Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel.

Autor verirrt sich, gerät in ein verwunschenes Schloß, speist unter Blitz und Donner und erlebt ein lieblichstes Wunder.

Die Gletscherkaskade hatte ich nicht gefunden, denn in diesen verworren durcheinander geschobenen Höhenzügen und Talrinnen findet sich kein Fremder ohne Führer zurecht. Ich wollte aber keinen Führer, weil es mir gar so schön vorkam, bei dem klaren Wetter ganz allein in diesen Einsamkeiten umherzuschweifen. In der Sennhütte, wo ich Mittagsrast hielt, erfuhr ich, daß ich bis zum nächsten Ort noch mehrere Stunden weit zu gehen habe. Der Geißbub, welcher mich mit Milch und steinhartem Schabzieger bewirtete, deutete an, ich würde wohltun, ihn als Wegweiser mitzunehmen, und nach einigen Stunden mußte ich mir gestehen, daß ich klug getan hätte, dieses Anerbieten anzunehmen. In dem Maße nämlich, in welchem die Schatten der Berge gigantischer und meine Beine müder wurden, drang sich mir auch die Überzeugung auf, daß ich ganz von der Richtung, die ich hatte verfolgen sollen und wollen, abgekommen sei und mich alles Ernstes verirrt habe. Anfangs nahm ich das leicht, wie alles hier oben. Als aber die Sonne zur Rüste ging und noch dazu über ihre sinkende Scheibe eine graudunkle Gewitterwolkenwand sich herzog, gewann die Sache allmählich ein mißlicheres Aussehen. Die Öde, in der ich mich befand, so erhaben sie war, konnte in einer Gewitternacht doch nur ein höchst unangenehmer Aufenthaltsort sein. Von einem sicheren Zufluchtsort aus einem Gewitter in den Hochalpen zusehen, ja freilich, das ist ganz prächtig; aber schutz- und schirmlos der Wut desselben ausgesetzt zu sein, das ist 'ne andere Tonart. Ich hatte schon in früherer Zeit, während meiner studentischen Schweizerreise, die Probe gemacht, und es gelüstete mich nach keiner zweiten. Außerdem hatte ich Hunger, ganz gemeinen, erzprosaischen Hunger, und so sah ich mich, von meiner letzttägigen Naturschwärmerei für den Augenblick sehr ernüchtert, mit nicht geringer Sehnsucht nach der Möglichkeit eines Nachtquartiers um.

Da merkt' ich nun erst recht die Einsamkeit um mich her. Weit und breit, wie es schien, keine Spur von Menschendasein, keine Sennhütte, keine Herdeglocke, nichts als Schweigen des Urgebirges, eine Stille, in welcher einem in solcher Lage das Rauschen der Bergwasser wie ein Hohnlachen über die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit der Menschen klingen kann.

Ich stand bei einer Gruppe verwitterter Arven still, mich zu orientieren. Aber in dem engen Felsenkessel, in welchen ich hineingeraten, war das eine Unmöglichkeit. Eine jähansteigende mit erratischen Steinblöcken besäete Geröllwand lag hart vor mir, wahrscheinlich die Moräne eines urweltlichen Gletschers. Den Kopf in den Nacken zurückbeugend sah ich über den Rand der Moräne schneebekrönte Kuppen herüberlugen. Ich kletterte die Wand hinan, und vor dem droben Angelangten sprang ein prachtvolles Bild auf.

Der Bernina lag in fast blendender Beleuchtung in seiner ganzen Majestät und Herrlichkeit vor mir. Die Sonne schoß zwischen den geballten Gewitterwolken hervor ihre Strahlen auf die unzähligen Hörner und Zacken des mächtigen Gebirgsstocks, dessen Firnschnee wie geschmolzenes Silber blitzte, dessen Gletschergehänge blaugrünlich schimmerten.

In diese ungeheure Felsen-, Schnee- und Eismasse war ein grünes Tal tief eingeschnitten, auf dessen Sohle ein Bergstrom über Steintrümmer rauschend dahinschoß. Dieses schmale Hochtal teilte sich gabelartig. Der rechte Zinken lief langgestreckt in malerischen Windungen zwischen bizarren Felsengestaltungen hin, und im Hintergrunde lugte eine Kirchturmspitze hervor, Zeuge der Besiedelung des Tales. Der linke Zinken der grünen Gabel war viel kürzer und bohrte sich schroff aufwärts, bis eine schwindelnd hohe, jetzt in der Sonne rotglühende Balsaltwand seinem Vordringen ein Ziel setzte. Zu beiden Seiten dieser Wand kam ein Eisstrom talwärts, und diese Gletscherbänder spannten sich bis nahe zu dem breiten Bach auf der Talsohle herab. Jenseits desselben, in dem etwa eine Achtelmeile breiten Zwischenraum zwischen den beiden Gletscheradern, stieg ein sanft gewölbter Hügel auf, und von der Spitze desselben blickte ein schloßartiges Gebäude mit altertümlichen Türmen und Zinnen herab.

Die Alpentäler Graubündens sind viel reicher an Burgruinen als die übrigen Landschaften der Schweiz. Dort, auf der Grenzscheide zwischen der germanischen und der romanischen Rasse, hat sich mittelalterliches Dynastenwesen, wenn nicht rechtlich, so doch faktisch weit länger gehalten als anderswo in der Schweiz, und es ist noch heute gar nicht selten, daselbst alte Geschlechter in alten, mit mehr oder weniger Sorgfalt unterhaltenen Felsennestern hausen zu finden. Auch die Burg da drüben schien keine Ruine zu sein. Wenigstens deuteten die in der Sonne glitzernden Fenster auf eine wohnliche Stätte.

Das war mir lieb, denn das Gewitter schob sich immer drohender am westlichen Himmel herauf, bald verschwand die Sonne hinter den Wolkenmassen, und eine unheimlich fahle Beleuchtung begann sich über die ganze Szene zu legen.

Ich eilte talwärts und stieß dort auf einen Saumpfad, der mich zu einem über den Waldbach gelegten Steg führte. Diesseits des Steges teilte sich der Weg. Seine am linken Ufer des Wassers talaufwärts laufende Linie führte vermutlich in das Dorf oder Dörfchen, dessen Kirchturmspitze ich von der Moräne herab erblickt hatte. Aber bis dahin mußte es noch eine Wegstunde weit sein, und schon begann es zu dunkeln, und das Gewitter rückte mit dumpfem Gedonner näher. Rasch entschlossen, ging ich über den Steg und eilte den schmalen Pfad hinan, welcher sich in halben Spiralen den Hügel hinaufwand. Bewohnt oder unbewohnt, das Schloß da droben konnte mir doch Dach und Fach gewähren. Vielleicht kitzelte mich auch ein Nachgefühl jugendlicher Romantik, daß ich in dem alten Ding eine Zuflucht zu suchen ging. Ich hatte aber länger zu steigen, als ich vermutete, und schon leuchteten Blitze und fielen schwere Tropfen, als ich den Scheitel der Anhöhe erreichte, welche anderwärts unbedenklich ein Berg genannt werden könnte.

Jetzt stand das Schloß hart vor mir, und ich schritt rasch auf eine Art krenelierter Mauer zu, hinter welcher der Torbogen dunkelte, zog aber mit Schrecken meinen Fuß zurück, denn ich stand hart an dem Rand einer mächtigen Tiefe. Zwischen mir und der Burg klaffte ein Abgrund, und in dem zuckenden Licht der Blitze sah ich jetzt erst, daß das Schloß nicht auf dem Hügel selbst, sondern vielmehr auf einer hinter demselben aus schwindelnder Tiefe aufsteigenden Felsenklippe lag. Mich mit beiden Händen an der Mauer festhaltend, beugte ich mich vorsichtig vor, und es war weniger romantisch als unheimlich, wenn ich auf Augenblicke im Lichte der Blitze das grüne Gletschereis aus der schwarzen Kluft heraufblinken sah. Auch einen anderen nicht sehr tröstlichen Gegenstand verriet mir das zuckende Licht, nämlich drüben am Burgtor eine aufgezogene Zugbrücke.

Aber das verwunschene Schloß mußte doch bewohnt sein, denn mehrere Fenster waren beleuchtet. Ich schrie mit voller Kraft der Lunge nach Einlaß, aber der inzwischen mit ganzer Macht losgebrochene Gewittersturm ließ meine Stimme nicht aufkommen. Da, beim Herumtasten an der Mauer, kam mir etwas wie ein Glockengriff in die Hand. Ich riß daran und horch, drüben gellte richtig eine Glocke. Ich machte sie abermals und abermals gellen, denn zu Höflichkeit und Bescheidenheit war da keine Zeit. Meine Zudringlichkeit hatte auch den besten Erfolg, denn drüben unter dem Torbogen erschien Licht, und nach einigen Minuten legte sich die Zugbrücke knarrend und rasselnd über den Abgrund. Ich schritt ohne Verzug über die Bohlen und fand mich drüben vor einem verschlossenen Tor mit einem schmalen, ebenfalls verschlossenen Einlaßpförtchen in der Mitte. Aus einer Mauerluke daneben streckte eine alte runzelige Hand eine Laterne, und hinter derselben ward ein sehr altes Gesicht sichtbar.

»Wer seid Ihr?« fragte der Alte.

»Ein verirrter Reisender, der um ein Obdach für die Nacht bittet.«

»Wartet!«

Gesicht, Hand und Laterne verschwanden, die Zugbrücke ging hinter mir in die Höhe, und ich befand mich sozusagen zwischen Tür und Angel, das heißt zwischen dem versperrten Tor und der wieder aufgezogenen Zugbrücke. Das währte eine geraume Weile und war unbehaglich genug.

Endlich vernahm ich schlürfende Tritte, das Einlaßpförtchen tat sich auf, und im Licht der Laterne, welche er trug, stand der Alte vor mir, eine untersetzte Gestalt in altfränkisch geschnittener, verschossener Livree von dunkler Farbe. Er sagte nur: »Kommt!«, und da ich ihm folgte, führte er mich durch einen gewölbten Torweg und über einen kleinen Hofraum auf einen runden Turm zu, welcher die linke Flanke des Herrenhauses der alten, aber, soviel ich bemerken konnte, in leidlich gutem Zustande erhaltenen Burg flankierte. Als er mir innerhalb des Turmes eine breite steinerne Wendeltreppe hinaufgeleuchtet hatte, trat mir auf dem Vorplatz des ersten Stockwerkes eine höchst abenteuerliche Figur entgegen, ein kleines dürres Männchen mit mumienhaft vertrockneten Gesichtszügen, die nur noch durch ein Paar kleine, kluge Augen belebt waren. Dieses Männchen trug Schnallenschuhe, weiße Strümpfe, gute Beinkleider von pfirsichblütfarbenem Plüsch, eine schwefelgelbe Pattenweste, die mit ihren Schößen bis zur Hälfte der Schenkel hinabreichte, darüber einen zeisiggrünen Rock oder Frack, ferner eine weiße Halsbinde mit langen bordierten Zipfeln, im Nacken einen langen dünnen Zopf und im übrigen eine vollständig regelrechte Frisur à quatre épingles – alles nach der neuesten Mode von 1780 oder 1790, selbst die Form des Handleuchters mit zwei brennenden Wachslichtern nicht ausgenommen, bei deren Schein das alte Geschöpf mit sauersüßer Miene meine Gesichtszüge prüfte.

Als ich dieses Petrefakt einer Zeit, die uns noch so nahe und doch schon wie antediluvianisch weit hinter uns liegt, verwundert anguckte und bei mir dachte, ich sei da richtig in ein verwunschenes Schloß geraten, sagte es – nämlich das Petrefakt, nicht das Schloß – mit einem wie in der Stimmritze eingerosteten Organ:

»Monsieur wünscht ein Nachtquartier?«

»Ja, mein Herr. Ich habe mich in den Bergen verirrt und bin von dem Gewitter überrascht worden. Wenn ich die Ehre habe, den Besitzer dieser alten Burg vor mir zu sehen –«

»Pardon,« unterbrach mich der im Zeisigrock mit einem halben Lächeln und einer ganzen Verbeugung voll Anstand und Höflichkeit, »Pardon, Monsieur irrt sich. Ich habe die Ehre der Hausmeister dieses Schlosses zu sein. Aber Monsieur ist gewiß müde?«

»Sehr.«

»Und hungrig und durstig?«

»Noch mehr.«

»Will Monsieur – aber darf ich vielleicht um den Namen von Monsieur bitten?«

»Freilich. Ich heiße Hellmuth, Michel Hellmuth.«

Der Alte, welcher mir den Rücken gewandt hatte, um mir weiter die Treppe hinan zu leuchten, kehrte sich rasch um und sah mich eine Sekunde lang forschend an. Dann, die Stufen weiter hinaufsteigend, sagte er:

»Hellmuth, Michel Hellmuth – soso! Woher? wenn Monsieur einem alten Manne die Frage nicht übel nimmt.«

»Behüte! Ich bin aus Rothenfluh in Deutschland.«

»Soso!« machte der Alte wieder und hüstelte etwas Weniges dazu.

Wir waren inzwischen ins zweite Stockwerk gelangt, und mein Führer bog in einen langen und dunkeln Korridor ein, an dessen Wölbung meine Schritte auf dem Fußboden widerhallten. So ging es noch über mehrere Gänge, zur Abwechselung auch treppauf und treppab, ohne daß uns in dem unheimlich öden Hause irgend jemand begegnet wäre.

»Man scheint hier zeitig zur Ruhe zu gehen?« fragte ich den Alten.

»Das ist in unseren Bergen überhaupt so. Die Herrschaften haben sich schon vor einer halben Stunde in ihre Zimmer zurückgezogen.«

Die Herrschaften? Das klang ja ganz vornehm und bewies jedenfalls, daß das verwunschene Schloß in der Tat noch andere Bewohner habe als das Petrefakt von Hausmeister und den dito versteinerten Pförtner.

Der Alte öffnete endlich mit einem Schlüsselbund, welches er mit sich führte, eine Türe, lud mich mit einer Verbeugung zum Eintritt ein und zündete zwei auf dem Tische in der Mitte des Gemaches stehende Kerzen an. Dann sagte er: »Werde sogleich das Abendbrot für Monsieur Hellmuth besorgen« und ließ mich allein.

Ich befand mich in einem großen hohen Zimmer mit Alkoven, worin unter einer Art altfränkischen Thronhimmels ein breites Bett stand. Alles gemahnte hier an eine verschollene Zeit, die verblaßten Möbel à la Pompadour, die verblichene Vergoldung der Deckenstukkaturen und Tapetenleisten, die eingedunkelten Tableau an den Wänden, Landschaften und Schäferszenen à la Watteau und Boucher darstellend.

Während ich diese Herrlichkeiten betrachtete, kam das Petrefakt zurück und mit ihm eine alte, wie ein Mütterlein aus dem vorigen Jahrhundert gekleidete Dienerin. In diesem verwunschenen Schlosse schien alles alt und altfränkisch zu sein. Ich hätte mir leicht einbilden können, ein Stück achtzehntes Jahrhundert sei von einer Woge der Sündflut, genannt Revolution, in diesen weltverlorenen Winkel der Erde geschwemmt worden, um auf der Felsenklippe in einem der zahlreichen Berninatäler sitzen zu bleiben und zu versteinern.

Die Alte trug ein Speisebrett, dessen Fracht der Alte auf dem Tische ordnete, während sie im Alkoven sich mit dem Bette zu schaffen machte. Als beide mit ihrem Geschäft zu Ende waren, sagte der Pfirsichblütfarbene und Zeisiggrüne:

»Hat Monsieur Hellmuth sonst noch etwas zu befehlen?«

»Ich habe hier überhaupt nichts zu befehlen, aber auch weiter nichts zu wünschen und zu erbitten.«

»So wünsche ich Monsieur wohl zu speisen und gut zu schlafen,« sagte der höfliche Majordomus mit einer so weitschichtig tiefen Verbeugung, daß ihm der lange Zopf bolzgerade im Nacken stand. Das Mütterchen akkompagnierte diese Verbeugung von weiland mit einem fabelhaften Knix.

Als sie fort waren, tat ich, als ob ich zu Hause wäre, machte mich über die einfachen, aber schmackhaft zubereiteten Alpenspeisen und den vortrefflichen dunkelroten Veltlinerwein her, kümmerte mich verteufelt wenig um den Gewittersturm, welcher die klafterdicken Mauern des verwunschenen Schlosses umheulte, und ließ mir die rollenden, an den Bergwänden zehnfach widerhallenden Donner als Tafelmusik gefallen.

Sie verhallten zuletzt, und zugleich mußte auch mein Appetit sich gestehen, daß ihm genug getan worden sei. Ich schlürfte noch ein Glas Veltliner und bemerkte dann, daß es in dem Zimmer schwül, dunstig und muffig sei. Es mochte lange nicht gelüftet worden sein. Ich stand daher auf, um eins der drei in einer Reihe hinlaufenden Fenster zu öffnen, bemerkte aber, daß dasselbe eigentlich eine Türe sei. Nach etwelchem Rütteln und Zerren an der eingerosteten Klinke gelang es mir, den einen Flügel aufzubringen, und die herbe Kühle, welche im Hochgebirge einem Gewitter folgt, schlug mir von draußen entgegen. Da sie mir nicht abschreckend, sondern wohltuend vorkam, trat ich hinaus und gelangte, ein Paar steinerne Stufen hinabsteigend, auf eine Art Balkon, der mit einer Brustwehr von starkem Gebälke eingefaßt war. Das war zweckdienlich, denn der Balkon hing über der jähen Tiefe, welche rings um die Schloßklippe gähnte.

Das Gewitter war, wie gesagt, vorüber, und in der von Wolken reingefegten Himmelskuppel brannten still die Sterne. Die Sichel des wachsenden Mondes stand hoch am Firmament und ließ nur ein blaßbläuliches Dämmerlicht auf die Kuppen der Schneekolosse ringsum niederrieseln. Wie heimliches Geplauder der Berggeister klangen und rauschten die stürzenden Bergwasser durch das heilige Schweigen der Nacht.

Plötzlich meinte ich zu hören, daß mit diesen Naturlauten da draußen ein Klang wie Harfentun sich mischte, der aus dem Innern des Schlosses zu kommen schien. Ich ging auf dem Balkon, der an dieser ganzen Seite des Gebäudes hinlief, dem leisen Klange nach und sah mich bald vor einer tiefen Mauernische, in die ein Fenster eingelassen war. Dasselbe war aber von innen so dicht verhangen, daß der Schimmer des dahinter brennenden Lichtes kaum durch die dunkle Gardine drang. Da war also weiter nichts zu sehen, aber weil in einem verwunschenen Schlosse auch ein anständiger Mensch neugierig sein darf, so stieg ich sachte eine schmale, dem Fenster zur Seite in die dicke Mauer eingeschnittene Treppe hinauf und sah mich droben auf einer kleinen Plattform oder Zinne, um die ein steinernes Geländer herlief. Hier vernahm ich den Harfenton deutlicher als drunten und erkannte bald die Ursache. Aus einer runden Öffnung in der Mitte des Steinbodens der Zinne drang zugleich mit einem starken Lichtschimmer der süße Saitenklang. Ich beugte mich nieder und sah vor mir ein starkes Eisengitter, welches über der runden Öffnung lag. Hinter den Eisenstäben war eine Glasscheibe angebracht, welche aber die Unbill der Witterung springen gemacht hatte. So konnte ich durch einen Spalt der Scheibe in die kleine Rotunde hinuntersehen, auf deren Wölbung ich stand.

Da erblickte ich ein lieblichstes Wunder!

Ich mußte mich rasch aufrichten, um den Freudenschrei, der mir aus dem Herzen sprang, mit den Lippen gewaltsam zurückzupressen.

Dann kniete ich nieder und legte Auge und Ohr, legte die Seele an das Eisengitter.

Auf einem altmodischen Stuhl mit hoher Lehne, an dem Tisch, auf welchem die Lampe stand, die das Gemach erhellte, saß Isolde von Rothenfluh, mit der Hand träumerisch über die Saiten einer Harfe von altfränkischer Form fahrend, welche sie zwischen den Knien hielt.

Es war kein Traum, nein, reizendste Wirklichkeit. Mit einem Schlage wurde mir alles klar: ich befand mich in dem Schlosse von Bertholds und Isoldes wunderlichem Großoheim. Die Lampe warf ihr volles Licht auf die teure Gestalt, auf dieses Antlitz, das so edel und schön war wie das der Raffaelschen Madonna della Sedia.

Sie trug ein weißes Nachtgewand, das die jungfräuliche Schönheit ihrer Glieder streng verhüllte. Nur oben am Halse stand es offen, und ich bemerkte mit wehmütiger Freude die Perlenschnur, an welcher seit Jahren Isolde das kleine Silberkreuz trug, das sie von meiner Mutter zum Andenken erhalten hatte, als sie der Pflege unter dem Dache meines Vaterhauses entwachsen war. Dieser bescheidene Schmuck schimmerte im Lampenlicht auf den Brustfalten des Kleides und weckte tausend zärtliche Erinnerungen in mir.

Isolde beugte das schöne Haupt auf das Instrument nieder und schlug schwermütige Mollakkorde an. Dann erklang leise ihre seelenvolle Altstimme. Ich habe die Worte ihres Liedes treu im Gedächtnisse bewahrt, obwohl mich Isolde den Dichter desselben erst lange nachher kennen und lieben lehrte. Sie sang:

»Immer leiser wird mein Schlummer,
Nur wie Schleier wird mein Kummer
Zitternd über mir.
Oft im Traume hör' ich dich
Rufen drauß' vor meiner Tür',
Niemand wacht und öffnet dir –
Ich erwach' und weine bitterlich.

Ja, ich werde sterben müssen,
Eine andre wirst du küssen.«

Hier erlosch die Stiinme, und nur noch ein bebender Harfenton zitterte durch das Gemach. Ein wilder Schmerz faßte mich an. Ich hätte laut aufschreien mögen vor bitterer Reue.

Isolde hatte sich erhoben und das Instrument weggelehnt. Sie stand eine Weile wie in trübem Sinnen. Die Arme hingen ihr schlaff an den Hüften nieder und ich glaubte Tränen an ihren Wimpern funkeln zu sehen.

Dann kniete sie an dem Stuhle nieder und neigte die Stirne auf die gefalteten Hände. Die reine Seele hatte noch nicht verlernt zu beten. Dieses starke und doch so demütige Herz war zu lauter, um sich über die Hilfebedürftigkeit des Weibes eine Selbsttäuschung vorzumachen.

Wenn ich mich jetzt jener Szene erinnere, glaube ich recht zu tun, wenn ich, den Fortgang derselben zu schildern, die zarten Verse entlehne, womit der arme Keats in seinem »St. Agnesabend« eine ähnliche beschrieben:

Voll auf die Stelle schien der Lampe Licht
Und warf auf Madelinens schöne Brust
Ein warmes Rot, wie sie voll Andacht kniete;
Wie Amethyst erglänzt' ihr Silberkreuz,
In ros'gem Licht die Hände, fromm gefaltet,
Und goldner Heiligenschein umfloß ihr Haar.
Sie schien – es fehlten Flügel nur – ein Engel,
Gekleidet in des Himmels lichte Tracht.
Und jetzt lebt auf ihr Herz: gesprochen hat
Sie ihr Gebet; von Band und Nadeln
Befreit sie ihre Locken, löst allmählich
Den warmgewordnen Schmuck von Arm und Hals,
Schnürt auf ihr duftig Mieder; langsam rauscht
Die weiße Kleidung nieder zu den Knien
Und halb umhüllt noch, wie im Tang die Meermaid,
Steht sie in waches Träumen still versenkt.

Sie nahm die Lampe und stellte sie auf den Nachttisch neben dem Bette. Dann zog sie die Gardine auf und schlug die Decke zurück.

Sie tat das alles mit einer keuschen Grazie, welche das jungfräuliche Schlafgemach zu einem Heiligtum umwandelte. Ich wandte den Kopf, als sie sich in ihre Pfühle senkte, um durch keinen vermessenen Blick an dieser edlen Züchtigkeit zu freveln. Dann, bevor sie die Lampe löschte, sah ich noch einmal hin und erblickte sie, sittsam eingehüllt, für einen flüchtigen Moment auf ihrem Lager wie

»In Hafens Ruh', bewahrt vor Freud' und Schmerz,
Verschlossen wie ein Meßbuch unter Heiden,
Geschirmt vor Sonnenstrahl und Regenguß,
Als schlöss die Rose sich und würde Knospe wieder.«


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