Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Sechstes Kapitel.

Unterhaltung mit einem großen Manne. – Abermals ein alter Bekannter. – Vier Fragen. – Eine Rede von Oskar Ziegenmilch und Komp. – Der Kontrakt. – Ein freundschaftliches »Suppäh«. – »Des Nutzens grobem Dienst verkauft«.

Ich wurde in einem sehr einfach möblierten Zimmer, von welchem aus aber eine offenstehende Nebentür den Einblick in ein desto üppiger, ja mit orientalischem Luxus ausgestattetes Kabinett gestattete, von einem Herrn empfangen, welchen ich seiner mit kunstvollster Eleganz behandelten braunen Perücke zuliebe nicht geradezu einen alten nennen will, obgleich die ziemlich schlaffen und schwammigen Züge desselben, die tiefen Furchen seiner breiten und massiven Stirne, die hundert und wieder hundert Falten und Fältchen um Augen- und Lippenwinkel her, endlich der im Verhältnis zu seinem Untergestell sicherlich überkorpulente Oberkörper unzweifelhafte Attribute des Alters und nicht der Jugend waren.

Dieser Herr saß in einem braunen Morgenrock, sonst aber sorgfältig angezogen, in einem Rohrstuhl mit niedriger Lehne vor einem mit zahllosen Brieffächern versehenen Bureau und schrieb, den Rücken gegen die Türe gekehrt.

»Wer ist da?« fragte er bei meinem Eintritte kurz und scharf, ohne sich umzuwenden.

»Ein Fremder,« gab ich zur Antwort, »der sich Ihnen, Herr Oberst, vorstellen möchte.«

»Zu welchem Zweck?« fragte er wieder und wandte sich dabei halben Leibes lässig gegen mich um.

Unter den achteckigen Gläsern eines schwergoldenen Brillengestells hervor, welches fast ganz oben auf der Wurzel einer unschönen, an ihrer Spitze ins Violette schimmernden Nase saß, sahen mich ein Paar schwarze, blitzende Augen durchdringend an.

Ich muß so einen Blick schon irgendwo gesehen haben. Wo war es doch nur?

»Ich komme, Herr Oberst«, sagte ich, »mich für die Stelle zu melden, welche, wie ich hörte, in Ihrem Kontor offen ist.«

»Die Stelle des ersten Korrespondenten für die auswärtigen Plätze ist allerdings offen, es hat sich aber eine ganze Menge tüchtiger Bewerber gemeldet und habe ich auch meine Wahl schon so ziemlich getroffen.«

»Dann bedaure ich, Sie gestört zu haben, Herr Oberst.«

So sprechend wollte ich meine Verbeugung machen, um mich zurückzuziehen; allein die Augen des Handelsherrn hielten mich fest.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie sind Ihrer Aussprache nach kein Schweizer.«

»Nein. Ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein.«

»Eine sonderbare Ehre!«

»Darf ich bitten, mein Herr, mir zu sagen, wie Sie das meinen?« fragte ich nun meinerseits mit scharfer Betonung, denn ich hatte während meines Aufenthalts im Lande bereits bemerkt, die Mißachtung, in welcher die Deutschen häufig dort stehen, rühre mit daher, daß viele, um nicht zu sagen, die meisten meiner dort niedergelassenen Landsleute dem bornierten Volksvorurteil durch affektierte Verachtung ihres eigenen Vaterlandes zu schmeicheln suchen. Der Schweizer liebt in der Regel sein Heimatland mit Innigkeit. Diese Liebe ist die stärkste, oft die einzige ideale Seite seines Wesens. Er muß daher einen Deutschen verachten, der im Stile Börnes über Deutschland sich ausläßt, um so mehr, da der Schweizer, für den Humor überhaupt nicht sehr stark organisiert, den blutenden Zorn eines Börne nicht versteht. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, daß der Deutsche, welcher in der Schweiz leben will oder muß, am besten tut, sich schlechterdings nicht in die öffentlichen Angelegenheiten zu mischen, sondern einfach und streng seine Pflichten zu erfüllen und dabei von vornherein mit aller Entschiedenheit darauf zu halten, von den Schweizern, selbst von den höchstgestellten, auf dem Fuß sozialer Gleichheit behandelt zu werden. Allerdings hat es dieser oder jener meiner Landsleute durch ein entgegengesetztes Verfahren, durch einen ihn selbst und sein Vaterland entehrenden Servilismus dahin gebracht, für eine Weile die einflußreiche Kreatur von diesem oder jenem schweizerischen Matador zu werden; allein die ganze Herrlichkeit währte doch immer eben nur eine Weile, und im ganzen, muß man sagen, daß die Schweizer jedem unter ihnen lebenden Fremden, welcher mit Selbständigkeit des Charakters einigen Takt des Benehmens vereinigt, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie lieben ihn nicht gerade, wie sie die Fremden überhaupt nicht lieben, die durchreisenden ausgenommen, aber sie achten ihn, und mehr kann am Ende keiner verlangen.

Ich erfuhr auch Herrn Gottlieb Kippling gegenüber, daß ich recht getan, meiner Nationalität nichts zu vergeben. Nachdem ich die erwähnte, verständlich genug betonte Frage an ihn gerichtet hatte, wurde die Sprache des Millionärs merklich weniger scharf und kurz angebunden. Freilich bat er mich keineswegs um Entschuldigung, wie ein wahrhaft gebildeter und nobler Mensch getan haben würde; aber er hatte sicherlich bemerkt, daß ich im Notfall der Mann sei, einen Unverschämten in seinem eigenen Hause zu züchtigen. Möglich sogar, daß das Bestimmte in meiner Entgegnung einen günstigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Nur vollendete Jammerseelen wissen ein mannhaftes Auftreten nicht zu würdigen. Herr Kippling war in seiner Art ein Mann, ein ganzer Mann.

Er drehte sich völlig zu mir um, deutete auf einen Stuhl und sagte, nachdem er mich abermals fixiert hatte:

»Es ist eigen, daß mir vorkommt, Sie sähen jemand ähnlich, dem ich schon begegnet sein muß. Hm! Sie sind also in Deutschland geboren, mein Herr?«

»Ja, mein Herr.«

»Wo?«

»Im Dorfe Rothenfluh.«

»In Rothenfluh?« fragte der Millionär, wie mir schien, mit einiger Hast und erhob sich von seinem Rohrsessel.

Er ging mit auf den Rücken gelegten Armen einigemal im Zimmer hin und her, unter seiner Brille hervor forschende Seitenblicke auf mich richtend, und ohne in seinem Gange inne zu halten warf er die Frage hin:

»Ihr Name?«

»Michel Hellmuth.«

Herr Kippling trat an sein Bureau, kramte in den dort liegenden Papieren, und nach einer Weile fragte er, den Rücken gegen mich gewendet und wie völlig zerstreut:

»So, so, mein Herr, Sie heißen Hellmuth? Ein recht wohlklingender Name ... Sie wurden zum Kaufmann gebildet?«

»Nein, Herr Oberst, ich habe studiert.«

»Was?«

»Theologie und Jurisprudenz.«

»Aber wie kommen Sie denn dazu, um eine kaufmännische Stellung sich zu bewerben?«

»Ich wollte weder Pfarrer, noch Staatsbeamter, noch Advokat werden.«

»Hm, Sie scheinen sehr wählerisch zu sein, junger Mann. Und doch,« fügte er hinzu, sich wieder zu mir kehrend und mich mit einem schnellen Blicke vom Scheitel bis zur Sohle musternd, »und doch sehen Sie nicht wie ein Taugenichts und Bruder Liederlich aus.«

»Herr Oberst, ich glaube auch versichern zu dürfen, daß ich weder das eine noch das andere bin. Zu meinem Entschluß, die kaufmännische Laufbahn zu versuchen, hat mein Wunsch, fremde Länder zu sehen, wohl das meiste beigetragen. Dann gab der Tod meines Vaters den Ausschlag.«

»Wer war Ihr Vater?« fragte der Millionär, wieder eifrig in seinen Papieren herumstöbernd.

»Der Konsulent Hellmuth, Verwalter der freiherrlichen Herrschaft Rothenfluh.«

»Wann starb er?«

»Im letzten Winter.«

»Er hinterließ Vermögen?«

»Nur ein sehr mäßiges.«

»Sie sind also doch nicht ganz mittellos?«

»Doch, mein Herr. Die Hinterlassenschaft meiner geliebten Eltern gehörte von Rechts wegen meiner Schwester. Ich hatte meinen Anteil, jedenfalls den größeren, zum voraus verbraucht, verstudiert, wenn Sie wollen.«

»Sie scheinen aufrichtig zu sein, junger Mann ... hm ... und ... nun, sehen Sie, ich war seinerzeit, als ich anfing, Geschäfte zu machen, ebenfalls ein armer Teufel, besaß sozusagen keinen Franken, keinen Rappen ... Tätigkeit, mein Herr, Tätigkeit, Kühnheit und praktisches Talent, das macht den Geschäftsmann ... So, so, Sie besitzen also nichts?«

»Nichts, ausgenommen Mut, guten Willen und, wenn ich es ohne Unbescheidenheit sagen darf, einige Kenntnisse.«

»Sind Sie in Sprachen bewandert? Versteht sich von selbst, ich meine nicht die alten Schulsprachen ... unpraktisches Zeug!«

»Ich möchte mich auch mit dem, was noch davon an mir hängen geblieben, nicht sehr brüsten, Herr Oberst; aber ich verstehe leidlich Französisch, perfekt Englisch und hinlänglich Italisch.«

»Sie sagen Italisch statt Italienisch. Warum?«

»Ich erspare dabei zwei Silben. Zeit ist Geld.«

Der Millionär, wieder zu mir gewendet, ließ sich herab, über den schlechten Witz zu lächeln. Dann fragte er weiter:

»Sie kommen direkt aus Ihrer Heimat?«

»Nein. Ich habe schon einige Zeit in einem hiesigen Geschäfte gearbeitet.«

»Bei wem?«

»Bei Ziegenmilch und Komp.«

»Bei dem Salben- und Latwergenkrämer?«

»Herr Oberst, ich habe alle Ursache, Herrn Ziegenmilch dankbar zu sein. Er gab mir Brot, als ich keins hatte. Aber ich vermag mich mit der von ihm kultivierten Geschäftsbranche nicht zu befreunden.«

»Hm, ich denke, ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber, mein Herr, Geschäft ist Geschäft und praktisch muß man sein. Herr Ziegenmilch ist ein praktischer Mann, ein sehr praktischer. Wird es weit bringen. Besitzt bereits bedeutenden Kredit auf hiesigem Platz.«

»Ich zweifle nicht daran, aber ...«

»Was bewog Sie denn, gerade der Firma Gottlieb Kippling Ihre Dienste anzubieten?«

»Der große Ruf dieser Firma und meine Hoffnung, hier bei befriedigenderer Arbeit auch besser vorwärtszukommen.«

»Sonst nichts?«

Ich wurde durch diese Frage in peinliche Verlegenheit gesetzt. Wie ein Blitz der Erinnerung überkam es mich, daß mein Vater am Grabe seiner Mutter einst zu mir gesagt: »Lüge nie!« Aber es gibt Lagen ... Ach, das Leben ist ein schlechter Moralprediger.

Zum Glück ließ mir Herr Kippling keine Zeit zu lügen, indem er mein Verstummen anders deutend, weiter fragte:

»Sie kannten den Namen meiner Firma schon früher?«

Sehr froh, der Antwort auf die vorhergehende häklige Frage enthoben zu sein, beachtete ich kaum den bohrenden Blick, von welchem die letztere begleitet war. Erst in späterer Zeit, wenn ich mich dieses ersten Zusammentreffens mit dem Millionär erinnerte, entsann ich mich auch lebhaft des eigentümlich lauernden Blickes, welchen er bei den angeführten Worten auf mich geheftet hatte.

»Nein, Herr Oberst,« gab ich zur Antwort. »Ich hörte von Ihrer Firma erst am hiesigen Orte.«

»Wirklich, nirgends sonst und nie früher?«

»Nie und nirgends,« sagte ich der Wahrheit gemäß mit Bestimmtheit.

Der Millionär setzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versank in ein nachdenkliches Schweigen, während dessen er nur von Zeit zu Zeit einen scharfen, aber nicht gerade unfreundlichen Blick auf mich herüberwarf.

Endlich erhob er sich wieder und trat auf mich zu, der ich ebenfalls aufgestanden war.

»Mein Herr,« bemerkte er, »ich sage Ihnen frank heraus, daß mir Ihr ganzes Auftreten nicht mißfallen hat. Es ist etwas an Ihnen, was Zutrauen erweckt. Aber Geschäft ist Geschäft, und in Geschäftssachen muß man praktisch zuwege gehen.« – Der Millionär, der Geschäftsbrahman Kippling gebrauchte also zum zweitenmal wörtlich einen Lieblingsausdruck des Nochnichtmillionärs, des Geschäftssudra Ziegenmilch. – »Ich sage nicht nein zu Ihrem Anerbieten, allein ich muß, bevor ich mich entscheide, natürlich erst die nötigen Erkundigungen über Sie einziehen und zugleich auch erfahren, ob Sie die fragliche wichtige, sehr wichtige Stelle in meinem Kontor auszufüllen vermögen. Sie werden damit einverstanden sein?«

»Gewiß, Herr Oberst.«

Der Millionär zog die Klingel und sagte dem eintretenden Diener:

»Ich lasse Herrn Bürger zu mir bitten.«

Der Name frappierte mich, aber mehr noch die bald erfolgende Erscheinung seines Trägers.

Es war mein Herr Sekundant von der Hirschgasse in Heidelberg und ich konnte bei seinem Eintritt eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken, welche Herrn Kippling nicht entging, die aber Herr Bürger nicht erwiderte oder gar nicht beachtete.

»Herr Hanns Bürger, erster Buchhalter und Prokuraträger der Firma,« sagte Herr Kippling, mir den Genannten vorstellend – »Herr Michel Hellmuth.«

Ich verbeugte mich, und Herr Bürger erwiderte meine Verbeugung ebenso gemessen. Dann sagte er zu seinem Chef:

»Hatte schon anderen Ortes die Ehre, die Bekanntschaft des Herrn Hellmuth zu machen.«

»Anderen Ortes?« fragte Herr Kippling mit einem Anflug von Mißtrauen in der Stimme. »Wo denn? wenn ich fragen darf.«

»Auf der Mensur.«

»Was?«

»Nun ja,« versetzte Herr Bürger, »auf der Mensur, das heißt, dieser Herr stand darauf und ich stand daneben, 's ist kla–ar.«

»Mir nicht eben sehr,« bemerkte Herr Kippling.

»'s war in Heidelberg – vorigen Spätsommer – auf der Hirschgasse – dumme Schnurre – Säbelpaukerei – sekundierte dem Herrn, welchem ein anderer hätte gegenüberstehen sollen, als ihm gegenüberstand. Kennt ihn auch, den nicht Gegenübergestandenhabenden, Herr Oberst. Werde Euch bei Gelegenheit mal die dumme Geschichte erzählen. Studentika – Allotria – Larifari – 's ist kla–ar.«

»Ich werde Euch gelegentlich daran erinnern, Herr Bürger,« sagte der Millionär. »Jetzt von Geschäften. Dieser Herr hier hat sich um die in unserem Kontor offene Stelle gemeldet.«

Herr Bürger zog bei dieser Ankündigung die Augenbrauen etwas in die Höhe und zitterte etwas Weniges mit den Flügeln seiner Adlerschnabelnase, sagte aber nichts. Herr Kippling fuhr fort:

»Es handelt sich darum, zu sehen, ob Herr Hellmuth die Qualifikation für die fragliche Stelle besitze. Ihr werdet ihm daher vier bezügliche schriftliche Aufgaben stellen, Herr Bürger, und er wird sie, wenn es ihm so beliebt, binnen drei Tagen beantworten, die eine in deutscher, die zweite in französischer, die dritte in englischer, die vierte in italienischer Sprache. Näheres brauche ich Euch darüber nicht zu sagen, Herr Bürger, und damit guten Morgen meine Herren.«

Er wandte sich zu seinem Schreibtisch zurück, und Herr Bürger bedeutete mir mit einer höflichen Gebärde, ihm zu folgen.

Er führte mich die Treppe hinab in sein Arbeitszimmer, welches am Ende der verschiedenen Abteilungen des Kontors lag und mit diesem durch eine Türe in Verbindung stand. Sie war gewöhnlich verschlossen, allein der erste Buchhalter und Prokuraträger der Firma war in den Stand gesetzt, mittels eines großen viereckigen Schiebers, der in die Türe eingesetzt war und nach Belieben geöffnet und geschlossen werden konnte, mit dem Bureaupersonal zu verkehren und dasselbe zu überwachen. Jetzt stand der Schieber offen, und ich sah da draußen an zwei Dutzend alte und junge Kommis an ihren Pulten und Tischen beschäftigt, die einen stehend, die anderen auf niederen Taburetten, die dritten auf hohen Schreibböcken hockend. Es ging still und gemessen zu. Nur dort, aus einer Art von vergitterter Loge, worin der Kassierer hauste, tönte das Geklirre der Metalle, welchen, mit dem armen Shelley zu sprechen:

Den Stempel seiner Selbstsucht schlau der Handel,
Das Siegel seiner allbejochenden
Macht aufgedrückt hat.

Herr Bürger schloß den Schieber, lud mich mit einer Handbewegung ein, auf einem kleinen, ledergepolsterten Sofa Platz zu nehmen, während er sich vor seinen Schreibtisch setzte, auf dessen Tafel und in dessen Fächern Papiere und sonstige Schreibmaterialien aller Sorten, nebst Briefen, Mappen, Kontorbüchern von allen Grüßen mit der pünktlichsten Sauberkeit geordnet waren, wandte sich dann auf seinem um eine Kurbel sich drehenden Sitz gegen mich um und sagte:

»Also aus einem paukenden Studenten ein Kaufmann geworden? Wahrscheinlich ohne Geld, nicht? Kenne das, stand auch mal in denselbigen, nicht gerade bequemen Schuhen. Närrische Komödie, das Leben! 's ist kla–ar.«

»Wie, auch Sie, Herr Bürger?«

»Ja, ich ... Aber, vor allem, wollt Ihr mir einen Gefallen tun?«

»Zwei für einen.«

»Nur einen. Kann das alberne ›Sie‹ und ›Ihnen‹ nicht leiden. Humbug! 's ist kla–ar. Rede alle Leute mit ›Ihr‹ an, weil sie ja doch so dumm sind, das ›Du‹ für 'ne Sottise zu halten. Keine Natur mehr in der Welt! 's ist kla–ar.«

Schon bei meinem ersten Zusammentreffen mit Herrn Hanns Bürger hatte ich bemerkt, daß derselbe zur Spezies der wunderlichen Heiligen gehörte. Seither war seine knappe Sprache noch barocker geworden, und da ich die ›Ihr‹-Schrulle damals in Heidelberg noch nicht an ihm wahrgenommen hatte, so durfte ich annehmen, daß dieselbe ein neueres Kind seiner Laune sei.

»Ich will Euch von Herzen gern ihrzen, Herr Bürger,« sagte ich. »Aber wollt Ihr mir einen Gegengefallen tun?«

»Welchen?«

»Nur eine Frage beantworten.«

»Fragt mich.«

»Ihr bemerktet vorhin gegen Herrn Kippling, daß derselbe den dummen Jungen kenne, der damals in Heidelberg so schmählich Reißaus nahm. Wer war der junge Mensch? Kennt Ihr ihn?«

»Kenne ihn – 's ist kla–ar,« versetzte Herr Bürger, lustig mit seinen runden grauen Augen zwinkernd. »Kannte ihn aber damals noch nicht. Kam gerade von jenseits des großen Baches. Hatte lange Jahre erst in Kalkutta, dann in Neuorleans den dortigen Sukkursalen der Firma vorgestanden.«

»Aber wer war denn der Junge?«

»Wer er war? Werdet es, rechne ich, wohl erfahren, Herr Hellmuth, falls Ihr das Glück habt, bei uns einzutreten. Und davon wollen wir jetzo reden, so's Euch beliebt.« Er redete aber nicht davon, sondern drehte seinen Stuhl dem Schreibtische zu, ergriff die Feder und begann eifrig zu schreiben.

Ich merkte, daß Herr Bürger behutsam behandelt sein wollte, und störte ihn weiter nicht.

Er war bald mit Schreiben zu Ende, stand auf, überblickte rasch das Geschriebene und reichte mir dann das Blatt mit einem kurzen: »Lest!«

Ich tat so.

»Versteht Ihr diese vier Fragen?« fragte er, als ich von dem Blatte aufsah.

»Offen gestanden, im Augenblicke nicht so ganz.«

»Schade! Aber Ihr habt Zeit darüber nachzudenken. Im übrigen befleißigt Euch bei der Beantwortung eines bündigen und klaren Stils. Bündigkeit und Klarheit verlangt die Praxis. Keine Phrasen, keine Schnörkel – versteht Ihr? – 's ist kla–ar. Binnen heute und drei Tagen werdet Ihr mir dieses kaufmännische Exerzitium zukommen lassen. Rat' Euch das. Müßt wissen, der Herr Oberst liebt und verlangt Pünktlichkeit. Ist praktisch das, und jetzt, so Ihr nichts dagegen habt, sag' ich Euch: Adieu, Herr Hellmuth. Will an mein Geschäft.«

Das hieß kurz abgefertigt und verdroß mich nicht wenig, denn ich hatte im stillen gehofft, Herr Bürger würde mir auch bei dem bevorstehenden Duell mit den verteufelten vier Fragen ein wenig sekundieren. Das war aber augenscheinlich eine ganz grundlose Hoffnung gewesen, und so ging ich denn weg, mit sehr herabgestimmter Erwartung, daß ich das »Glück« haben werde, bei Gottlieb Kippling »einzutreten«.

Trotzdem verwandte ich ein paar halbe oder ganze Nächte darauf, die mir gestellten Aufgaben nach bestem Willen zu lösen, und gab am dritten Tage meine Versuche in kaufmännischer Schriftstellerei unter der Adresse des Herrn Hanns Bürger auf die Stadtpost.

Ich hatte mit einer vielleicht nicht ganz geschäftsmäßigen Offenheit Herrn Ziegenmilch sogleich nach meiner Rückkehr von dem Gange nach Herrn Kipplings Kontor von der Absicht in Kenntnis gesetzt, welche mich dahin geführt, und er hatte zu meiner Eröffnung ein sehr langes und nicht eben freundliches Gesicht gemacht. Es hatte sich dann zwischen uns ein etwas belebtes Gespräch entsponnen, in dessen Verlauf Herr Ziegenmilch Saiten aufzog, die nicht sehr angenehm klangen. Ich handhabte aber die Stimmschraube mit Geduld und bewies ihm, daß ich nur seine eigenen Grundsätze und Lehren befolge, daß ich praktisch, »enorm praktisch« sei, wenn ich in einem mir mehr zusagenden Geschäftskreise meine »Fortune« zu »poussieren« suche. Herr Ziegenmilch war zu sehr Praktiker, um gegen diese »Logik der Tatsachen« in die Länge standzuhalten.

Er tat aber noch mehr. Er bewies mir schon am folgenden Tage, daß er sich mit bester Manier in die Umstände zu schicken wußte. Denn von der Börse heimgekehrt, sagte er mir:

»Sie sollen mir eines Tages doch noch die Anerkennung zollen, Herr Hellmuth, daß es kein Mensch, aber auch gar kein Mensch so gut, so enorm gut mit Ihnen meine wie ich. Sehen Sie, der Herr Oberst und Kantonsrat Gottlieb Kippling hat bei mir Ihrerwegen auf den Busch geklopft ... ein scharmanter, ein netter, was sag' ich? – ein großer, ein enorm großer Mann, der Herr Oberst, Kantonsrat und Chef, einziger Chef der enormen Firma Gottlieb Kippling. Ein kolossales Geschäft ... enorm, ganz enorm! ... Ich tat natürlich, als wüßte ich von der ganzen Geschichte keine Idee, denn, wie Sie wissen, praktisch muß man sein, und eine Hand wäscht die andere, das heißt, ich werde Sie nachher auch um eine kleine Gefälligkeit ersuchen. Nun was tat ich? Ja, was tat ich, da Sie, halsstarriger Mensch, nun doch einmal von der zukünftigen Firma Ziegenmilch und Hellmuth nichts wissen wollen? Ich handelte als Ihr Freund, als Ihr enormer Freund, verstehen Sie? indem ich Sie enorm lobte. Was sag' ich? Gepriesen hab' ich Sie nach allen Dimensionen ... und wie! Die Sache wird sich machen, bin überzeugt davon. O, Oskar Ziegenmilch und Komp. hat einen feinen Merker, einen enorm feinen Merker. Aber Geschäft ist Geschäft, praktisch muß man sein und ... wie du mir, so ich dir. Hoffe, lieber Herr Hellmuth, Sie werden dieses enorm guten Grundsatzes nach Kräften eingedenk sein, wenn ich nächstens mal einen Versuch mache, mit der Firma Gottlieb Kippling in Geschäftsverbindung zu treten. Sie glauben gar nicht, wie man sich gegenseitig poussieren kann; aber praktisch muß man sein. Und, ja, ich hoffe, Sie werden, auch wenn Sie bei mir austreten, mein Haus recht oft, recht enorm oft besuchen. Ich und mein Lis... will sagen meine Lelia, wir werden Sie stets mit offenen Armen empfangen, Sie sollen sich bei uns daheim fühlen, enorm daheim ... und ... ja, nicht wahr? Aus Freundschaft lassen Sie mir auch in Zukunft von Zeit zu Zeit, wann ich einen neuen Artikel in Umlauf sehe, eines von Ihren Annöncechen, so recht eines von Ihren enormen Annöncechen zukommen? Par amitié, wie gesagt; denn, sehen Sie, praktisch muß man sein, enorm praktisch!«

Der »feine Merker« meines Herrn Prinzipals rechtfertigte sich, denn am vierten Tage benachrichtigte mich ein lakonisches Billett des Herrn Hanns Bürger, daß mich Herr Gottlieb Kippling abends sechs Uhr auf seinem Arbeitszimmer erwarte.

»Viktoria!« sagte Herr Ziegenmilch. »Es geht gut, das heißt, es geht nach Ihrem Willen. Was habe ich gesagt? Habe ich eine feine Nase, oder habe ich keine? Jetzt aber seien Sie enorm klug und praktisch, Herr Hellmuth. Gottlieb Kippling will Sie haben. Das ist kla–ar, wie der, unter uns, unausstehliche Donnerhagelskaib,Dieses in der fraglichen schweizerischen Landschaft heimische Schimpf-, Fluch- und Drohwort wird mitunter auch im entgegengesetzten Sinne gebraucht. So hörte ich einmal eine Fabrikarbeiterin mit dem Ausdruck der höchsten Zärtlichkeit ihren Mann einen Donnerhagelskaib nennen. Das Wort Kaib hat übrigens ursprünglich die nicht sehr reinliche und wohlduftende Bedeutung von Aas. der Bürger, sagen würde. Lassen Sie sich nicht etwa mit einer Bagatelle abspeisen, sondern stellen Sie keck Ihre Forderungen: – praktisch muß man sein!«

Der Herr Oberst und Kantonsrat empfing mich mit der zurückhaltenden Würde eines Mannes, der Millionen kommandiert. Er hieß mich sitzen und leitete ein Gespräch ein, in dessen Verlauf er mit viel Diplomatie meinen ganzen bisherigen Lebenslauf erzählen ließ. Ich gab freilich nur Umrisse, doch wußte er es mittels geschickter Fragen zu machen, daß ich einige Partien, besonders die auf mein elterliches Haus bezüglichen, ins Detail ausmalte. Zuletzt sagte er:

»Herr Hellmuth, ich zweifelte, aufrichtig gestanden, sehr an Ihrer Qualifikation für die Stelle eines ersten Korrespondenten in meinem Hause. Allein Herr Bürger hat mir einen sehr günstigen Bericht über Ihre Befähigung abgestattet. Er meint zwar, mit Ihren französischen und italienischen Wendungen hapere es noch da und dort, Ihr Englisch gehe an, nur schrieben Sie es, was überhaupt der Fehler Ihres Stiles sei, zu blumenreich. Aber es werde sich mit der Zeit wohl machen. Wir« – große Handelsherren reden wie die Könige nur im Pluralis majestaticus von sich – »wir wollen es also mit Ihnen wagen und haben hier einen Kontrakt aufgesetzt, der Ihre Pflichten und Rechte darlegt. Er lautet einstweilen auf die Dauer eines Jahres. Sind wir nach Ablauf desselben miteinander zufrieden, so sollen Sie noch günstiger gestellt werden. Ich bin kein Knicker.«

Er reichte mir den auf einen gestempelten Bogen geschriebenen Kontrakt, und ein Blick auf denselben überzeugte mich, daß die mir bewilligten Bedingungen meine Hoffnungen weit, sehr weit übertrafen.

Der Millionär merkte mir meine freudige Überraschung leicht an und sagte:

»Sie sehen, ich durfte behaupten, daß ich kein Knicker sei, hoffe aber auch, daß Sie mir eifrig, treu und redlich dienen werden.«

»Ich werde es, soweit nur immer meine Kräfte reichen,« entgegnete ich mit Wärme.

»Gut, ich glaube Ihnen, um so mehr, da Sie durch Förderung meiner Interessen Ihre eigenen fördern. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen. Halten Sie sich in allem und jedem an Herrn Bürger, der Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist und unter einer oft rauhen, noch öfter wunderlichen Außenseite große Tüchtigkeit, Geradheit und Güte verbirgt.«

Es lag selbst so etwas wie Güte in diesen Worten des Millionärs, zu welchem ich mich hätte hingezogen fühlen können, wäre nur sein wenig Zutrauen einflößender Blick nicht gewesen.

»Sie werden,« fuhr er fort, »in dem Kontrakt eine Bestimmung bemerkt haben, welcher zufolge Sie mittags an meinem Tische essen und in meinem Hause wohnen müssen. Ich habe es nämlich stets so gehalten, das heißt mit dem ersten Buchhalter, dem ersten Korrespondenten und dem Kassierer, damit ich dieselben immer bei der Hand habe, falls dies auch außer den Kontorstunden nötig wird, was bei einem großen Geschäftsbetrieb nicht selten vorkommt.«

Ich verbeugte mich schweigend, und Herr Kippling setzte noch hinzu:

»Sie übernehmen damit freilich die Verpflichtung, die Hausordnung einzuhalten, aber dieselbe ist keine pedantische. Sie werden eine Stube in der oberen Etage des großen Gartenpavillons erhalten, wo auch Herr Bürger und Herr Egli, der Kassierer, ihre Zimmer haben. Es ist mir lieb, wenn Sie am nächsten Samstag eintreten. Am Montag wird Sie dann Herr Bürger Ihren Kollegen vorstellen und in Ihre Verrichtungen einleiten. Er ist in jeder Beziehung meine rechte Hand, um so mehr, da die Geschäfte mich zu häufiger Abwesenheit von Haus und Stadt nötigen. Es ist notwendig, daß Sie alsbald nach Ihrem Eintritt auch die großen Etablissements kennen lernen, die wir unweit von hier, droben im Bihltal, besitzen. Herr Bürger wird Sie hinführen. Dann wäre alles vorderhand Nötige gesagt, und es steht jetzt bei Ihnen, den Kontrakt zu unterzeichnen oder nicht.«

Natürlich bedachte ich mich in betreff der Unterzeichnung nicht lange, und so war mein Schicksal für die nächste Zeit festgestellt.

Mein Abzug aus dem Hause Ziegenmilch geschah in aller Freundschaft. Frau Lelia veranstaltete am Tage zuvor mir zu Ehren ein solennes »Suppäh«, wie sie sich ausdrückte, und entfaltete dabei nicht nur alle Schätze von Küche und Keller, sondern auch die ihrer »immens gefühlvollen« Seele. Fand ich doch unter meiner Serviette ein Stammbuchblatt, welches einen kühnen Versuch meiner bisherigen Prinzipalin in der edlen Reimkunst enthielt. Leider habe ich es seither verloren, weiß aber noch ganz gut, daß darin »des Neids Gestichel« und der »Verleumdung Sichel« sehr genial auf »Michel« reimten. Auch die Herren Rumpel und Puff waren da und hielten um die Gunst der schönen und gefühlvollen Wirtin ein glänzendes Wort- und Witzturnier. Herr Ziegenmilch aber nahm gegen Ende des »Suppäh« seine Napoleonsstellung an und brachte einen wundervollen Toast auf die Freundschaft der praktischen Leute aus, welchen der Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« »pyramidalisch« schön fand, worauf mich Herr Ziegenmilch gerührt umarmte und mir dabei eine Erinnerung an die »enorme« Annoncenangelegenheit ins Ohr flüsterte.

Am folgenden Abend saß ich in meinem Zimmer im Gartenpavillon des Herrn Gottlieb Kippling und meldete dem Fabian in einem langen Briefe meine bisherigen Abenteuer in der Fremde. Ich erinnere mich, daß ich, halb im Scherze, halb im Ernste, diese Epistel mit einem Zitat aus einem englischen Gedichte schloß, dessen Verfasser, zugleich Poet und Kaufmann, in einer der meinigen einigermaßen ähnlichen Situation von sich gesagt hatte, er sei jetzt –

Des Nutzens grobem Dienst verkauft, wo wüst
Das Feld des Denkens liegt und nichts gedeiht
Als Gold ...


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