Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Buch.

Die Rotte der Zukunft.

Erstes Kapitel.

Von Sonntagsmorgenglocken und Sonntagsgefühlen; ferner von einer alten Schlange und einer berühmten Frage, die aber, wie Autor fürchtet, nicht zur Befriedigung des Lesers gelöst wird.

Leider hatte ich keine Gelegenheit, die Richtigkeit des alten Volksglaubens zu erproben, welchem zufolge die Träume der ersten, an einem neuen Aufenthaltsorte verbrachten Nacht vorbedeutend sind. Das Träumen war überhaupt nicht meine Sache; ich war viel zu gesund dazu, und so schlief ich denn auch die erste Nacht unter Herrn Kipplings Dache ganz vortrefflich, sogar einen rechten Sonntagsschlaf, das heißt, ziemlich weit in den Morgen hinein.

Endlich weckte mich feierlicher Glockenklang. Ich blickte aus dem Alkoven, wo mein Bett stand, durch die offenstehende Türe in das Zimmer hinaus und sah die Sonnenstrahlen durch die halbgeschlossenen grünen Jalousien hereinspielen.

Komfortabel logiert für einen Kommis, enorm komfortabel, wie Ziegenmilch und Komp. sagen würden. Der Herr Oberst und Kantonsrat scheint in der Tat gegen seine Leute kein Knicker zu sein ... Nun, Michel Hellmuth, du kannst, wenn du billig sein willst, mit dem Gange, welchen deine Angelegenheiten bisher nahmen, ganz zufrieden sein ... Ich denke, ich darf mit einiger Genugtuung an Isolde melden, daß der Anfang, durch meine eigene Kraft etwas zu werden, gemacht sei. Durch eigene Kraft? ... Hm, wenn ich ehrlich sein will, muß ich doch sagen, daß eigentlich Fräulein Julie ... Aber wer ist nur Fräulein Julie? Werde ich sie wiedersehen? Es ist doch recht wunderlich, daß das Bild dieses seltsamen Kindes ... ei, hat sich was mit dem Kind! ... Ist 'ne richtige Dame geworden, der wilde Pensionatvogel von damals ... Aber warum drängt sich immer dieses Bild zwischen meine teure Jugendgespielin und mich? O, Schwachheit, ich sage, dein Name ist – Mann!

Wählend dieses Monologs hatte ich mich angezogen, und da ich die Beklemmung, welche mich anwandelte, der stockigen Zimmerluft zuschrieb, öffnete ich ein Fenster und stieß den Laden auf.

Eine prachtvolle Szene lag vor mir entrollt.

Glatt und glänzend wie eine ungeheure Silbertafel, widerspiegelte der vor meinen Blicken ausgebreitete See die wolkenlose Himmelsbläue des Sonntagsmorgens. Es war Mai, und so weit das Auge die beiden Ufer hinaufreichte, zog sich ob den erst leise grünenden Rebenhügeln eine ununterbrochene Kette blütenschwerer Obstbäume hin. Ein Zug walddunkler Voralpen bildete den Hintergrund des herrlichen Landschaftsbildes, aber hoch über das Wälderdunkel dieser Berge ragten aus silbernem Morgenduft die Hochalpen mit schimmerndem Firnschnee in den klaren Äther empor. Ein Ton und Duft wie aus dem Sountagslied von Uhlands Schäfer lag auf der ganzen Szene, und die heilige Stille derselben wurde nicht gestört, nein, gleichsam nur noch feierlich stiller gemacht durch das Geläute der Glocken, welche von den Kirchtürmen der Stadt und der zahlreichen Dörfer an den Seegestaden ihre Klangwogen in die Lüfte gossen.

Ich sog mit der balsamischen Frische der Morgenluft zugleich auch die gehobene Sonntagsstimmung ein, welche über der schönen Landschaft schwebte. Mir ward still, fromm, andächtig zumute. Die verworrenen Gedanken und Wünsche, die mich vorhin gequält hatten, verstummten mir in der Brust, welche friedvoll aufatmete in dem allgemeinen Sonntagsfrieden. Ich gedachte der Sonntagsmorgen, wo ich als Kind mit meiner geliebten Mutter zur Kirche gegangen; ich gedachte der sonntäglichen Bergwanderungen an der Seite meines teuren Vaters; ich gedachte auch Isoldes, mit inniger und doch nicht schmerzlicher Sehnsucht. Jetzt, in diesem geweihten Augenblicke, stand nichts Fremdes, nichts Störendes zwischen ihr und mir. Ich dachte an alles Schöne, Gute, Freudige, was ich erlebt, und mein Herz, der Last selbstsüchtiger Strebungen und Sorgen entbunden, schwoll von Andacht und Dankgefühl. Wie vormals in den besten Stunden der Jugend, fühlte ich mich wieder als ein Glied in der unendlichen Kette alles Daseins, alles Lebens, und, ein unwillkürliches Gebet, drängten sich mir Herders Worte auf die Lippen:

... Du gehörst nicht dir!
Dem großen guten All gehörst du.
Du hast von ihm empfangen und empfängst,
Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,
Dich selbst, dich selbst; denn sieh, du liegst, ein Kind,
Ein ewig Kind, an dieser Mutterbrust
Und hangst an ihrem Herzen ...

Ich weiß, weiß nur allzugut, wie selten die Skepsis einer alternden Gesellschaft solche Stimmungen aufkommen läßt. Aber dennoch – wehe dem, welchen sie, auch in reiferen Jahren noch, nie wieder anwandeln! So ein Sonntagsgefühl ist ein Stab, an welchem man leicht und frei emporklimmt aus den dumpfen Niederungen des Werktaglebens in die Ätherhöhen, wo den Menschen das alte, urewige Sphärenlied von einem verlorenen und wieder zu gewinnenden Paradiese umklingt, das Sphärenlied von einem goldenen – ach, nicht im Sinne der Gegenwart goldenen – Zeitalter, welchem die Weltgeschichte durch Entwickelungsphasen von Jahrtausenden hindurch entgegenreifen soll. Wird es geschehen? Oder ist das Lied ein immer wiederkehrendes Eiapopeia, ein monotoner Ammengesang, womit der Himmel die Erde und ihre Kinder einlullt, um sie ihre Schmerzen des Lebens, die Mühsal der Wirklichkeit vergessen zu machen? Brächte die Weltgeschichte wirklich auch nach Jahrtausenden nichts hervor, was nicht vor Jahrtausenden schon dagewesen, und sollte auch in fernster Zukunft noch ein Koheleth des Zweifels, wie vordem der salomonische tat, mit verzweifelndem Achselzucken sprechen müssen: »Nichts Neues unter der Sonne« und: »Alles ist eitel?«

Ach, die alte Schlange, welche dem tiefsinnigen biblischen Mythus zufolge schon im Schatten von Edens Bäumen die Kindheit der Menschheit vergiftet, ihr naives Glück zerstört hat, – der fragende, zweifelnde, bangende, über die Schranken der sichtbaren Welt rastlos hinausstürmende Gedanke des Menschen, der Gedanke, welcher mit einem ewigen: »Was dann?« auf den bleichen Lippen in eine Zukunft hineinbohrt, deren Dunkel die Leuchte der religiösen Tradition, wie die Fackel der Wissenschaft nur noch dunkler erscheinen lassen, nur »sichtbar finster« wie die Finsternis in Miltons Hölle – – ja, die alte Schlange, sie ringelte sich draußen auf dem lachenden Seespiegel, sie ringelte sich durch das Grün der Matten und durch den Blütenschnee der Bäume: sie ringelte sich auch drinnen in meiner Brust – die Weihestunde war vorbei.

So sind wir modernen Menschen nun einmal. Wir können kaum für Augenblicke unsere Zunge des bittern Nachgeschmackes der Frucht vom Baume der Erkenntnis ledig machen. Wir sind alle geborene Skeptiker oder wenigstens ist der Zweifel das lastende Angebinde, womit eine Bildung, die über Abc und Katechismus hinausgeht, uns beschenkt. Kein gebildeter Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, sei er Mann oder Frau, ist noch ein wahrhaft naiv Gläubiger. Er kann es nicht sein, es ist eine pure Unmöglichkeit. Er wird auch nicht sagen, daß er ein solcher sei, es müßte denn sein, daß er, ungleich Wolfgang dem Großen, nicht das Herz hätte, der »Heuchelei dürftige Maske« zu verschmähen.

Aber nicht nur das. Wir Menschen des neunzehnten Jahrhunderts haben, nach dem Vorgang und Beispiel genialer Stimmführer desselben, auch noch die Sucht, die Unart, uns jede reine und hohe Stimmung mephistophelisch zu vergällen. Jeder von uns ist so ein Stück von Zerrissenheitspoet, wenn er auch keine Verse macht und keine machen kann. Unser Enthusiasmus hat kaum das Haupt erhoben, so schlägt ihm die Ironie schon in den Nacken. Jeder Seelenlaut, jedes erhabene Gefühl wird von einem Kapriccio skeptischen Witzes zu Tode gestichelt; jedes Byronisch leidenschaftliche Pathos läuft in einen Heinesch kynischen Lachtriller aus.

O, wir sind Realisten, wir. Uns ist Werther nur noch ein dummer Junge und Faust ein alberner Professor, der es nicht zum Hofrat brachte, und Nathan ein seichter Schwätzer und Posa ein kläglicher Possenreißer. Von allem schönen Glauben, von allen hohen Hoffnungen ist uns nur noch unser kleines, armseliges Ich geblieben, und weil dieses gar zu armselig klein ist, schieben wir ihm als Piedestal einen Geldsack unter, räuchern und singen ihm und lügen uns selbst und anderen vor, es sei doch etwas Großes und Herrliches um den bis zur höchsten Potenz hinaufgeschraubten Individualismus, der mit frecher Schamlosigkeit sein: »Jeder für sich und der Klügste, Gewissenloseste über alle!« ausschreit. Was sollte uns Ewiges kümmern, uns, die wir alle Hände voll mit Zeitlichem zu tun haben? Was die Menschheit? Mag sie selbst für sich sorgen, wir sorgen für uns. Laßt die Ideale, die Schwärmereien, die Illusionen den Toren von armen Teufeln, die nicht klug genug sind, am Bankett des Lebens einen Platz oder ein Plätzchen zu erobern; wir unsererseits sind mit den Realitäten zufrieden. Und auch den Himmel, die ganze poetische Herrlichkeit des Jenseits, lassen wir den Phantasten. Mögen sie sich zum voraus daran erquicken, während wir so bescheiden sind, nur die kurze Strecke bis zum Grabe existieren und genießen zu wollen, und so großmütig, doch auch einigermaßen der Menschheit zu dienen, indem wir nichts dagegen haben, daß unser Kadaver auf die Anatomie oder in eine Ammoniakfabrik gebracht werde. Wenn nur eins nicht wäre, dieses fatale: »Was dann?« Wir haben es zwar für bloßen Nebel erklärt, aber gerade so zudringlich-feuchtkalt wie Herbstnebel richtet sich überall auf Wegen und Stegen das verhaßte Fragwort vor uns auf. O, eine Prämie, eine ungeheure Prämie, den ganzen Ertrag von ein-, zwei-, dreijährigem Papiermarktsschwindel als Prämie dem Chemiker, der uns eine Säure präpariert, welche zersetzt, zerfrißt, in nichts auflöst für immer dieses abscheuliche: »Was dann?«

»Rechne, Ihr haltet Euch in Ermangelung eines Pfarrers selber die Sonntagspredigt,« sagte Herrn Bürgers Stimme hinter mir, und als ich mich, halb verlegen, so in meinem nicht sehr kaufmännischen Monolog überrascht worden zu sein, zu ihm wandte, fuhr er fort: »Müßt sehr vertieft gewesen sein – 's ist kla–ar. Hörtet mein Anklopfen nicht. Trat daher ungerufen herein und hörte Euch mit Vergnügen predigen. Gut für den Sonntag, ganz gut, taugt aber nichts für die Werktage – bitt' um Entschuldigung.«

»Ich meinerseits habe um Entschuldigung zu bitten, Herr Bürger. Denn ich wollte Euch als meinem Nachbar eine Staatsvisite machen, da ...«

»Da hat Euch der Weltschmerz beim Ohr genommen? 's ist kla–ar. Begreife, daß Ihr dann und wann solche Anwandlungen habt, seid gerade noch jung genug dazu.«

Ich hatte keine Zeit, mich über das sarkastische Lächeln zu ärgern, welches die Mundwinkel meines Vorgesetzten umspielte. Denn über eine Stuhllehne sich beugend, nahm Herr Bürger plötzlich Haltung, Gebärde und Ton irgend eines ordentlichen Professors der Philosophie an und sagte mit pedantischer Gravität:

»Wir verschreiten jetzt dazu, meine Herren, mit tunlichster Bündigkeit die berühmte Frage: ›Was dann?‹ zu beantworten. Merken Sie wohl auf! Daß das Menschenleben eine Tragikomödie, gilt so ziemlich allgemein für ausgemacht. Etliche, etliche viele, sehr viele – man nennt sie Materialisten – sind der Ansicht, die Tragikomik sei aus, ganz aus, sobald der Vorhang, den man in der Vulgarsprache Sargdeckel heißt, gefallen. Andere – man nennt sie Idealisten – leben des Glaubens, das besagte Drama sei keineswegs ein in sich abgeschlossenes, vollendetes Kunstwerk, sondern habe noch eine Umdichtung zu erfahren, welche auf einem höheren Theater zur Darstellung käme, sei es als erhabenes Trauerspiel, sei es wenigstens als heiteres Lustspiel. Wer von beiden hat recht? Da wir bis zur definitiven Entscheidung der Frage nur dreißig bis fünfzig oder in Ausnahmefällen siebzig bis achtzig Jahre lang Geduld zu haben brauchen, so meine ich, das Klügste und Einfachste sei, wir warten es ruhig ab und« – hier nahm Herr Bürger seinen natürlichen Ton wieder an – »gehen vorderhand frühstücken.«

Ich lachte und folgte dem wunderlichen Manne nach seinem Zimmer, wo uns Herr Egli, der Kassierer, erwartete, welchem mich Herr Bürger in aller Form vorstellte.


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