Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

Ein Galadiner, an welchem nicht nur mehrere Berühmtheiten, sondern auch eine Fürstlichkeit teilnehmen. – Tischreden. – Eine Umarmung und eine Explosion. – Die Rotte der Zukunft und wie Herr Bürger sie charakterisiert. – Treulos wie Wind und Welle.

Zu den nicht kleinsten Leiden des menschlichen Lebens gehört auch, in einem Kreise, mit dessen sämtlichen Mitgliedern man auf gleichem Niveau der Bildung steht, wenn nicht gar eine Stufe höher, zu der demütigenden Rolle eines Untergebenen, eines Dieners sozusagen verurteilt zu sein. Es bedarf entweder einer sehr gemeinen oder aber einer sehr philosophischen Gesinnung, um eine derartige Demütigung nicht zu fühlen oder aber dieselbe mit Gleichmut, vielleicht gar mit Humor zu ertragen.

Der vertraute Umgang meiner Familie mit der freiherrlichen hatte mich von Kindheit auf zu sehr daran gewöhnt, die sozialen Schranken zwischen den einzelnen Gesellschaftsklassen zu übersehen. Kein Wunder, daß sie mir, als ich sie später doch sehen mußte, sehr albern und abgeschmackt vorkamen. Nur mühsam habe ich gelernt, anzuerkennen, daß in Wahrheit jeder Mensch, welcher durch was immer von dem großen Haufen unterschieden ist, sofort eine Schranke um sich her zu ziehen trachtet. Jetzt nehme ich diese Tatsache wie andere Tatsachen, die, ob auch noch so »brutal«, nicht wegzudisputieren sind, weil untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden.

Ich war noch nicht auf jenem tatsächlichen Standpunkt angelangt an jenem Sonntag, als ich aus dem Billardzimmer, allwo ich mit einem Menschen, der vorzeiten eine Maulschelle ruhig eingesteckt, eine Partie gespielt hatte, weil ich der Kommis seines Vaters war, in den Speisesaal des Herrn Gottlieb Kippling hinüberging.

Das Haus meines Chefs hatte alle die luxuriöse Pracht entfaltet, um welcher willen die Galadiners eines Mannes berühmt waren, der wohl wußte, daß um Geld alles zu haben sei, Menschen und Sachen.

Die Anzahl der Gäste war nicht zu groß, aber es befanden sich Berühmtheiten darunter, Berühmtheiten des Staates, der Börse, der Wissenschaft und Kunst, sogar eine europäische, Herr Gaukel mit seinen langen Haaren, von denen er so manches hatte opfern müssen, um damit die Busennadeln und Ringe seiner Anbeterinnen zu schmücken. Er trug seinen Jupiterskopf – einer seiner Schmeichler hatte ihm nämlich eingeredet, daß er einen solchen besitze – mit absolutem Selbstbewußtsein und schob die Unterlippe verachtungsvoll vor, daß er akkurat aussah, als wollte er sich in die lange Nase beißen. Ihm zur Seite nahm seine Freundin, die Fürstin von Altenkasten, die Huldigungen der Gesellschaft entgegen. Herr Gaukel reiste nämlich nie ohne die Begleitung einer Gräfin oder Fürstin. Herr Schwarbel, Mitchef der berühmten Lobassekuranzanstalt Gaukel, Schwarbel und Komp., sah, wie mir schien, etwas scheel zu der Aufmerksamkeit, welche Fräulein Julie seinem erlauchten Mitzukunftsheros widmete. Vielleicht war es aber auch nur eine geniale Zerstreuung und komponierte der Meister in Gedanken gerade an einer seiner Riesensymphonien. Herr Professor Düngerling, ein harmlos aussehender Blondkopf, bemühte sich angelegentlich, der Fürstin von Altenkasten zu beweisen, daß nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaft Glanzhandschuhe zu tragen und sich angenehm zu machen wisse, wo eine Fürstlichkeit im Spiele sei. Herr Professor Zarkle sah aus wie ein alter Mops, der sich langweilt und die Menschen haßt, weil er ihnen nicht mehr an die Beine fahren kann. Herr Diakonus Schmirkli, welcher aufs täuschendste einem Schuhmacher, aber einem mißlungenen, glich, hörte mit Ungeduld dem Herrn Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel zu und ärgerte sich augenscheinlich, daß es einen Menschen auf der Welt gäbe, der ein noch größeres Maul hatte als er selbst.

Auch Damen waren da, von welchen ich aber nur zu sagen weiß, daß sie leidlich gute Toilette gemacht hatten. Fräulein Julie war ganz unbestritten die Königin des Kreises, aber sie spielte auch die Königin und hatte mich deutlich genug ihre Rolle fühlen lassen, als ihr Vater, bevor die Gäste kamen, mich ihr vorstellte.

Der Herr Oberst hatte sich dabei nicht nur nicht allzu zurückhaltend, sondern im Gegenteil wieder mit einem Anflug von Güte benommen.

»Ich empfehle dir Herrn Hellmuth als einen jungen Mann von Bildung, Julie,« hatte er zu seiner Tochter gesagt. »Ich hoffe, du wirst dazu beitragen, daß er in unserem Hause sich heimisch fühlen lerne.«

Fräulein Julie blickte mit eisiger Kälte auf mich, wie man auf einen Gegenstand blickt, welchem man diese Ehre überhaupt nur widerfahren läßt, weil man ihn zum erstenmal sieht, und mit dem Tone impertinenter Abweisung sagte sie kurz:

»Ich werde mich freuen, wenn Herr Helmuth in unserem Hause die Erfahrung macht, daß es sich mit uns dummen Schweizern, wie die Herren Deutschländer uns zu nennen pflegen, doch auch einigermaßen leben lasse.«

Damit wandte sie sich hinweg, und der Herr Oberst sagte zur Entschuldigung der Unart seiner Tochter:

»Sie müssen es mit den Worten Juliens nicht so genau nehmen, Herr Hellmuth. Sie ist ein launisches, ein sehr launisches Kind. Ihre Mutter starb viel zu früh, und die Väter können mit der Kindererziehung, insbesondere mit der Tochtererziehung nicht zuwege kommen. Julie tyrannisiert uns ein wenig, mich selbst, ihren Bruder, alle ... Aber,« fügte er hinzu, den Kopf etwas in den Nacken zurückbeugend, um so bequemer unter der Einfassung seiner Brille hervor seiner Tochter zusehen zu können, welche mit anmutiger Zuvorkommenheit soeben den mit seiner fürstlichen Freundin eintretenden Herrn Gaukel empfing, »Sie werden zugeben, daß es nicht gerade Schwäche ist, wenn man einem solchen Kinde manches, vieles sogar nachsieht.«

Ich verbeugte mich schweigend, was der Herr Oberst als eine Zustimmung nehmen durfte; denn in der Tat, obgleich innerlichst erbost über das, was ich den herzlosen Hochmut oder die herzlose Heuchelei der Tochter des Millionärs nannte, mußte ich mir doch gestehen, daß sie prächtig war.

Während Wirte und Gäste sich bekomplimentierten, schlenderte Herr Kippling junior, welcher an dieser Zeremonie keinen Anteil nahm, an der Ecke vorüber, wo ich stand und sagte gähnend:

»Wie ennuyant! Wollte, das Essen begänne endlich, bevor der Absynth wieder seine Wirkung verliert.«

Herr Schmirkli, dem es ungeheuer eilte, der Tochter des Hauses seine Huldigungen zu Füßen zu legen, machte sich endlich mittels einer kühnen Schwenkung von Herrn Rumpel los, und dieser kam auf mich zu, begrüßte mich mit einer Gönnermiene und sagte:

»Wünsche Ihnen von Herzen Glück zu Ihrem Eintritt in dieses Haus, alter Freund. Ist das ein Boden, worauf ein kluger Mann gedeihen kann, wissen Sie? – Beiläufig, kennen Sie den Herrn Schmirkli dort? Ein fürchterlicher Schwätzer! Schwatzt einem Löcher durch den Leib, ganz wie der Kerl in der neunten Satire des Horatius, wissen Sie? Ja, und was ich sagen wollte, soll Sie schön grüßen von Frau Lelia. Eine gute Seele, das Frauchen, etwas korpulent, aufgeblasen sozusagen von gefühlvollen Seufzern, aber im übrigen eine Rose ohne Dornen. Nicht wie die Zentifolie dort, die, wie Sie bemerken, den großen Herrn Schwarbel auf den großen Herrn Gaukel ungeheuer eifersüchtig macht ... eine kapitale Schönheit, wiegt eine Million, aber stachelig wie ein Kaktus, wissen Sie? Rat' Ihnen, kommen Sie dieser Pflanze nicht zu nahe ... Wollen Sie, daß ich Sie mit Zarkle bekanntmache? Großer Mann ... weiß auch, daß die Welt betrogen sein will, und betrügt sie daher mit Kritik, da er nichts anderes aufzuwenden hat. Will mich zum Mitarbeiter haben, zum Mitarbeiter in dem großen Feldzug gegen die Revoluzer, Antichristen und Atheisten. Wünscht, daß ich in das von ihm organisierte kritische Nachtwächterkorps eintrete, bietet enormes Honorar, wie Herr Ziegenmilch sagen würde. Habe aber keine Lust zu dem Ding, will demnächst, wenn's mit der ›Konservativen Hetzpeitsche‹ nicht mehr gehen sollte, ein eigenes Geschäft etablieren, wissen Sie? Erinnerte mich dieser Tage, daß ich mal ein Theologe gewesen. Will in Frömmigkeit machen. Guter Markt jetztund wieder für diesen Artikel. Sehe jeder, wie er's treibe, sag' ich mit Goethe. Warum nicht mitschwindeln in dem allgemeinen Schwindel? Es lebe der Humbug!« Ich war nicht in der Laune, dem Bummler zu antworten, und so ließ ich ihn schwatzen, bis der Herr vom Hause die Fürstin und Herr Gaukel Fräulein Julie zu Tische führte.

Mein Platz war der unterste an der Tafel, und da der schweigsame Herr Egli mein Nachbar, so hatte ich vollauf Zeit, mich darüber zu ärgern. Freilich, wenn ich hätte billig sein wollen, müßte ich es ganz in der Ordnung gefunden haben, daß ich zu unterst saß; ja, ich müßte es sogar als eine nicht gewöhnliche Rücksichtnahme anerkannt haben, daß Herr Kippling seinen Kommis überhaupt zu seinem Galadiner zuließ. Ich war aber nicht billig und sogar kleinlich genug, mich insbesondere darüber zu ärgern, daß ein Mensch wie Rumpel so weit über mir saß.

Man saß bereits, als Herr Bürger eintrat, für welchen ein Platz unweit dem des Hausherrn reserviert war. Er nahm denselben mit einer sehr kurzen und steifen Verbeugung gegen die Gesellschaft ein, und ich bemerkte, daß seine Laune auch nicht die beste sein mußte, denn er sprach das ganze Essen über kein Wort.

Oben an der Tafel ging es sehr lebhaft und geistreich zu. Wenigstens ließ mich die Anwesenheit so vieler großer Geister das letztere vermuten. Abbekommen konnte ich indessen von der Geistreichigkeit nicht viel, da ich zu entfernt saß. Nur dann und wann drang der Schall eines dort oben gewechselten französischen Bonmots – Frau von Altenkasten sprach nur Französisch, und ihre Nachbarschaft tat es ihr nach, um doch auch vornehm zu sein – zu mir herunter, und ich konnte daraus entnehmen, daß, wie sich in Gegenwart der Zukunftsfirma Gaukel, Schwarbel und Komp. von selbst verstand, vom Kunstwerk der Zukunft die Rede war.

Gegen das Ende der Tafel, als der Wirt die Gesundheit der Frau Fürstin, Herr Gaukel die Gesundheit der Tochter des Hauses und Herr Schmirkli die Gesundheit des Herrn Oberst ausgebracht und der Champagner die Unterhaltung zwangloser gemacht hatte, erhob sich eine kleine Kontroverse zwischen Herrn Kippling und Herrn Düngerling. »Ich kann mir Ihre Doktrin schon gefallen lassen, mein lieber Herr Professor, denn sie ist im ganzen genommen praktisch,« hörte ich den Herrn Oberst sagen. »Aber was mir daran nicht gefällt, was mir unpraktisch, im höchsten Grade unpraktisch vorkommt, ist die populäre Lehrmethode Ihrer Meinungsgenossen. Die Regierungen sowohl als überhaupt alle verständigen Leute sind in unserer Zeit der Meinung, daß die Wissenschaft und insbesondere die Naturwissenschaft popularisieren nur dem revolutionären Unsinn und der Anarchie Vorschub leisten heißt. Die Köpfe der Menschen oder die Begriffe darin sind ohnehin schon verwirrt genug durch den Freiheits- und Gleichheitsschwindel, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in das unserige herüberkam. Dem großen Haufen die Wirklichkeit der Dinge zur klaren Anschauung bringen, ihn, mit einem Worte, denkend machen wollen, heißt ihn nur unzufrieden und folglich unglücklich machen. Die arbeitenden Klassen brauchen nicht zu denken, denn das tun schon andere für sie. Das Volk braucht nicht zu wissen, sondern nur zu glauben. Wo der Unglaube einmal in die Massen fährt, da hat der Respekt, der Gehorsam, die Ordnung ein Ende. Das Volk muß Religion haben.«

»Ganz recht, Herr Oberst,« stimmte Herr Schmirkli eifrigst bei. »Ganz abgesehen von der praktischen Wahrheit, daß es den höchsten Grad von politischer Verkehrtheit verriete, dem Volke den Trost seiner religiösen Überzeugungen nehmen zu wollen, ist auch unter einem höheren Gesichtspunkte das neueste Vorgehen der materialistischen Schule verwerflich. Alle ideellen Triebe der Menge fassen sich ihr in der religiösen Formel zusammen –«

»Das hat, entschuldigen Sie, Herr Helfer,« unterbrach Herr Rumpel mit lärmender Unverschämtheit den Sprecher, »das hat vor Ihnen schon der fromme Poet Zacharias Werner gewußt, als er sagte:

Was dir der Glaube an dein Ideal,
Das ist dem Volk sein Heiland und sein Fetisch.«

Herr Düngerling würdigte weder den Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« noch den Helfer von Sankt Damian einer Antwort, sondern adressierte seine Worte an den Millionär.

»Ich widerspreche Ihnen gar nicht, mein teurer Herr Oberst,« sagte er. »Im Gegenteil, ich gehe noch weiter als Sie und behaupte nicht nur: Das Volk muß Religion haben, sondern auch: Wir alle müssen Religion haben. Es kommt nur darauf an, was man unter Religion versteht. Die Theologen sagen: Religion ist der Glaube an den absoluten Geist. Wir anderen sagen: Religion ist der Glaube an den absoluten Stoff, und schon die Gegenwart gibt uns recht, denn wer glaubt noch an den Geist? Freilich nur der Gebildete, vorausgesetzt, daß er praktisch genug sei, sein Dasein bequem und schön zu gestalten, kann mit Resignation wissen, daß des Lebens Kreislauf im Stofflichen anhebt und endigt. Für die Masse bedarf die Stoffreligion einer exotischeren Gestaltung, einer Kultform, welche das Knochengerüste der strengen Wahrheit mit dem blühenden Fleisch der Fiktion bekleidet. Das Dogma des Materialismus, welches wir verkünden, muß sich eine Mythologie schaffen –«

»Vortrefflich, eminent!« fiel Herr Rumpel ein. »Die Religion des Stoffes bietet den Poeten und Künstlern der Zukunft vollauf Stoff zu kolossal schönen Erfindungen. Das wird ein Kultus werden, der sich gewaschen hat, und ich sehe schon die Zeit kommen, wo die Leute beten werden: Heiliger Phosphor oder heilige Kohlensäure, bitt' für uns!«

»Die Sache hat aber doch nicht bloß eine scherzhafte Seite,« nahm Herr Schmirkli mit breitspuriger Wichtigkeit das Wort und hielt dann eine lange Predigt, in welcher er als echter Schleiermacherianer die widerhaarigsten Dinge kunstreich vermittelte. Der Schluß seines Votums spielte ins Mystische, indem er eine Hochzeit zwischen der Theologie und dem Materialismus aufs Tapet brachte und das wunderliche Paar mittels Novalisscher Phrasen sofort kopulierte.

Der große Schwarbel hatte inzwischen seinen Genius ebenfalls auf den Gesprächsgegenstand konzentriert und beglückte uns mit einer Offenbarung desselben. Er sprach von der Kunst im allgemeinen und von allen möglichen Künsten im speziellen. Er sprach mit Wärme und Energie, und ich hatte es zu beklagen, daß ich in die Mysterien der Zukunftskunst so gar nicht eingeweiht war, denn ich verstand von der ganzen Rede des berühmten Mannes so blutwenig, daß ich, und würde es mein Leben gegolten haben, nicht hätte sagen können, ob höchste Wahrheit oder tiefster Blödsinn ihr Inhalt gewesen. Und doch hatte ich vorzeiten nicht nur den Hegel studiert, sondern sogar den Oberkonfusionsrat Germaniens, den alten Hamann, gelesen und wenigstens einigermaßen verstanden.

Zu meinem Troste saßen auch die anderen, nämlich die, welche sich nicht das Ansehen tiefsinnigen und tiefinnigen Verständnisses geben wollten oder konnten, ganz dumm da, als ob der Redestrom des großen Mannes in ihren Köpfen nur jenes aus dem Faust berühmte Mühlrad in Bewegung gesetzt hätte. Herr Kippling senior runzelte die Stirne und zog die Mundwinkel nieder. Herr Kippling junior gähnte hinter der vorgehaltenen Serviette. Herr Bürger heftete seine großen runden Augen auf den Redner, als ob er jeden Augenblick erwartete, derselbe werde plötzlich einen Purzelbaum über den Tisch hin schlagen oder sonst etwas Desperates, Ungeheuerliches unternehmen.

Als der große Mann endlich zu Ende war, lief ein verlegenes Flüstern um die Tafel, welches aber Herr Gaukel nicht aufkommen ließ. Er erhob sich nämlich, schüttelte die ambrosischen Locken, blickte Jupitersblicke und hub an:

»Ja, mein edler, mein trefflicher, mein großer Freund, in Ihrem Haupte steht das Kunstwerk der Zukunft in vollendeter Schönheit da. Die Bosheit elender Neider wird nur der Axtschlag des Vulkanus sein, welcher die fertige Pallas entspringen läßt. Schwingen Sie, ja schwingen Sie den mächtigen Zauberstab, der in Ihre Hand gelegt ist. Schon höre ich die Symphonien der Zukunft, auf deren Fittichen Ihr Name von Pol zu Pol getragen wird. Mich aber lassen Sie den Ruhm vorwegnehmen, der erste gewesen zu sein, der Ihren Genius erkannt und zu Ihnen gesprochen hat: Arm in Arm mit dir, fordere ich Mozart und Beethoven in die Schranken!«

Sprach's mit Emphase und beugte sich zu dem Freunde hinüber, ihn gerührt zu umarmen.

Aber leider wurde diese Umarmung recht häßlich gestört.

Fräulein Julie saß zwischen den beiden Zukunftsheroen. Ich sah, daß ihre reizenden Hände wie spielend eine vielleicht nur zufällig vor ihr stehende Champagnerflasche schüttelten und an dem schon halbgelösten Pfropfen herumzupften.

Plötzlich in dem feierlichen Moment, wo die beiden großen Freunde sich umarmten, ging höchst störsam der Schuß los. Der Schaumstrahl sprang in die Höhe und überströmte sehr respektwidrig die Gesichter der berühmten Männer, welche natürlich jach auseinanderfuhren.

Das war denn doch mehr, als Fleisch und Blut ertragen konnten, ohne in Lachen auszubersten. Herr Bürger intonierte ganz pietätlos mit seinem durchschlagenden Baß ein Gelächter, das unaufhaltsam um die Tafel ging. Herr Kippling der Jüngere wieherte. Sogar Herr Egli lachte, und zwar nicht ganz leise.

Zu der drastischen Komik der Szene kam noch die feinere, daß Fräulein Julie mit der unbefangensten Unschuldsmiene der Welt um die beiden Unglücklichen sich bemühte, indem sie, mit ihrem Spitzentuch hantierend, dieselben förmlich wie zwei kleine Kinder behandelte, welche sich Gesicht und Kleider besudelt haben und nun nicht wissen, ob sie darüber lachen oder weinen sollen. Es war ganz allerliebst komisch anzusehen.

Der Herr Oberst hätte seine achteckigen Brillengläser weiter über die Augen herabziehen müssen, wenn man ihm nicht anmerken sollte, wie sehr ihn die reizende Bosheit seines Töchterleins innerlich ergötzte, obgleich er zuerst wieder die Fassung gewann, welche seine Eigenschaft als Wirt ihm vorschrieb. Er rückte seinen Stuhl, bot der Frau Fürstin den Arm und lud die Gesellschaft ein, draußen in der hohen kühlen Loggia, auf welche sich die Türfenster des Speisesaales öffneten, den Kaffee zu nehmen.

In der luftigen, mit Marmor ausgelegten, mit Fresken geschmückten Säulenhalle, vor welcher das zauberhaft schöne Seepanorama sich ausbreitete, gruppierte man sich nach freier Wahl, und so fand ich mich mit Herrn Bürger in einer entfernten Ecke allein, von wo aus wir, durch ein Oleandergebüsch gedeckt, die Gesellschaft im Auge hatten, ohne uns weiter um dieselbe kümmern zu müssen.

Die Frau Fürstin von Altenkasten tat den Herren den Gefallen, dem Kaffee die rechte Würze zu verleihen, indem sie sich von ihrem berühmten Freunde eine Zigarre präsentieren ließ und dieselbe mit großem Genuß zu rauchen begann. Die einheimischen Damen, in der Emanzipationspraxis noch nicht auf der Zigarrenstufe angelangt, rümpften über die Manifestation modernster Weiblichkeit ein wenig die Näschen und Nasen, aber die Herren waren natürlich galant genug, das große Beispiel Ihrer Durchlaucht pflichtschuldigst nachzuahmen.

»Euer Humor trägt kein Sonntagskleid, Herr Bürger,« sagte ich zu meinem schweigsamen Nachbar.

»Doch, mein Werter,« versetzte er. Rechne, daß ich mich schon lange nicht so amüsierte – 's ist kla–ar. Müßte ein wunderlicher Kauz sein, der nicht guter Laune wäre, wenn er eine so auserlesene Raritätensammlung von Menschenkindern vor sich hat. Ernsthafte Leute, hübsche Damen, Narren, Scharlatane, Gauner, was will man mehr? Denke, man kann die Rotte der Zukunft nicht bald hübscher beisammen haben – 's ist kla–ar.«

»Die Rotte der Zukunft?«

»Sagte so. Müßt blind sein, wenn Ihr nicht seht, daß alle die berühmten Leute da, die Herren Gaukel und Schwarbel, Zarkle, Düngerling und Schmirkli, sogar der Erzschelm, der Rumpel, fest überzeugt sind, die Lumpen zu sein, aus welchen das Papier der Zukunft gemacht wird.«

»Ein wunderliches Bild!«

»Ein passendes in unserem papiernen Zeitalter. Und in allem Ernste: alle diese Menschen bilden wirklich die Rotte der Zukunft. Diskreditieren nämlich die Gegenwart so, daß alle verständigen Menschen wünschen und deshalb auch glauben, daß eine bessere Zukunft komme – 's ist kla–ar. Seht Euch mal die beiden Berühmtheiten aus der Plateniden-Dynastie an. Schwatzen mit solcher Zuversicht von der großen Tat in Tönen, die sie tun wollen, daß Leute bereits die Sphärenmusik der Zukunft klingen hören. Der Herr Professor Zarkle dort demonstriert schon durch seine Existenz, daß unter dem Professorenhaarbeutel ganz gemeines Ungeziefer gedeihe, und zerstört durch sein und seiner Gesinnungsgenossen albernes Gebaren unter euch Deutschen allerhand Köhlerglauben. Herr Düngerling und die übrigen Apostel des materialistischen Evangeliums sind, ohne es zu wissen, die untertänigsten Handlanger bei der großen Nivellierungsarbeit, welche der Industrialismus vollbringt, um mit dem Mittelalter gänzlich aufzuräumen. Weiterhin Herr Schmirkli, der zu der Heineschen Sorte von Theologen gehört, welche heimlich Wein, viel Wein trinken und öffentlich Wasser, viel Wasser predigen – zeigt er nicht durch seine Allerweltsvermittelungstheologie kärglich die geistige Impotenz einer Gesellschaft auf, welche sich so kärglich abmüht, aus alten Flicken ein neues Kleid zusammenzusetzen? Beweist er nicht gerade dadurch die drängende Notwendigkeit, dieses Kleid aus neuem Zeuge zu schneiden?«

»Und Herr Rumpel?«

»Bah, das ist nur eine Schmeißfliege, welche durch ihr unverschämtes Gesumme verrät, wieviel Aas in der Gegenwart herumliegt.«

»Aber – rechnet Ihr Herrn Kippling, unseren Chef, auch zur Rotte der Zukunft?«

»Und wie! Er ist ein wirklicher Philosoph unserer Tage, denn er ist ein Philosoph des Geldes. Die Formel dieser Philosophie lautet nicht wie die der kartesianischen: Der Mensch denkt, also ist er, sondern: Der Mensch ist, nämlich etwas, so er hat, nämlich Geld.«

»Und diese Formel soll auch ein Baustein der Zukunft sein?«

»Rechne kein Baustein, aber das Fundament. Das Geld, der große Despot, nachdem er alle bisherigen Lebensmächte höhnisch lachend unter seine Füße getreten, alle Ideale mit seinem souveränen Zepter zu Boden geschlagen, wird eine so ungeheure Leere in den Gemütern erzeugen, daß sich die Menschheit, will sie nicht aufhören zu existieren, zuletzt vor sich selbst entsetzen muß. Aus diesem Entsetzen wird, ohne Zweifel unter schrecklicheren Kämpfen und Nöten als die Weltgeschichte je gesehen, eine neue Gesellschaft entspringen, eine Zukunft, wo die Menschen wieder glauben, hoffen und lieben.«

»Verzeihung, Herr Bürger, daß ich so einfältig war, Euch für einen Pessimisten zu halten.«

»Ach was! Die Menschen werden in Zukunft wieder glauben und hoffen und lieben aus Langeweile, aus purer Langeweile; aber auch dumm sein werden sie wie zuvor, denn die Dummheit ist das Bleibendste auf Erden – 's ist kla–ar.«

»Sagt mir doch,« fuhr ich fort, auf Herrn Kippling junior weisend, der unfern von uns an der Balustrade lehnte und, so oft er die Zigarre aus dem Munde nahm, mächtig in das schöne Land hinausgähnte, »gehört auch der zur Rotte der Zukunft?«

»Der? Nein. Rechne, der ist fertig. Ein Lump jeder Zoll!«

»Aus dem kein Zukunftspapier zu machen ist?«

»Nein.«

»Was denn?«

Herr Bürger sah mich durchdringend, fast mißtrauisch an. Da ich aber seinen Blick unbefangen aushielt, beugte er sich zu mir herüber und sagte flüsternd, aber nachdrücklich:

»Eine Züchtlingsjacke.«

Ich schrak zurück. Herr Bürger lachte und sagte:

»Natürlich nur ein dummer Einfall von mir. Habe mitunter so dumme Einfälle – 's ist kla–ar.«

Hier kam Fräulein Julie, ihre Tasse in der Hand, anmutig von einer Gruppe zur anderen wandernd, auf uns zu und sagte scherzend:

»Ah, da sind ja die beiden Kartäuser, welche bei Tische mit unserem vortrefflichen Herrn Egli im Gelübde des Schweigens gewetteifert haben.«

»Rechne, mein Fräulein, sind Herr Hellmuth und ich zu prosaische Leute, um an genialem Geschwätze teilnehmen zu können,« entgegnete Herr Bürger kurz, fast rauh, wie er denn diesen Ton der Tochter seines Chefs gegenüber fast immer anzunehmen pflegte.

Was mich betrifft, mir lag die übervornehme Kälte, womit mich Fräulein Julie empfangen, als der Herr Oberst mich ihr vorgestellt hatte, noch schwer in den Gliedern, und fühlte ich mich daher nicht aufgelegt, freundlicher zu tun als mein Nachbar.

»Herr Bürger hat wieder einmal seinen rosenfarbenen Tag, wie ich sehe,« fuhr das Fräulein fort und wandte sich zu mir mit der Frage: »Aber warum haben denn auch Sie, Herr Hellmuth, zu dem Gegacker und Geschnatter, welches wir anzuhören hatten, keinen Beitrag geliefert?«

»Mein Fräulein, ich habe ja nicht die Ehre, zur Menagerie zu gehören.«

Fräulein Julie hätte nicht Fräulein Julie sein müssen, wenn sie bei dieser deutlichen Anspielung auf eine ihrer Äußerungen im Gartensaale verlegen oder gar rot geworden wäre. Sie lächelte bloß und sagte:

»Wie unartig! Und doch hätte ich ein galanteres Bezeigen von seiten der beiden Herren verdient, welchen speziell zu Liebe ich, weil ich sah, wie sie sich langweilten, bei Tische einen so hübschen Knalleffekt in Szene setzte. Da sieht man wieder recht deutlich, daß Undank der Welt Lohn ist. Was aber die Menagerie angeht, so soll mich weder Undank noch sonst etwas hindern, zu wissen, daß wenigstens einer der stolzen Herren« – hier sah sie Herrn Bürger so schalkhaft zärtlich an, daß mich etwas wie Eifersucht anwandelte – »in derselben installiert ist, und zwar in der Abteilung der Bären. Sehen Sie, meine Herrschaften« – dies sprach sie im täuschend nachgeahmten Tone eines Menageriewärters – »hier ist zu sehen der graue amerikanische Bär, the grizzle bear aus dem Felsengebirge, ein sehr wildes und furchtbares Tier, übrigens ein wohlkonserviertes Exemplar. Obwohl schon lange gefangen, ist er doch keineswegs völlig gezähmt, geht aber als echter Republikaner auf den Ruf Citoyen.«

Damit verließ sie uns, und wir hörten sie sogleich drüben der Frau Fürstin von Altenkasten über das heroische Rauchen derselben eine brillante Lobrede halten, welche die Zuhörer nach Belieben für eine solche oder auch für eine Satire nehmen konnten.

»Ein wunderbares Geschöpf!« sagte ich.

Herr Bürger sah mich spöttisch an und versetzte:

»Rechne, Euch gelüstet nach einem Käfig in der besagten Menagerie – 's ist kla–ar.«

Dann legte er sich in seinen Stuhl zurück, verschränkte die Arme, zog die Brauen finster zusammen und murmelte:

»Falsch wie Aprilsonne! Treulos wie Wind und Welle!«


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