.«

»Doch, doch,« versetzte jener. »Sie scheinen mir zur Gattung Kümmeltürke, Spezies Theologe zu gehören, und da ich gerade mit dem Studium dieser Gattung und dieses Spezies beschäftigt bin, so werden Sie mir gütigst nähere Auskunft über dero werte Person geben.«

»Mein Herr,« sagte Fabian, indem ihm das Blut ins Gesicht schoß, »wenn Sie sehen, daß ich ein Theologe bin, so sollten Sie auch wissen, daß ich nicht im Falle sei, für eine so rohe Beleidigung Genugtuung zu fordern.«

»Tant pis pour vous,« erwiderte der Mensch mit höhnischem Lachen, »oder, da Sie wahrscheinlich nicht Französisch verstehen – ein unzivilisiertes Pack, diese Schwarzkittel – ja, um so schlimmer für Sie –«

Mein Blut kochte. Ohne ein Wort zu sagen, streckte ich meinen Arm aus und schlug den Beleidiger meines Freundes zu Boden.

Er kollerte unter den Tisch, aber das war mir nicht genug. Denn plötzlich von einem jener wilden Zornanfälle ergriffen, die mich in meiner Jugend zuweilen heimsuchten, sprang ich auf, raffte ein Messer vom Tische und stürzte mich auf den halbohnmächtig Daliegenden, ohne Fabians Schreckensruf zu beachten.

Aber bevor ich den Gegenstand meiner Wut erreicht hatte, wurde ich aufgehalten. Ein unwiderstehlich starker Arm wand mir das Messer aus der Hand, und eine fremde Stimme sagte nachdrücklich in tiefem Baß:

»Wenn Sie einen Wehrlosen schlechterdings noch weiter züchtigen wollen, so nehmen Sie wenigstens nur einen Stock oder ein Stuhlbein dazu. Besser so – 's ist kla–ar.«

Ich schaute auf und in ein Gesicht, welches mir imponierte. Dieses Gesicht – ungewöhnlich schmale, aber auch ungewöhnlich hohe Stirn, unter sehr langen und, buschigen schwarzen Brauen große graue Augen, deren Blick wie »Feuer im Eise« war, sehr schmale, scharf gebogene Nase, kleiner Mund mit energisch geschnittenen Lippen und dezidiertem Kinn – dieses Gesicht hatte etwas ganz merkwürdig Vogelartiges, etwas frappant Adlermäßiges. Es gehörte dem Fremden mit der englischen Zeitung.

»Mein Herr –,« wollte ich auffahren, aber im nämlichen Augenblicke überkam mich tiefe Scham über mein berserkerwütiges Gebaren, welches mich ums Haar über einen schon Besiegten hätte herfallen lassen, und mich fassend, sagte ich nur: »Mein Herr, Sie haben recht.«

»Gewiß,« erwiderte er. »Der betrunkene Junge da war kaum einen Faustschlag, geschweige einen Messerstoß wert. 's ist kla–ar.«

Damit ging er an seinen Platz zurück, nahm einen Schluck aus dem Römer und langte wieder nach seiner Zeitung.

Ich folgte ihm und sagte: »Darf ich wissen, mein Herr, wem ich für die passende und von mir dankbar anerkannte Dazwischenkunft verbunden bin?«

»Ich heiße Hans Bürger. Und Sie.«

»Michel Hellmuth.«

»Ah,« sagte er mit trockenem, kaustischem Lachen, »Michel und Hans ... waldursprüngliche Namen ... passen zusammen – 's ist kla–ar.«

Dieses breit betonte »'s ist kla–ar,« welches der Mann seinen Äußerungen anzufügen liebte, bildete zu seinem knappen, kurzangebundenen Wesen einen komischen Kontrast.

Inzwischen hatte der dumme Junge, welcher die widerwärtige Szene herbeigeführt, sich wieder aufgerafft und verhandelte mit seinem Kameraden, der eifrig auf ihn hineinsprach und dann zu uns herüberkam.

»Mein Herr,« redete er mich an.

»Was beliebt?«

»Ich bin Senior vom hiesigen Korps der Schweizer.«

»So?«

»Sie sind Student?«

»Zu dienen.«

»Sie geben Satisfaktion?«

»Natürlich.«

»Sie haben meinen Freund und Korpsbruder dort tuschiert.«

»Recht fühlbar, hoff' ich.«

»Er verlangt Satisfaktion und ist der Beleidigte.«

»Weiter!«

»Morgen früh um acht Uhr, auf der Hirschgasse, krumme Säbel, zwölf Gänge.«

»Gut.«

»Du wirft doch nicht, Michel?« fiel Fabian ein. »Und vollends um meinetwillen.«

»Ich werde, Fabiane carissime, aber nicht um deiner, sondern um meinetwillen.«

Der Senior, ein braver Bursch, wie sich später zeigte, sagte noch höflich:

»Ich werde das Nötige besorgen. Aber, mein Herr, wer wird Ihnen sekundieren? Sie sind fremd hier. Wünschen Sie es, so beschaff' ich Ihnen einen Sekundanten.«

»Nicht nötig,« mischte sich Herr Bürger hinter seiner Zeitung hervor in das leise geführte Gespräch. »Wenn der geforderte Herr nichts dagegen hat, werde ich ihm mit Vergnügen sekundieren, obgleich es lange her ist, seit ich mit Schläger und Säbel hantierte. Kenne aber die Hirschgasse noch ganz gut. Schöner Ort zu dergleichen Amüsements – 's ist kla–ar.«

Und zu mir gewandt, setzte er noch hinzu:

»Ohne Umstände ... Tue Ihnen den kleinen Gefallen gerne. Kann mich zu gleicher Zeit bei dieser Gelegenheit alter Zeiten erinnern ... Muß aber jetzt ein Geschäft in der Stadt besorgen gehen. Auf Wiedersehen also, Herr Hellmuth. Holen Sie mich morgen um halb acht Uhr in meinem Gasthaus ab. Logiere im Prinz Karl, Nr. 9, eine Treppe hoch rechter Hand.«

Fabian ließ es sich am andern Morgen nicht ausreden, mich zu begleiten, und machte ein so trübselig ernstes Gesicht, daß mich ordentlich Mitleid anwandelte.

»Ei,« sagte ich zu ihm, »so setz' doch keine solche Leichenbittermiene auf. Es ist im entferntesten kein Grund dazu, und du beleidigst mich geradezu, wenn du in einem Zusammentreffen mit einem solchen Gegner Gefahr für mich siehst.«

Herr Bürger erwartete uns, und bald befanden wir uns an Ort und Stelle. Wir trafen ein Dutzend und mehr Studenten, meist Schweizer, und der Herr Senior trat uns artig grüßend entgegen. Ich bemerkte aber, daß seine Miene verlegen war, und erriet bald den Grund, denn die angesetzte Zeit war vorüber, und mein Gegner erschien noch immer nicht. Endlich kam ein Student eilends herein und flüsterte mit dem Senior, welcher einen lauten Fluch ausstieß und dann auf mich zukam. »Mein Herr,« sagte er, »ich bedaure tief, sagen zu müssen, daß unser Korps einen Infamen in seinen Reihen zählte. Ihr Gegner ist heute vor Tagesanbruch mit Extrapost in alle Weite. Ich will's nur gerade heraussagen, statt Brimborien zu machen.«

Der Fabian lachte bei dieser Nachricht sozusagen mit dem ganzen Gesicht. Herr Bürger zog seine Handschuhe an und bemerkte:

»Da sind wir also um eine Stunde zu früh aufgestanden – 's ist kla–ar.«

Wir wollten gehen, allein der Senior hielt uns auf.

»Einen Augenblick Geduld, meine Herren,« sagte er. »Sie begreifen, daß diese Geschichte für unser ganzes Korps eine höchst fatale sein muß, eine garstige Schwulität. Sie könnte einen Schein von Unehre auf uns werfen, und das soll sie nicht, wenn ich's verhindern kann. Die Forderung ist einmal ergangen, die Waffen sind zur Stelle, und wenn Sie nichts dagegen haben, mein Herr, so will ich selber die Verpflichtung übernehmen, welche der – doch genug, der ehrlose Kerl soll gar nicht genannt werden. Ziehen Sie es aber vor, mit einem andern meiner hier anwesenden Korpsbrüder loszugehen, so wird sich jeder derselben ein Vergnügen daraus machen.«

»Mein Herr Senior,« entgegnete ich, »indem ich ganz Ihre Ansicht von der Sache teile, wird es mir eine wahre Ehre sein, mit einem so honorigen Burschen, wie Sie sind, ein paar Gänge zu machen.«

Der Fabian lachte nicht mehr, und Herr Bürger zog seine Handschuhe wieder aus.

Man verlor weiter kein Wort. Der Paukapparat wurde in Ordnung gebracht, das: »Auf die Mensur!« ward gesprochen, und wir traten mit unseren Sekundanten an. Ich bemerkte, daß Herr Bürger zu seiner Zeit viel dabei gewesen sein mußte, denn er benahm sich ganz kommentmäßig, mit vollendeter Nettigkeit sogar.

»Los!«

Man hat oft die Bemerkung gemacht und kann sie, namentlich auf der studentischen Mensur, die so oft um weniger als nichts beschritten wird, wahrscheinlich noch jetzt täglich machen, daß das Zusammenschlagen von kaltem Stahl eine gewisse Wildheit in den Menschen entzündet. Es ist, als ob der eigentümliche Ton, welchen das Kreuzen der Klingen verursacht, die Bestie im Menschen wachriefe. Ich erfuhr das wieder bei dem im Grunde ganz törichten Duell, welches ich da eingegangen.

Der Senior, ein kräftiger, untersetzter junger Mann zeigte mir sogleich, daß er ein gewandter Schläger sei. Ich nahm mich daher zusammen und bemühte mich ihm zu beweisen, daß wir auf unserer Universität daheim auch wüßten, was schlagen sei. Meine Hochquart und meine Tiefterz galten dort als »fein«, und ich ließ mir angelegen sein, den Ruf dieser Feinheit auch jetzt aufrecht zu erhalten. Mein Widerpart half mir dazu, denn das Gefühl, die Korpsehre retten zu müssen, ließ ihn etwas zu hitzig darauf ausgehen, mich »auszuschmieren«. Das Ende vom Liede war, daß ich das Glück oder Unglück hatte, dem Senior mit der Spitze meines Säbels die linke Wange in Form eines stumpfen Winkels etwas tiefer zu zerreißen, als eben nötig gewesen wäre.

Der Paukarzt machte ein ziemlich bedenkliches Gesicht zu der Wunde, doch behielt der Verwundete Fassung genug, mir für die Bezeigung meines herzlichen Bedauerns höflichen Dank zu zollen.

Dann gingen wir. Der Fabian, welcher zum erstenmal einer solchen Szene beigewohnt hatte, war ganz bleich. Herr Bürger steckte sich gleichmütig eine Zigarre an.

Ich verweile nicht länger bei dieser dummen Geschichte, deren Dummheit mir freilich erst recht, mit Herrn Bürger zu sprechen, »kla–ar« geworden, als ich kurze Zeit nach meiner Rückkehr zur heimischen Universität aufs Amt zitiert wurde. Der schlechte Heidelberger »Witz« war, ich weiß nicht wie, »herausgekommen«, die Duellgesetze wurden damals viel strenger gehandhabt als gegenwärtig, wo die Umkehr zum »ritterlichen« Mittelalter ja so heftig von oben herab kultiviert wird – eine Reklamation vom dortigen Universitätsgericht war eingelangt und nach etwelchen, wie ich glauben muß, sehr schlecht ausgefallenen Versuchen, dem Gerichte gegenüber meinen Beruf zum Advokaten zu dokumentieren, wurde mir die Verbindlichkeit aufgelegt, mitten im Winter eine dreimonatliche Villeggiatur auf einer Festung zu machen, welche, wenn auch nicht gerade als solche, in deutschen Landen eines bedeutenden Rufes genießt. Ich vermute, zu diesem etwas strengen Urteil habe der Umstand mitgewirkt, daß ich als Burschenschafter signalisiert und gerade zur selben Zeit denunziert war, bei einem Kommers einen Toast auf das deutsche Vaterland ausgebracht zu haben. Das deutsche Vaterland war nämlich damals verboten und Deutschland überhaupt nur als »geographischer Begriff« erlaubt.

Im übrigen, loyaler Leser, sei ganz ruhig. Du sollst nicht genötigt sein, rebellische Reflexionen: »Aus dem Gefängnis« mitanzuhören. Ich reflektierte allerdings während jener drei Monate viel, und es mögen meine Gedanken nicht gerade immer die loyalste Färbung gehabt haben; ja, ich würde, falls das nicht zu anmaßlich klänge, mit Entlehnung eines Heineschen Ausdrucks sagen können, mein Kopf sei damals ein zwitscherndes – oder vielmehr ein brummendes – Vogelnest von konfiszierlichen Büchern gewesen. Nichts davon, sondern nur das: wenn ein auf der Festung sitzender Mensch, abgesehen von allen übrigen Unzukömmlichkeiten dieser Lage, drei Monate lang allnächtlich mit jener zweckwidrigsten aller Kreaturen, genannt Wanze, sich duellieren muß, so ist es kein Wunder, wenn ihm die berühmte Lehre von der Zweckmäßigkeit der Welt als blauester Dunst erscheint. Eine niederträchtige Situation!

Nun, sie ging am Ende auch zu Ende, aber eine Woche zuvor erhielt ich Briefe von Hause, die mich höchlich aufregten und beunruhigten.

Die Briefe meines Vaters waren sonst von einer starken humoristischen Ader durchzogen, welche freilich seit der Mutter Hingang sehr brüchig geworden war. Aber so ganz verschwunden wie in diesem letzten Briefe, war sie noch nie gewesen. Es sprach aus dem ganzen Schreiben eine gewisse Müdigkeit, die mich sehr besorgt machte. Der Vater schrieb unter anderem:

»Der Tod ist wieder bei uns eingekehrt. Er hat meinen besten Freund, den Freiherrn mit fortgenommen. Vielleicht zu seinem Glück, denn die tolle Verschwendung seines Sohnes hatte ihm großen Kummer gemacht. Der junge Herr hat es gar zu arg getrieben, und ich sehe nicht ab, wie das ein gutes Ende nehmen soll ... Berthold war gekommen, um die Weihnachtsfeiertage hier zuzubringen, aber nur auf den ausdrücklichen Befehl seines Vaters. Wir beide, der Freiherr und ich – auch die arme Isolde war zugegen – hatten eine schreckliche Szene mit ihm. Ist es denn möglich, daß soviel Liebe, wie sie dem Berthold von Kindheit auf erwiesen worden, solche Früchte tragen kann? Der Schmerz des Vaters und die Tränen der Schwester scheinen aber doch auf den jungen Mann Eindruck gemacht zu haben. Er bezeigte Reue und war dann recht liebenswürdig, wie er ja sein kann, wenn er will ... Ein paar Tage darauf hat sich auf der Jagd das Gewehr des Freiherrn zufällig entladen, wahrscheinlich nach eben beendigter Ladung. Die Kugel zerschmetterte dem unglücklichen Manne die Stirne. Sein Sohn war in der Nähe und konnte den letzten Seufzer seines Vaters empfangen ... Bertholds Schmerz grenzte an Raserei. Isolde war wie versteinert und ist auch jetzt noch so. Sie gleicht oft ganz einer Statue, und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll ... Berthold ist majorenn, er hat die Erbschaft übernommen, aber ich fürchte, ach, ich fürchte sehr, manches gute Stück der Herrschaft Rothenfluh lag bereits zuvor in Form von Wechseln in den Pulten von Wucherern. Wenn in diesen trüben Dingen überhaupt von einem Glück die Rede sein kann, so ist es ein Glück, daß wenigstens Isoldes Zukunft – in dem Sinne nämlich, in welchem die Menschen von einer Zukunft zu sprechen pflegen – so ziemlich gesichert ist. Der Freiherr hat kurz vor seinem schrecklichen Ausgang eine rechtsgültige Verfügung getroffen, kraft welcher das schöne Hofgut Lindach, in der Nähe vom Kloster Gnadenbrunn, weißt Du? seiner Tochter als Eigentum zusteht, worüber sie allein verfügen kann. Und da wir gerade bei der Vermögensfrage sind, so sag' ich Dir, lieber Michel, wie ich Dir schon bei einer früheren Gelegenheit andeutete: Du wirst nach meinem Tode nicht viel vorfinden. Mache Dich beizeiten darauf gefaßt, liebes Kind. Du weißt, wo meine Hand für die Bedürftigen verschlossen war, ist die Hand von einer, die nicht mehr lebt, doppelt offen gewesen – auch dafür sei ihr Andenken gesegnet! – und dann, nun, ich war in der Bereicherungskunst nie sehr stark, und als ich es einmal zu sein wähnte und mein Erspartes dabei wagte, wurde mir meine Stümperei recht fühlbar bewiesen. Doch warum von Dingen reden, die man nicht ungeschehen machen kann. Etwas ist zwar wohl noch vorhanden, aber – ich weiß, Du wirst dagegen nichts einzuwenden haben – das gehört Deiner Schwester. Sie ist ein Mädchen, Du aber bist ein Mann, der sich hoffentlich mit eigener Kraft wird durchs Leben helfen können. – Hildegard, ach, ist auch nicht mehr das ewigheitere Geschöpf von früher, obgleich sie sich so äußerst anstrengt, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Das arme Kind! Ich fühle wohl, wie es ihr zumute ist. Ich fürchte, ihr Herz hat einen unheilbaren Schlag erlitten, und zwar von der Hand eines Unwürdigen. Ich mag nicht weiter davon sprechen, aber es beunruhigt mich, daß Deine Schwester sich einer mystisch-religiösen Richtung zuneigt, die am Ende gar in schwärmerische Klostergedanken ausläuft. Hildegard geht öfter, als mir lieb ist, nach Gnadenbrunn hinauf. Die Schwester Berta, welche jetzt Mutter Superiorin geworden ist und deren Liebling Hildegard ja immer war, bestärkt sie wohl in diesen klösterlichen Phantasien – leider, denn Du weißt, was ich vom Klosterleben halte. Daneben kann ich dem Mädchen freilich nicht zürnen. Kranke Herzen haben religiöse Bedürfnisse, von welchen man in gesunden und glücklichen Tagen keine Ahnung hat. Das Christentum aber ist die Religion des Unglücks, es hat sich ja recht eigentlich an die ›Mühseligen‹ und ›Beladenen‹ gewendet. Ich las gestern wieder einmal jenes erhabene Wort beim Evangelisten Lukas: ›Der Geist des Herrn ist bei mir und er hat mich gesandt, zu verkündigen die frohe Botschaft den Armen, aufzurichten die zertretenen Herzen, zu predigen den Gefangenen‹ – da dachte ich auch Deiner, armer Junge! – ›daß sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen, und den Unterdrückten, daß sie frei und ledig sein sollen.‹ Es hat mich tief bewegt ... Gestern haben wir auch den guten alten Hairle, den Benefiziaten, begraben. Er ist sozusagen mitten in der Götter- und Heldenwelt Homers entschlafen, denn er wurde des Morgens tot gefunden, über eine Folioausgabe der Ilias hingebeugt. So geht ein Freund nach dem andern von mir, und da ist es denn kein Wunder, wenn einem zuweilen Todesgedanken anwandeln. Aber Du mußt Dir das nicht sehr zu Herzen nehmen, lieber Michel ...«

Wie hätte ich aber anders gekonnt? Um so mehr, als Hildegard ihrerseits schrieb:

»Ich sorge mich um den Vater. Er ist sehr gealtert, und ich kann oft kaum die Tränen zurückhalten, wenn ich sehe, wie er, mir zu Liebe, sich Mühe gibt, heiter auszusehen und zu scherzen wie vorzeiten. Lange schon schmeckt ihm weder Speise noch Trank mehr. Oft brütet er stundenlang vor sich hin, und dann wieder geht er ruhelos im Hause umher, als suchte er etwas. Ach, ich weiß wohl, was er sucht: die Mutter. Er ist nie mehr, aber auch gar nie mehr froh geworden, seitdem sie uns verlassen hat ... Isolde ist lieb und gut – wie könnte sie jemals anders sein? – aber still, o, recht tiefstill. Sie scheint gesund, sie weint nicht, sie klagt nicht, aber mir ist oft, es müsse ein geheimer, unendlicher Schmerz, ein furchtbares Weh auf dieses edle Herz drücken. Sie hat sich jetzt, seit ihres Vaters plötzlichem Tod, fast noch inniger an uns angeschlossen, aber trotzdem glaube ich oft zu fühlen, daß etwas Fremdes, Unerklärliches zwischen uns sei; es ist, als trage Isolde ein tiefschmerzliches Geheimnis mit sich herum ... Du hast mir in Deinem Briefe recht brüderlich herzlich zugesprochen, was vergangen sei, vergangen sein zu lassen. Die Welt, sagtest Du, sei trotz alledem so reich an Glück, daß wohl auch für mich noch ein hübsches Stückchen davon abfallen werde. Die Welt! So wenig ich auch davon gesehen habe, es war doch genug, mich nicht nach mehr verlangen zu machen. Das Glück! Ich weiß, Du liebst die Dichter, und darum will ich Dir mit einem englischen antworten:

Ein Jahr ist's her, da war ich glücklich! Nein,
Nicht glücklich, nur von dieser Wonne rings
Umfangen, die ich nicht erreichen, nicht
Erfassen konnte. Noch so war das Glück
Ja stets. Es ist des Geistes schönes »Morgen«,
Das niemals kommt ...

Aber glaube mir, was man so unglücklich nennt, das bin ich darum doch nicht. Wir alle haben ja unsere Last zu tragen. Ich beuge mich in Demut unter der mir auferlegten. Was könnten auch wir Frauen anders tun? O, Bruder, ich habe verstehen gelernt, welchen Trost unsere geliebte, unsere fromme Mutter aus jener ewigen Liebe schöpfte, welche prüft, aber nie lügt, aus jener Hoffnung, welche nie verwelkt. Unter dem Saum von Gottes Mantel ist Raum für alle seine Kinder. Da berg' ich mich. Du aber eile zu uns, sobald Du los bist.«

»Arme Hildegard,« sprach ich bei mir, »das ›Morgen‹ des Glückes ist freilich für dich nicht gekommen. Die Liebeständelei idyllischer Jugendtage, du hast sie ernst genommen, während sie einem anderen eben nur Tändelei war. Armes Schwesterherz, das jetzt für Gott schlägt, weil sein inniger Schlag von dem Geliebten nicht verstanden oder mißachtet wurde, ich will dich nicht verspotten, nicht einmal in Gedanken. Aber es ist doch so die Art der Frauen: wenn die irdische Liebe sie getäuscht hat, werfen sie sich der himmlischen in die Arme. Wir Männer sind nicht zart genug organisiert, um unsere Empfindungen, unsere Wünsche so sublimieren zu können. Wir dürfen auch das Leben nicht bloß ertragen, wir müssen es bestehen, mit ihm ringen, es gestalten. Kein rechter Mann kann in der blassen Resignation, welche am Ende der wahre Himmel des Weibes ist, sein Genüge finden. Er hat nicht einmal Zeit, einem Jugendgefühl lange oder gar ausschließlich nachzuhängen. Es ist dafür gesorgt, daß so abnorme Erscheinungen, wie der Werther eine ist, nicht sehr häufig wiederkehren.«

Acht Tage später eilte ich in grimmiger Januarkälte der Heimat zu. Allein wie sehr ich eilte, ein grausamer Herzschlag kam mir doch zuvor. Wohl konnte ich noch die teuren Vaterlippen küssen, die so viele tausend und wieder tausend gütige Worte zu mir gesprochen hatten, aber es waren die Lippen eines Toten.


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